Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Von Menschen und anderen Tieren

Aus Anlass des Erscheinens von „Laudato Si“ trafen sich im Haus am Dom der Tierarzt Dr. Alf Theisen und die Tierexpertin Dr. Carola Otterstedt mit zwei Mitgliedern des Kuratoriums Riedberg zum Gespräch.

Die Frage stellte Dr. Dewi Suharjanto und Dr. Dirk Preuss

Hätten Sie die Enzyklika „Laudato si“ ohne unsere Anfrage für dieses Gespräch gelesen?

Otterstedt > Ich habe die Enzyklika gleich, als sie herauskam, gelesen, weil ich wissen wollte, was Franziskus uns Menschen (und weniger zum Tier) zu sagen hat. Und ich habe gemerkt, hoppla, der Text ist interessant und lässt sich auch gut und einfach lesen. Ich fand es hilfreich, vorher durch keine Rezension beeinflusst worden zu sein.

Theisen > Ohne die Einladung zur Diskussion hätte ich die Enzyklika nicht gelesen. Aus der Presse hatte ich gehört, der Papst habe dieses und jenes gesagt – da zieht sich der Leser dann heraus, was er gerne hören will. Bei der Lektüre stellt man allerdings fest: Der Papst hat ja auch ganz andere Dinge gesagt, und hier wird es dann anregend und interessant, so dass ich froh bin, die Schrift gelesen zu haben.

Die Enzyklika wendet sich, so sagt es Franziskus, an alle Menschen guten Willens. Wie überzeugend finden Sie als Menschen, die in ihrem beruflichen Alltag sehr viel mit Tieren zu tun haben, diese Schrift, was ziehen Sie gerade mit Blick auf die Tiere aus ihr heraus?

Otterstedt > Ich finde sie eigentlich relativ schlicht gehalten. Aber ich hatte auch nicht die Erwartung, dass sie ein konkretes Regelwerk oder eine Systematik bereithält. Impulse ja, aber keine konkreten Handlungsanweisungen. Fragen wir zum Beispiel einmal: Wo geht es in der Enzyklika um Tiere? Dann kommen wir doch auf die verblüffende Antwort: Auf jeder Seite des Textes steht ein Tier – nämlich die Spezies Mensch. Weiter heißt es dort, dass Gott sich in Beziehung setzt zu seinen Geschöpfen, sei es nun zum Menschen oder sei es zu seinen Mitgeschöpfen, den Tieren, oder zur ganzen Natur. Für uns, die tagtäglich mit Tieren arbeiten, gehört der Begriff vom „Mitgeschöpf“ Tier zum Selbstverständnis. Denken Sie an den Bereich der Tiergestützten Intervention in Altenheimen, in der Pädagogik, im Krankenhaus – dort ist das Tier mein Arbeitskollege, dem ich selbstredend als Subjekt Achtung entgegenbringe.

Theisen > Die Enzyklika auf das Tier hin zu bedenken, hatte ich bei dem Text ursprünglich nicht im Sinn, weil ich Tiere zunächst nur durch den Bezug auf den heiligen Franz von Assisi am Rand erwartet hätte. Aber das Tier steckt natürlich drin. Ich führe die Aufsicht über 25.000 Mäuse. Manchmal fragt man sich: Wer bin ich, darf ich das? Wenn überhaupt jemand das Leiden dieser Tiere reduzieren kann, dann bin zwar ich als Tierarzt das, aber die Frage bleibt bestehen, und sie wird durch Papst Franziskus auch gestellt. Und ich würde diese Frage gerne ausdehnen, wie es auch in Absatz 130 geschieht. Dort heißt es: „Jede Nutzung und jedes Experiment verlangt Ehrfurcht vor der Unversehrtheit der Schöpfung.“ Auch der Chihuahua in der Handtasche ist Nutzung eines Tieres und wir haben ihn nicht gefragt, ob er das möchte.

Otterstedt > Da bin ich gerade auch hinsichtlich der Heimtiere ganz bei ihnen, würde aber gerne noch einmal zurückspringen. Sie haben gefragt „Darf ich das?“. Was ich in der Sterbebegleitung erlebt habe, ist, dass das Thema Schuld auch im Umgang mit Tieren, etwa bei ehemaligen Mitarbeitern von Versuchstiereinrichtungen, am Ende des Lebens zum Tragen kommt. Wie mit den Tieren umgegangen wird, ruft viel seelisches Leid bei den Betroffenen hervor und ist ein seelsorgerliches Thema. Ich finde es sehr schön, dass die Enzyklika dazu anregt, noch einmal verschärft in dieser Richtung nachzudenken, denn dieser Aspekt kommt nur selten zum Tragen: Darf ich einen Menschen an so einem Platz einsetzen, um so etwas mit Tieren zu machen?

Theisen > Ich bin tatsächlich auch gespannt, wie es mir einmal damit gehen wird, ich würde dies aber nicht auf die Frage der Tierversuche beschränken, sondern sie wie die Enzyklika mit Blick auf jede Nutzung des Tieres stellen. Jede Nutzung des Tieres ist problematisch, und da finde ich, ehrlich gesagt, den Tierversuch im Großen und Ganzen noch weniger problematisch, wenn er den bestehenden Möglichkeiten und Vorgaben gemäß durchgeführt wird.

Otterstedt > Sie denken alternativ jetzt an Putenschlachtung zum Beispiel?

Theisen > Das ist ein riesiges Problem, aber wir müssen nur schauen, wie manche Heimtiere gehalten werden.

Otterstedt > Genau, auch da haben wir ein riesiges Problem, und da wägen wir oft gar nicht erst ab, wir nehmen es einfach so hin, wie es ist – und das hat nichts mit dem Gedanken der Mitgeschöpflichkeit zu tun.

Theisen > Das sehe ich auch in der Nutztierhaltung oftmals, beim Schnitzel, das gedankenlos verzehrt wird, und niemand mag sich daran erinnern, dass es aus einem Schwein hergestellt wurde.

Otterstedt > Wobei man hier differenzieren muss, denn ein Schwein kann auch ein wunderbares Leben auf der Weide gehabt haben, ehe es zum Schnitzel wird. Bei Versuchstieren habe ich hingegen Zweifel, ob eine Wertschätzung der Maus im Labor überhaupt möglich ist, wenn sie dort im Plastikkästchen sitzt mit zwei, drei, vielleicht auch mit zu vielen anderen Mäusen zusammen und vielleicht auch unter Stress, in jedem Fall in einem nicht artgemäßen Plastikteil ...

Theisen > Hier muss ich einen kleinen Einspruch anmelden, denn das Auftreten von Stereotypien bei Mäusen in einer nicht angereicherten Umwelt ist sehr gut untersucht. Daher reichern wir die Umwelt der Tiere an, das ist sogar vorgeschrieben.

Otterstedt > Aber das ist natürlich alles standardisiert und entspricht nicht der natürlichen Umwelt einer Maus. Vielleicht haben wir hier einen anderen Begriff von Wertschätzung oder verwenden Wertschätzung in abgestufter Art und Weise?

Theisen > Im Vergleich sehe ich die Wertschätzung der Tiere im Labor durchaus. Schauen sie etwa auf Ratten, die hochintelligente und ganz nette Tiere sind. In Frankfurts Kanalisation leben rund 600.000 Tiere, da werden eben mal 10.000 Tiere vergiftet, um die Population zu bekämpfen. Wenn ein Kollege mit 25 Ratten arbeitet, um einen Knochenersatzstoff zu testen, hat er ein dreimonatiges Genehmigungsverfahren zu durchlaufen. Allerdings fragt er sich dann vielleicht auch schon einmal: Warum muss ich das so kompliziert machen und Schädlingsbekämpfer dürfen das einfach so?

Otterstedt > Das ist ein schönes Beispiel, denn in dem Moment, wo er sich das fragt, hört die Mitgeschöpflichkeit auf!

Theisen > Genau, da hört die Mitgeschöpflichkeit auf – ich bringe noch ein anderes Beispiel dafür, wo diese Sensibilität fehlt, die Franziskus anmahnt: Es gab eine Studie zur gesundheitsschädigenden Wirkung von gentechnisch verändertem Mais mit einer Toleranz für das Herbizid Roundup. Die Bilder dazu können Sie überall sehen, auf denen der Wissenschaftler eine Ratte mit riesigen Tumoren auf dem Arm hat. Das Paper wurde mittlerweile wegen methodischer Mängel zurückgezogen und mir geht es hier auch gar nicht um die Beurteilung von Gentechnik an Pflanzen. Was mir hier wichtig ist und was niemanden gestört hat, ist die Tatsache, dass man die Tumore bei den Versuchstieren wachsen ließ, um eindrucksvolle Bilder zu erhalten. Dabei hätte sich der Krebs viel früher nachweisen lassen, man hätte die Tiere gar nicht so lange quälen müssen. Das hat niemanden interessiert, weil es sich eben „nur“ um eine Ratte gehandelt hatte!

Otterstedt > Hier sieht man, wie die Ratte als Objekt wahrgenommen wird – vielleicht auch noch einmal stärker als ein Affe oder Hund im Labor. Solche tierunwürdigen Situationen trifft man in vielen Bereichen der Gesellschaft an und das hat nichts mit Mitgeschöpflichkeit zu tun. Zwar hatten wir den Missbrauch von Tieren schon immer, auch als man noch enger mit den Tieren auf dem Acker zusammenarbeitete; die Vorgaben der Bibel, den Tieren einen freien Tag in der Woche zu gönnen, kommen ja auch nicht von ungefähr. Aber wir sind noch meilenweit entfernt, diese Impulse gut umzusetzen.

Sehr konkret sind in der Enzyklika hingegen die Vorschläge zum Wassersparen, zur Mülltrennung etc., die man kaum bestreiten wird, die aber zumindest in unseren deutschen Ohren eher banal klingen. Eine relativ eindeutige Entscheidungshilfe offeriert Franziskus vielleicht auch dort, wo er Umweltschutz mit Kapitalismuskritik verbindet: Dass man einer Aufweichung der Flora-Fauna-Habitat- und Vogelschutzrichtlinien (Natura 2000) zugunsten von Baugenehmigungsverfahren nicht zustimmen darf, wie es gerade von der EU diskutiert wird, lässt sich mit der Enzyklika wahrscheinlich gut herleiten. Im Bereich Tierversuche oder Gentechnik bleibt diese hingegen eher vage und bezieht sich etwa auf den Katechismus der Katholischen Kirche von 1992. Nehmen Sie das auch so wahr?

Otterstedt > Hinsichtlich der Tierversuche geht er nicht über das hinaus, was sich z.B. auch in der deutschen Gesetzgebung wiederfindet, wo ja ein vernünftiger Grund für Eingriffe am Tier gefordert wird, ohne diesen zu konkretisieren. Allerdings haben wir ja auch verschiedene Umstände und Fragen an verschiedenen Orten auf der Welt, und der Papst wendet sich nicht nur an uns hier in Deutschland oder Europa. Auf den Philippinen, im Dschungel usf. wird man wohl andere Antworten auf andere Frage geben, welcher Nutzen was rechtfertigt.

Theisen > Ein Impuls ist für mich von Absatz 123 ausgegangen, wo Franziskus die Logik des Einweggebrauchs anprangert – ich denke hier nicht an Stromsparen oder die Vermeidung von Plastik, sondern an etwas anderes, das meinen Bereich betrifft: Um eine genetische Maus zu bekommen – wie viele Tiere muss ich denn dafür heranziehen? Samenspender, superovultierte Weibchen, Ammentiere, Tiere, die nicht den richtigen Genotyp besitzen usw. Es gibt zwar Verfahren, mit deren Hilfe sich das etwas reduzieren lässt. Aber ehe sie eine Gruppe mit acht homozygoten Tieren für ihren Versuch haben, werden erst einmal sehr viele andere Tiere herangezogen und verbraucht. Das muss zwar mittlerweile genehmigt werden und lässt sich aktuell auch kaum abstellen, aber hier regt mich der Text an im Rahmen der Möglichkeiten, die man hat, über das oftmals gedankenlose Züchten erneut nachzudenken und darauf einzuwirken, dass gezielter gezüchtet wird.

Wenn Franziskus die Migration von Tieren aufgrund klimatischer Veränderungen mit der von Menschen verknüpft oder schreibt, das Verschwinden einer Kultur sei (mindestens) genau so schwerwiegend wie das Verschwinden einer Tierart, findet dann bei aller Hierarchie, die er zwischen Menschen und anderen Lebewesen bestehen lässt, nicht womöglich eine Humanisierung der Tiere statt?

Otterstedt > Es geht in Fachkreisen nie um eine Vermenschlichung der Tiere – und so lese ich den Text auch nicht. Denn das wäre ja auch eine Reduzierung der Artenvielfalt, wenn man Tiere zu Menschen machen wollte. Ich denke allerdings umgekehrt, dass wir ohnehin dahin kommen zu sehen, dass wir es mit unterschiedlichen Kulturen zu tun haben: mit verschiedenen Spezies und ihren artspezifischen Kulturen. Ein Problem, das wir stets haben, ist natürlich: Wie kann ich mich als Mensch so ausdrücken, dass es nicht zur Vermenschlichung kommt, wenn ich über Tiere spreche?

Über einen erkenntnistheoretischen Anthropozentrismus kommen wir natürlich nie hinaus. Wenn wir uns aber ansehen, welchen ethischen Ansatz Franziskus vertritt, dann ist er doch sehr stark tugendethisch ausgerichtet. Es geht ihm um Haltungen, ein geändertes Grundbewusstsein. Und er sucht und eröffnet einen mystischen, spirituellen Zugang zur Natur anstelle des Mythos der Moderne und des technokratischen Paradigmas, wie er das nennt. Ist das überhaupt noch anschlussfähig, vom Buch der Natur zu sprechen, die geistlich gelesen werden müsse, und sie spirituell als Schöpfung zu deuten?

Theisen > Im Labor ist alles sehr durchrationalisiert, aber: Neben der 3-Regel für Tierversuche wurde von Japan ausgehend ein viertes R, „remember“, eingeführt. Die 3-Regel bedeutet bisher reduction, refinement und replacement, das heißt, man versucht, die Zahl der benötigten Tiere zu reduzieren, die Verfahren so zu verbessern, dass die Tiere weniger Schmerzen und Stress ausgesetzt sind, und Tierversuche durch andere Verfahren zu ersetzen. Als viertes R fordert remember nun zusätzlich, sich der Versuchstiere, die man während des Jahres verbraucht hat, zu erinnern. Ich kenne einen Kollegen, der das konkret macht, indem er eine Kerze aufstellt. Das ist eigentlich gar kein schlechter Ansatz ...

Otterstedt > In der Tiergestützten Therapie kennen wir die Erinnerung an Tiere, die unsere Arbeitskollegen waren, schon lange. Dahinter steht ja auch die Frage: Was macht das mit dem Menschen, der die Kerze anzündet? Das setzt ein Zeichen, ein Signal, man geht in Dialog mit sich selbst, mit Kollegen, mit der Gesellschaft, die das wahrnimmt. Das schafft Beziehung – ein starker Gedanke in der Enzyklika.

Umgekehrt lässt sich vielleicht auch fragen: Wo liegt das Neue der Enzyklika? Vieles erinnert an Hans Jonas‘ „Das Prinzip Verantwortung“ von 1979, die Gedanken lassen sich schon seit vielen Jahren in umweltethischen Schriften und Texten zu einer neuen Schöpfungsspiritualität lesen. Ist nur neu, dass es nun ein Papst in einer Enzyklika und weltweit sagt?

Otterstedt > Ich hätte ja Riesenlust, morgen ins Flugzeug zu steigen und diesen Text unter einem Mangobaum mit Leuten in Afrika zu diskutieren. – Ich hätte übrigens ebenso Lust, dies in einer Kirchengemeinde in Bremen zu machen; seltsamerweise haben die bisher keine Lust. – Ich finde den Text wunderbar. Und warum ist der Text so stark? Weil Menschen darin Punkte finden, an die sie im Alltag andocken können. Nicht jeder an den gleichen Punkten, aber jeder wird einen Punkt für sich zum Anknüpfen finden. Franziskus zaubert hier kein Kaninchen aus dem Hut, aber er geht mit Menschen in Beziehung, er will übersetzen, kommunizieren. Und man kann über jedes Kapitel der Enzyklika mit Menschen ins Gespräch kommen. Die Gedanken sind nicht neu, aber sie geben neue Impulse.

Theisen > Absolut, der Text spricht persönlich an, ich bin im Text über vieles gestolpert, ich denke etwa an die Aufforderung zum Dialog unter den Wissenschaften selbst, die sich in die Grenzen der eigenen Sprache zurückzuziehen pflegen – das ist doch etwas, was man jeden Tag sehen kann.