Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
„Denn du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter“ (Psalm 139, 13)

Sprachheimat – Psalmengebet

Gedanken und schriftgraphische Beispiele zu den Psalmen 137 und 139

Die biblische Tradition verfügt über einen besonderen Sprachschatz:
Alttestamentliche Psalme vermitteln dem Beter oder
Skriptor eine Sprachkompetenz jenseits weltangeglichener Rede.

Psalmen bestimmen seit Jahrhunderten als Gebetsverse
oder Schreibvorlagen den Klosteralltag. Dass
der Prozess des Schreibens eine anstrengende Ganzkörper-
Tätigkeit ist, lässt Umberto Eco den Erzähler
seines Klosterkrimis „Der Namen der Rose“ schildern:
Ich hatte damals erst wenige Jahre meines Lebens in
einem Skriptorium verbracht, aber viele sollte ich später
darin verbringen, und daher weiß ich sehr wohl
um die Leiden eines Kopisten, Rubrikators oder Forschers,
der lange Winterstunden an seinem Tisch sitzen
muss mit klammen Fingern, denen die Feder entgleitet
(Wenn schon bei normaler Temperatur nach
sechs Stunden Arbeit der schreckliche Schreibkrampf
droht und einen der Daumen schmerzt, als hätte man
sich mit dem Hammer darauf gehauen!) Das erklärt
auch, weshalb wir so oft an den Rändern der Handschriften
kurze Bemerkungen finden, die der Schreiber
als Zeugnis seines Duldens (oder seiner Ungeduld) hinterlassen
hat. Bemerkungen wie etwa „Gott sei Dank,
bald wird es dunkel!“ oder „Ach, hätte ich nur ein schönes
Glas Wein!“ oder auch „Kalt ist es heute, das Licht
ist schlecht, dieses Vellum ist filzig: irgendwie geht es
nicht!“ Mit Recht sagt ein altes Sprichwort: Drei Finger
halten die Feder, aber der ganze Körper schafft mit.
Und leidet. (Der Name der Rose, München 1980, 164)

In der Psalmdichtung geht es immer um das große
Ganze: der Mensch betet im Bewusstsein seiner Einheit
von Körper und Geist. Der Einzelne spricht einen
Psalm in dem Wissen, mit dem gesamten Volk Israel
zu beten, gedanklich vereint mit den Generationen vor
und auch nach ihm. Diese Verflochtenheit von Einzelkörper
mit dem Korpus des Volkes findet sich in verdichteter
Sprache in den Psalmen 137 und 139. Der
erstgenannte thematisiert Erfahrungen des Volkes in
der Deportation und letzterer ist das Gebet eines Verfolgten,
der als Opfer eines illoyalen Rechtsstreites um
Tempelasyl bittet. Sowohl der Psalm des Volkes Ps 137
als auch der des Einzelnen Ps 139 sparen nicht mit
Anspielungen auf das Körperempfinden als Ausdruck
nationaler sowie individueller Seelenverfassung. Beide
Psalmen formulieren mit Metaphern des Körpers, wie
das Sprechen zu Gott Physis und Psyche beeinflussen.
In das Exil gerät, wer aus dem Wort Gottes herausfällt
in die Sprache der Welt, die Vokabeln von Machtanmaßung
und Zweckorientierung.

Psalm 137

Kontext des Psalms 137 ist die Schilderung von Israels
Existenz in der Fremde: Gemeint ist nicht allein
das Lebenmüssen in einem fremdsprachlichen Land,
sondern die Fremdheit, die sich aus dem Verlust der
Sprachheimat ergibt, dem Redenmüssen in einem bedeutungsfremden
Zeichensystem. Es macht einen Unterschied,
ob bei der menschlichen Kommunikation
das Dabeisein Gottes, sein „Ich bin da“, mitgedacht
oder bewusst ausgeklammert wird.

Ps 137 beginnt mit einer Situationsbeschreibung:
Die Deportierten sitzen an den Wasserkanälen von Eufrat
und Tigris und klagen über den Verlust von Jerusalem.
Auf dem Gipfel ihrer Bergstadt steht der Tempel,
dessen Heiligtum die Bundeslade, das ordnende Wort
Gottes, birgt. Gottes Zusage „Ich bin der, ich bin für
Euch da“ ist der größte Tempelschatz, grundgelegt in
den Worten seiner Weisungen als Versprechen für ein
gelingendes menschliches Miteinander. Die Sehnsucht
nach der Heimatstadt ist der Schmerz über die durch Babylon erzwungene Ferne zum Wort Gottes, das während
der Liturgie im Tempel Jerusalems präsent und
wirksam wird. Das Wort des Exodus-Gottes zielt auf
den Prozess befreiender und heilsamer Existenz durch
den Sprechakt in heiliger Feier als Wechselgespräch
zwischen Gott und Mensch.

Die Demütigung der Deportierten wird verstärkt, als
die babylonischen Aufseher von den Juden das Singen
ihrer heimatlichen Zionslieder verlangen. Auf zweierlei
Weise verursacht der befohlene Gesang den Gefangenen
Qual: Das Singenmüssen weckt Zweifel, ob Gott
sie nicht wegen ihrer Gottvergessenheit der babylonischen
Fremdbestimmung ausgeliefert hat. Hatte sich
Israel nicht schon lange vor der Eroberung der Sprache
und somit dem Denken benachbarter Großmächte
angeglichen? Und: Wird das befohlene Singen von
Psalmen nicht die Heiligkeit Gottes antasten, da ihr
sakrales Lied allein zur kurzweiligen Unterhaltung der
Unterdrücker dient und auf diese Weise somit Gott als
auch sein Volk gedemütigt wird?

Auf diesen emotionalen Zwiespalt reagieren die Deportierten
mit zwei heftigen Wünschen: Erstens einer
Selbstverwünschung und zweitens Strafwünschen gegen
Babylon. Die Selbstverwünschung wird sprachgewaltig
inszeniert: Wenn ich Dich je vergesse, Jerusalem,
dann soll mir die rechte Hand verdorren. Die
Zunge soll mir am Gaumen kleben... (V 5 f) Israel weiß,
es wird handlungs- und sprachunfähig werden, wenn
es sich außerhalb von Gottes Wort einrichtet und in
der gottfernen Sprache wohnen bleibt. Babylon steht
eben für Exil und das nicht mehr Beheimatetsein im
befreienden Wort des „Ich bin Da“. Der Strafwunsch
gegen die Weltherrscher, die bezogen auf Gottes Weisungsworte
Fremdsprachige sind, ist ungeheuerlich
und richtet sich gegen deren Kinder: Wohl dem, der
deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!
(V 9) „Babylons Kinder“ sind nicht wörtlich gemeint,
sondern stehen als Sprachbild für die Fortsetzung widergöttlicher
Schreckensherrschaft, der die gottes- und
menschenverachtende Sprache vorausgeht. Mit der Tötung
babylonischer Nachkommenschaft soll künftigen Schwätzern von globalem Machtanspruch über Menschenköpfe
hinweg der Mund verschlossen werden.

»Die Sehnsucht nach Jerusalem ist der Schmerz über die
durch Babylon erzwungene Ferne zum Wort Gottes.«

Marie-Luise Reis

Der herzzerreißende Schrei der Deportierten zu ihrem
Gott ist das Verlangen, wieder in ihre ureigene und
selbstbestimmte Sprachheimat zurückzukehren. Das
im Exil befohlene Heimatlied wird zum Revolutionslied:
Beim Singen des Zionsliedes widersetzen sie sich
der weltangepassten Rede der Eroberer; wer im Psalmgebet
Gott als Anwalt sozialer Ungerechtigkeit anruft,
wird sprachfähig und kann auf physische Gewaltanwendung
verzichten. Wer sich auf den Dialog mit
Gottes Wort einlässt, wird bezogen auf eine menschengerechte
Zukunft handlungsbereit und kompetent: Der
Arm wird nicht verdorren und die Zunge nicht am
Gaumen kleben bleiben (vgl. V 9), weil Reden mit Gott
zum Widerstand gegen das verordnete Vokabular der
anmaßend mächtigen Vorsager befähigt.

Psalm 139

Auch der Psalm 139 ist verdichtete Spannung, spricht
von einem Beter, der vor den Rechthabern weltlicher
Rechtsvorgabe flieht und seinen Wunsch nach wahrer
Gerechtigkeit in den Gottesdialog einbringt. Der Beter
kann die vorgefundene Welt nicht mit Gottes Weltplan
in Übereinstimmung bringen: Statt Gott herrschen die
Männer mit Blutschuld, die jegliches Opfer für ihre
Macht in Kauf nehmen. Der Psalmist fällt nicht in deren
Sprachvorgaben, sondern stellt sich auf die Seite
des Wortes Gottes. Die Wahl für Gott ist für den Psalmisten
eine Entscheidung auf Leben und Tod, denn die
Gottesfeinde, die ihrer eigenen Machtobsession erlegen
sind, gehen im übertragenen sowie im realen Wortsinn
über Leichen. Daher appelliert der Beter in schockierender
Weise an Gott: Wolltest du, Gott, doch den Gottlosen
töten! (V 19a) Der Tötungswunsch entspringt aus
dem Schrei der Ohnmacht: Ihr blutgierigen Menschen,
lasst ab von mir! (V 19b) Der Psalmbeter bangt derart
um seine Existenz, dass er sich gleich zu Gebetsanfang
seines Gottvertrauens versichern muss. Der Gottesanruf
wird zum Aufschrei eines Gottvertrauens, das sich
zur widerständischen Kraft gegen diejenigen steigert,
die das Sagen beanspruchen.

Aufgrund dieser thematisierten Spannung zwischen
Vertrauen und Klage kann Ps 139 als Kompositum von
individuellem Dankhymnus und Klagelied charakterisiert
werden: Der erste Teil VV 1-18 thematisiert den Dank, im Schlussteil VV 19-24 wird die Klage artikuliert.
Sitz im Leben des aus späterer nachexilischer
Zeit stammenden Psalms ist die Bitte um Tempelasyl
(Alfons Deissler). Ein Rechtloser sucht im Rechtsstreit
den „Rechthabern“ zu entkommen. Im Tempel nimmt er
Zuflucht zu Jahwe als dem einzigen Gerichtsherrn, der
ihn bereits in seinem Innersten erkannt hat.

Die Anrede Gottes wird zugleich mit der Vertrauensaussage
verbunden: Herr, du ... kennst mich. (V 1)
Gott wird als ein wissender Lebensbegleiter angeredet:
Alle Lebensvollzüge, innere wie äußere, seien sie
schon Handlung geworden oder noch denkender Akt,
sind Gott bekannt (VV 2-6). Gott ist präsent in den von
ihm geordneten Zeiteinheiten, bei Tag und Nacht (VV 7-
12). In überbietender Weise bekennt der Psalmist sein
Vertrauen zu Gott als dem Kenner seiner individuellen
Lebensgeschichte seines pränatalen wie zukünftigen
Seins (VV 13-16). Das Bekenntnis zu Gottes Allwissenheit
ist für den Psalmbeter nicht Ausdruck göttlicher
Observanz, sondern es ist die anteilnehmende Sicht
desjenigen, der ein „Hin- und nicht Wegseher“ ist.
Moses Mendelsohn hat in seiner Psalmenübertragung
diese enge Beziehung zwischen dem Beter und Gott auf
poetische Weise zur Sprache gebracht: Du hast mich
um und um gebildet; hast deine Meisterhand an mich
gelegt. Solch Wissen ist mir zu verborgen, zu hoch, dass
ich’s erreiche. (VV 5 f).

»Das Wissen, aus Gottes Meisterhand zu stammen,
befähigt zum Widerstand gegen jede Form der Menschenverachtung.«

Marie-Luise Reis

Das Wissen, aus Gottes Meisterhand zu stammen,
befähigt zum Widerstand gegen jede Form der Menschenverachtung.
Der Psalmbeter vertraut einem wissenden
Gott, der seine Schöpfung gut geordnet hat.
Aber jene, die Gottes Recht brechen, wollen das widergöttliche
Chaos wiederherzustellen, was den Beter zu
der hochemotionalen Äußerung hinreißt: Soll ich die
nicht hassen, Herr, die dich hassen...? Ich hasse sie mit
glühendem Hass; auch mir sind die zu Feinden geworden.
(VV 21 f)

Der die Gottesfeinde gerichtet wünscht, stellt sich
selbst unter Gottes Rechtsprechung. Dabei sollen
nicht allein seine äußeren Taten in die Waagschale des
Rechts geworfen werden, sondern auch sein ganzes
Sein: Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich, und erkenne mein Denken! (V 23).

Widerstand durch Sprache

Die Psalmen 137 und 139 thematisieren die Sprachwerdung
vor Gott als Zeugnis wiedergewonnener Menschwerdung.
In Anlehnung an Theodor W. Adornos Rede,
nach Auschwitz könne es keine Dichtung mehr geben,
wurde J. B. Metz gefragt: Ist es möglich, dass nach der
Shoa Christen noch Psalmen beten? Seine Antwort lautete:
Ja, weil in Auschwitz Psalmen gebetet wurden.
Der jüdische Lyriker Paul Celan bringt ebenfalls wie
Ps 137 in seinem Gedicht „Todesfuge“ den Alltag eines
Vernichtungslagers zur Sprache. Auch er schildert (vgl.
Ps 137,3) von der verordneten Musik der Lagerinsassen:
Ein Mann wohnt im Haus, der spielt mit den
Schlangen... der pfeift seine Juden hervor, lässt schaufeln
ein Grab in der Erde, er befiehlt uns spielt auf nun
zum Tanz. Die Analogie zwischen der Psalmdichtung
und Celans Todesfuge sind auffallend. Beide formulieren
den Prozess der Sprachermächtigung in der Situation
drohender Verstummung. Wer spricht und Gott
zum Ansprechpartner erklärt, entmachtet imperative
Rede widergöttlicher Befehlshaber. Celans Gedicht
entreißt die Opfer der Shoa dem Schweigen und dem
damit einhergehenden Vergessen; der Lyriker stellt sie
verdichtend anheim in Gottes Namen, des ewig präsenten
Ich bin da. Psalmen zu beten bedeutet Widerstand
zu leisten gegen eine unbedachte, fortschreitende
Weltangleichung.

Wege zur schriftgraphischen Gestaltung

Rede, die Wahrhaftigkeit vor der Welt und Gott beansprucht,
beeinflusst das Körperempfinden, verlangt
nach dem stimmigen Ausdruck in Rhetorik, Mimik und
Gestik. Psalmen sind Gebete mit dem ganzen Körper,
sie sprechen von den innersten Emotionen, die das
Körperempfinden bestimmen. Sie aktivieren in dem
Prozess der künstlerischen Gestaltung auch das Mittun
des ganzen Körpers.

Die eigene Handschrift ist die durch Persönlichkeit
und Biographie individuell geprägte schriftgraphische
Ausdrucksweise. Das Abschreiben des Psalms
in der eigenen Handschrift ist keine bloße Kopie des Textes. Während des Schreibprozesses in unverwechselbaren
persönlichen Schriftzügen beginnt bereits
der Dialog mit der Textbotschaft. Das erste Meditieren/
Beten des Psalms ereignet sich während der Abschrift.
Das Schreiben stellt, wie eingangs mit Verweis
auf Ecos Schilderung aus dem Skriptorium, eine den
ganzen Körper beanspruchende Tätigkeit dar. Deshalb
umfassen die folgenden sieben Zugangsweisen
einer schriftgraphischen Psalmenerschließung auch
Bewegungs- und Stimmübungen. Die individuelle Körperbiographie,
augenblickliche somatische sowie psychische
Verfasstheit finden somit Eingang in die kalligraphische
Gestaltung.

Vor der Schriftgraphik steht das Hören, die Rezitation
und die Bewegung; letztere sollte in den Schwung
der Schriftzeichen einfließen. Damit das persönlich bewegende
Psalmwort in den je eigenen Schreibduktus
einfließen kann, empfehlen sich als Schreibmaterial ein
langstielig breiter Borstenpinsel und als Schriftgrund
großformatige Zeichenblätter oder Papierfahnen.

1. Den Psalm mehrfach laut lesen,

danach eine Weile
in der Stille verharren, damit das Gehörte nachklingen
kann und innerlich Raum gewinnt.

Den ersten aus dem gesamten Psalm herausgehörten
Vers laut wiederholen und als persönliche Ansprache
begreifen. Die Botschaft des Verses in ihrer semantischen
Vielschichtigkeit erahnen und daher den Text
in phonetischen Variationen durchspielen. Bei der Intonierung
auf Lautstärke, Modulation der Stimmhöhe
und bewusste Pausensetzungen achten. Während der
Rezitation des Verses den Raum durchschreiten. Das
Ausschreiten im Raum, die Gangart, das Lauftempo
mit dem Gesprochenen in „Einklang“ bringen. Psalmzitate,
die einen Bewegungsablauf ansprechen und reich
an Verben der Bewegung sind, eignen sich besonders
für das Ausschreiten im Raum. Anschließend den „gehörten“
sowie „ergangenen“ Psalmvers in betont großen
Schriftzeichen notieren. Das Format des Blattes ist
wie die Raumbegrenzung zu sehen und der ergangene
Schrifttext kann die bewusste oder unbewusst gewählte
Wegnahme bei der Rezitation aufzeigen.

Intention: Das Gehörte des Psalmtextes will als Wegbegleitung,
Schrittmacher, Taktgeber des persönlichen
Lebens verstanden werden.

2. Eine Initiale gestalten.

Der erste Buchstabe des ersten
Psalmwortes soll als Auftakt des Dialogs mit Gott
verstanden und hervorgehoben werden.

Oft beginnen Psalmen mit der Gottesanrede „Herr“,
der deutschen Übersetzung für das hebräische Wort
adonaj. Das anfänglich intonierte H ist ein Buchstaben,
bei dessen Aussprache der Beter sein Anliegen,
seine innere Verfassung hinein- und ausatmen kann.
Der Gebetsanlass, sei es Dank, Klage, Bitte, der den Beter
zum Gottesdialog veranlasst, bestimmt die Artikulation.
Der Psalmauftakt, die Gottesanrede, kann durch
den Gestus einer Grußbewegung begleitet werden.
Der Schwung der Grußgeste sollte in schwungvollem
Schriftzug der Buchstabengestaltung sichtbar werden.

Intention: Gott wird als Gegenüber erfahren; der Ansprechende
stellt sich mit allen Anliegen vor den hörbereiten
Gott.

3. Die Psalmen sind verdichtete, von innerer Dynamik geprägte Gottesanrede.

Der Mensch, der sich sprachlich
vor Gott entwirft, wird seinen Entwurf entsprechend
seines Redeanlasses inszenieren. Der Psalmbeter
kann je nach Emotionslage entweder unmittelbar
mit der Tür ins Haus fallen oder seinen Gottesdialog
langsam vorbereiten, dann dramatisch ansteigen lassen, um schließlich wieder in eine Phase der Beruhigung
einzutreten.

Die Stimmführung sollte bei der Psalmlesung die
Dynamik der Beziehung Mensch – Gott spiegeln. Zäsuren
zwischen einzelnen Redeabschnitten sind zu
beachten, um Wendungen in der Stimmungslage zu akzentuieren.

Das inhaltliche Bewegungsmuster des Psalms, der
geradlinige, sprunghafte oder spiralförmige Spannungsaufbau,
der kreisende Höhepunkt, ein evtl. ausgleitender
Abfall zum Ende, wird in Körperbewegungen
umgesetzt. Anschließend werden die zuvor ausgeführten
Bewegungsmuster in Form von Pfeilbögen,
geschlängelten, spiralartigen Linienführungen, oder
Wellenlinien auf das Blatt entworfen. Hierbei darf die
Linienführung durchaus über das Papierformat hinausweisen
und wie bei einer seismographischen Aufzeichnung
unter Umständen auch nur den Ausschlag
einer Frequenz festhalten. Anschließend kann über/
in/unter die graphisch gestaltete Linienführung der
entsprechende Text eingetragen werden. Es empfiehlt
sich, zweifarbig zu arbeiten, um die Linienführung und
Buchstaben optisch gegeneinander abzugrenzen.

Intention: Die Mensch-Gott Beziehung wird in den Facetten
aller möglichen emotionalen Verfassungen wahrund
angenommen. Jede Ausdrucksform, die das Innere
unverstellt vor Gott wiedergibt, ist wahres Gebet.

4. Die Psalmdichtung ist reich an Metaphern

und die
Bildsprache kann als Vorlage für nonverbale Kommunikation
in der Gebärdensprache dienen. Mit der Hand
geformte Bildzeichen sollten unkompliziert und somit
leicht verständlich sein.

Die graphische Umsetzung der bilderreichen Psalmdichtung
kann sich auch konventioneller Symbolzeichen
bedienen. Im alltäglichen öffentlichen Raum wie
z.B. auf Bahnhöfen, Flughäfen, in Messehallen werden
Piktogramme als international verständliche Hinweiszeichen
benutzt. Bei einer kalligraphischen Umsetzung
von Psalmtexten könnten neben Buchstaben
Bildsymbole/Piktogramme hineingesetzt werden. Der
Text wird so zu einer interessanten Komposition aus
Schrift- sowie Bildzeichen.

Intention: Förderung von Kommunikation, Gewinn
eines bildreichen und leicht verständlichen Ausdrucksspektrums.
Jede noch so einfache Form der Mitteilung
ist dem Verstummen, der Gesprächsverweigerung vorzuziehen.

5. Die existentielle Erschließung

des Psalms kann
dann gelingen, wenn der Beter/Schreiber einzelne Aspekte
der Psalmdichtung mit eigenen biographischen
Bezügen in Verbindung setzt. Der Psalmtext wird neu
gestaltet und um Daten/Notizen lebensgeschichtlicher
Ereignisse ergänzt. Biographische Skizzen können als Kürzel oder verschlüsselte Zeichen in die Abschrift des
Psalmtextes einfließen.

Intention: Der gegenwärtige Psalmbeter weiß sich mit
seinen Lebensereignissen einbezogen in eine generationsübergreifende
und weltweite Kommunikationskette
von Betern. Wem die Sprache versagen sollte, bleibt die
Gewissheit, vom Gebet Anderer mitgetragen zu sein.

6. Psalmen sind Gebete

des Einzelnen und des Volkes,
neben persönlichen Anliegen des Einzelnen werden
allgemeine sozial-politische Anliegen thematisiert.

Aktuelle Zeitungsseiten können als Schriftgrund für
einen Psalmvers dienen. Eine in Streifen geschnittene
Zeitungsmeldung kann mit dem ebenfalls in Streifen
geschnittenen kopierten Psalmtext verwoben werden.
Schlagwörter gegenwärtiger politischer Ereignisse
werden schriftgraphisch im Psalmtext eingetragen.

Intention: Schreibend wird gewiss, dass alles, was in
der Welt zur Geschichte wird, vor Gott geschieht. Kein
Ereignis ist aus dem Dialog zwischen Mensch und Gott
ausgeklammert.

7. Psalmen sind Gespräche mit Gott,

die Menschen
nach einem befreiend empfundenen persönlichen Dialog
zum öffentlichen Bekenntnis bewegen können.
Viele Psalmen enden mit der Doxologie, einem Lobpreis
Gottes vor den Mitmenschen.

In moderner Graffitischrift gestaltete Psalmverse
suchen in der gewollten Ausdrucksform des Nonkonformismus
Öffentlichkeit, um diese visuell und informell
mit einer unerwarteten Botschaft zu konfrontieren
und zum Hinschauen zu provozieren.

Intention: Wer betend und schreibend sich in den
Gottes-Dialog hineingeformt hat, wird die gewonnene
Beziehung in Sprache und Schrift als Zukunftsentwurf
in die Welt einbringen wollen.