Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Diäten des Gemüts

Pariser Augenblicke 5

Trauer kann nicht in eine andere Münze umgewandelt werden, heißt es gewöhnlich. Aber stimmt das wirklich? Vor allem: Stimmt es immer und überall, unter allen Umständen? Im Jahr 2015 in Paris zu leben lehrt das Gegenteil. Erst hatte die Trauer um die Toten von den Anschlägen auf die Pariser Wochenzeitung Charlie Hebdo vom Januar 2015 zu weltweiten Solidaritätsgesten und in Frankreich selbst zu einem Protestmarsch von Millionen seiner Bürger geführt. Und auch nach den erneuten Anschlägen vom November blieb es nach dem ersten Schock nicht lange bei der Trauer; Wut und Hoffnung mischten sich hinzu. Dem Dunkel der Trauer setzten die Franzosen von Nord nach Süd, in den Villas und Ghettos das Licht einer brennenden Kerze in ihren Fenstern entgegen. Worauf sie wohl hofften? Gewiss auf bessere, sprich: tolerantere Zeiten, in denen man (wieder!) miteinander lebt!

Nach den Attentaten auf die Pariser Wochenzeitung Charlie Hebdo stieg z.B. deren Auflage von gewöhnlich einigen zehntausend Exemplaren auf einige Millionen. Das nennt man Solidarität! Gilt das auch für Voltaires legendären „Traktat über die Toleranz“, der zeitgleich ebenso zum Bestseller wurde? Als Klassiker war das zweifelsohne noch nie ein Ladenhüter. Keiner kann sich so einfach herausreden, ihn (noch!) nicht zu kennen. Wäre es aber im Umfeld der Attentate nicht nahe liegender gewesen, die beißenden „Traktate der Intoleranz“ des ermordeten Chefredakteurs von Charlie Hebdo, seine so genannten laizistischen „Fatwas“ gegen Religion, gleich mit zu erwerben und sich, bestens ausgestattet, der Wut und damit der heute grassierenden Empörungslust einfach hinzugeben? Warum sich stattdessen mit Philosophie das Leben (noch!) schwerer machen, als es ohnehin schon ist?

Die These ist: Der Verkaufserfolg von Voltaires Traktat ist ganz und gar nicht unmotiviert. Er geht aber nicht auf die berüchtigte Kulturbeflissenheit der Franzosen zurück. Es handelt sich vielmehr um eine der Diäten des Gemüts, die heute im „Bauch von Paris“ (Zola) fast genauso florieren wie in Berlin oder Stockholm.

Was wird damit behauptet? Erstens: Wenn die Welt Kopf steht, also besonders widrige Umstände eintreten, führt das zu dem, was Kant als „Störungen des Gemüts“ bezeichnete – angesichts der Umstände bricht

Dem Dunkel der Trauer setzten die Franzosen von Nord nach Süd das Licht einer brennenden Kerze in ihren Fenstern entgegen.

Michael Hochschild

die eigene Erkenntniskraft ein. Das war bei den Attentaten zweifelsohne der Fall; es herrschte blankes Entsetzen. Zweitens: Versucht werden dann Diäten des Gemüts, die als Maßnahmen zur Selbstberuhigung dienen können. Drittens: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Ernährung und Erkenntnis – Voltaire diente angesichts des terroristischen Wahnsinns als eine Art geistiges Überlebensmittel nach einer Erfahrung totaler Ohnmacht. Kant hatte sogar jene Gebrechen der Erkenntniskraft auf organische Ursachen zurückgeführt und davon gesprochen, sie lägen „mehr in der Verdauung als im Gehirn" und machten eine „Diät des Gemüts“ philosophisch ratsam. Angesichts einer ungeheuren Vielfalt aktueller Lebensratgeber bzw. Diätprogramme muss man den kantischen Terminus der „Diät“ heute freilich im Plural als Diäten lesen.

Immerhin: Kant bürgt für die Weisheiten der richtigen Ernährung. Das ist nicht wenig in unsicheren Zeiten. So wird diese Gegenwart sogar verständlicher: Man kann den Diätwahnsinn im Speziellen und die Bewegung für eine bewusste Ernährung im Allgemeinen für Propagandisten einer den neuen Umständen geschuldeten neuen Normalität halten.4 So gesehen führt die These zu Voltaires Traktat als einer Diät des Gemüts vom Verlust der Normalität zu ihrer Wiedergewinnung und rückt dabei die Ernährungsfrage ins Zentrum des Geschehens.

Wie qualifiziert sich Voltaires Traktat nunmehr als eine Diät des Gemüts? Anders als der Titel vermuten lässt, enthält sein Traktat der Toleranz keine Bedienungsanleitung zur grenzenlosen Toleranz. Voltaire klagt vielmehr systematische Intoleranz an. Er kehrt dabei vor allem vor der eigenen Haustür, der eigenen ungenügenden Praxis der Toleranz, und nicht so sehr beim Nachbarn. Deshalb eignet sich der Traktat vor dem Hintergrund der Attentate auch nicht als Erregungslektüre und mehr als Diät des Gemüts. Im Dickicht historisch-systematischer Abwägungen nimmt seine Lektüre den individuellen Überdruck aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Voltaire schafft das auf fast verwegene Weise. Wie Aristoteles stellt er darauf ab, dass Toleranz eine abkömmliche Tugend ist. Wo Aristoteles den Bezug der Toleranz auf das Gute bzw. die Glückseligkeit fest verankert, fragt Voltaire gewissermaßen nur: Was sind deine heiligen Kühe?

Auf heute bezogen kann man nur antworten: Religion ist es nicht mehr, sonst würden wir entsprechende Intoleranzen (wie die von Paris) nicht als Extremismus erleben, sondern als Teil unserer Normalität ansehen. Auch Wahrheit ist es nicht – die hat sich wissenschaftlich längst verflüchtigt, Politik oder Liebe sind es auch nicht – sie wurden von einer flachen Realität der Tatsachen abgedrängt. In einem totalen Marktgeschehen hat sich fast alles in Zahlen, Daten und Statistiken aufgelöst – bis auf den Leib!

Er ist der letzte Versuch des Menschen, sich doch noch einmal zu beheimaten, aber noch das moderne Versprechen einzulösen und dabei mobil zu bleiben – sozusagen unterwegs mit sich selbst. Im 20. Jahrhundert hieß es noch: Wohin du auch gehst, aus deiner Sprache kannst du nicht auswandern. Das war der Ritterschlag für den „linguistic turn“. Einige Generationen später bevölkern zwei-, ja dreisprachige Muttersprachler unsere Hörsäle; der Migration sei Dank.
Der Kampf gegen Intoleranzen ist von Voltaire mit Verve vorgeführt worden. Heute geht er weiter und erreicht seine maximale Nähe: den Leib; bei Menschen wie bei Tieren. Wir mögen gattungsbezogen oder individuell noch so verschieden denken oder empfinden, der Leib ist die allen gemeinsame, absolute Grenze. Hier entscheidet sich das Leben des Menschen im zivilisierten Zustand, weil hier die Gärungsmittel für sein Verderben nicht mehr diskursiv zerrieben werden können – sondern am eigenen Körper für alle sichtbar werden. Körper lügen nicht. „Du bist, was du isst“ – ruft es aus den Tagen voller Lebensgenüsse eines Brillat-Savarins den verunsicherten Weltbürgern von heute wieder entgegen und meint meist: zu dick oder zu dünn. Adieu die „Käse-Symphonie“ (Zola) einer genussfreudigen Gesellschaft. Stattdessen greift mit jeder neuen Ernährungsmode die zunehmende Pasteurisierung des Geschmacks um sich. Bestes Beispiel: In den Supermarktregalen stauen sich allmählich die „Frei-von-Produkte“, die zugleich auf höchstmögliche Imitation bekannter Geschmacksnoten setzen. Hauptsache: Ausschaltung aller Ernährungsrisiken. Was bleibt, ist, was man unbedingt braucht. Für den Rest gibt es ja die Apotheke um die Ecke. Produkte zur Lebensmittelergänzung zählen nicht mehr nur bei Hochleistungssportlern, sondern auch z.B. bei Veganern mittlerweile zu ihren festen Konsumgewohnheiten. Selbst wenn man sich dabei das Essen, vor allem aber den Geschmack beinahe abgewöhnt, als große Tragödie gilt das nicht.

Tatsächlich ist es auch keine. Etwas anderes, Wichtigeres kommt nämlich hinzu. Aber was ist das – außer vielleicht gesund zu leben? Gesundheit, das klingt nicht besonders anspruchsvoll. Irrtum! In der Gesundheit tritt ein Wohlgefühl zutage, das uns unternehmensfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen macht und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren lässt. All das macht Gesundheit zur Geborgenheit im Leben. Am Kranken wird das noch deutlicher: „Er ist aus seiner Lebenssituation herausgefallen. Doch bleibt er als der, dem etwas fehlt, auf die Rückkehr in sie bezogen.“ Die verbissene Sehnsucht nach gesundem Leben gleicht deshalb dem Versuch, in seinem Leben wieder Tritt zu fassen; hier reift eine vertrauensbildende Maßnahme.

Was im Ernährungssektor momentan geschieht, gleicht daher einem höchst individuellen Selbstversuch, unter kontrollierten Bedingungen das Leben wieder zu erlernen, nachdem es gesamtgesellschaftlich außer Kontrolle geraten ist, Normen so gut wie nicht mehr existieren und erschwerende Umstände wie Terrorismus oder andere Zivilisationskrankheiten den Alltag bedrohen. Wegen des Zwangs zur Selbstkontrolle erscheint diese Ernährungsbewegung auch so rigoristisch und ist mehr in Deutschland als in Frankreich ausgeprägt (um im Bild zu bleiben, müsste es heißen: des Gemüts wegen!).

In jedem Fall hat diese individuelle (Ernährungs-)Praxis eine sozial relevante Seite. Man spielt Normalität, ohne zu wissen, was das Normale außerhalb seiner Bezugswelt ist. Deswegen ist die Rolle der Tiere bei der Ernährung auch so umstritten. Entweder gehören sie dazu, dann gelten aber (fast!) die gleichen Ansprüche auf gesundes Leben auch für sie. Oder sie gehören nicht dazu und laufen dann zusammen mit ihren menschlichen Bezugswelten sprichwörtlich Gefahr, am Rinderwahnsinn zu erkranken.

Apropos „Normalität“: Die Norm von dick oder dünn ist heute keine pure soziale Vorstellung, nicht einmal mehr ein Diktat der Mode, sondern ein Fall aggregierter Daten – eine symbolische Zahl. Wie eine Kuh heute durchschnittlich 30 Liter Milch gibt, übernimmt der Body-Mass-Index die Normierung der Leiber. Schon fragen Versicherungen, Arbeitgeber und Ärzte ungeniert danach. Das ist kein Zufall! In einer individualisierten Gesellschaft sind gesellschaftlich verbindliche Konventionen kaum erfolgreich durchzuhalten. Wie aber werden abstrakte Lebensprinzipien wie Solidarität auf die Ebene der konkreten (Einzel-) Handlung übersetzt, wenn es an vermittelnden Normierungen fehlt? Ganz einfach: Normen werden als freiwillige soziale Selbstkontrolle neu geboren; sie sind damit eine Art soziales Regulativ wie Aggression, Recht oder Moral im Allgemeinen (und Barmherzigkeit im Speziellen). Nur dass dieser Wiedergeburt der Normen keine universale Bezugswelt mehr zur Verfügung steht, sondern durch sie selbst erst geschaffen werden muss. Das bestätigt nur: Der Zerfallsprozess der Moderne läuft immer weiter.

Das Entscheidende an dieser Humantechnik zur Selbstnormalisierung ist die Tatsache, dass es nicht mehr um die „normative“, also geschichtsbeladene und zukunftsbezogene Orientierungshilfe von Normen geht. Es kommt stattdessen allein auf ihre funktionale und gegenwartsbezogene Regulation an – das geht zur Not selbst bei Tieren, die anders als Menschen immerzu gegenwartsbeschränkt leben. Normen bilden sich immer erst, wenn sie über eine Generation hinaus bestehen. Als soziale Regulative wirken sie bei ihrer Entstehung hingegen unmittelbar sozial limitierend, d.h. ein- und ausschließend. Diese Wiedergeburt von Normen wirkt insofern, wie sie ist. Kurzum – als Geschmackssache.

Die Folge: Wenn Ernährung erst einmal zum Lebensstil geworden ist, lautet ihr Vergemeinschaftungsmodus daher stets: untereinander empathisch, miteinander borniert. Das reicht über gleichförmige Ernährungsstile hinaus bis in entsprechende Beziehungsmuster z.B. von Veganern unter sich.

In keinem Fall sind Ernährungsangelegenheiten aber noch wie bei Georg Simmel zu Beginn der Moderne rein individuelle Begebenheiten, die sich erst durch die Tischgemeinschaft sozialisieren. Die Wohlstandsgesellschaft hat keinen Sinn mehr für den „Egoismus des Essens“, es sei denn als lebensstilprägendes Merkmal von überzeugten Singles und beruflichen Nomaden. Ansonsten gilt: In der neuen Unübersichtlichkeit kommt jedem Gericht, neben Brennwert, Nährstoffen und medizinischem Risikopotential, ein besonderer symbolischer Gehalt zu. Rohkostsalat und veganes Curry sind eben nicht einfach nur Gerichte, sondern Zeichen. Sie signalisieren, dass der Esser sich diszipliniert, auf sich achtet, verantwortungsvoll in die Zukunft blickt – sehr positive Eigenschaften in schwierigen Zeiten. Der Ernährungsstil wird für Menschen aus allen Schichten zudem ein Mittel, noch einmal eine neue Milieuzugehörigkeit herzustellen oder zu demonstrieren. Jetzt kann der Banker mit dem

Die Kehrseite dieser neuen Leibfreundlichkeit ist ihr Optimierungswahn, gestiegene Selbstaufmerksamkeiten sowie Diätexzesse sind die Folgen.

Michael Hochschild

Facharbeiter über dieselben Ernährungsprobleme reden – auch wenn sie sonst kaum etwas gemeinsam haben. Es reicht, sich zuzurufen, wie der eigene Körper tickt.

Denn: Neben den medizinisch indizierten Allergikern entstehen inzwischen immer mehr verschiedenartige Wahlverwandte mit mutmaßlicher Überempfindlichkeit gegen die eine oder andere Substanz (Lactose, Gluten etc.). Neben Vegatarier und Karniphore treten zunehmend Flexitarier – die nur ab und zu Tiere essen und ansonsten vegetarisch leben; der Wiedergeburt von Normen als sozialen Regulativen ist keine Grenze der Vielfalt gesetzt. Aber eine Richtung gewiesen: der zunehmenden Spezialisierung. Das ist gesellschaftliche Normierung über den Umweg des Körpers – der Kampf gegen Intoleranzen beginnt immer mit der Identifizierung von Fremdkörpern; kulturell wie medizinisch.

Die Kehrseite dieser neuen Leibfreundlichkeit ist ihr Optimierungswahn, gestiegene Selbstaufmerksamkeiten sowie Diätexzesse sind die Folgen. Wenn die Ernährung bewusster wird, kann die Herstellung von Lebensmitteln nicht mehr verdrängt werden. Auch und erst recht nicht das Leben und der Tod, den das für die Tiere selbst bedeutet.

Anders als in der Moderne gibt es heute ohnehin keine Verdrängung des Todes mehr. Gestorben wird heute in aller Öffentlichkeit, bisweilen sozial (z.B. in Form von Arbeitslosigkeit oder Trennung) oder geistig (Stichwort: Altersdemenz) und sogar massenhaft wie unwürdig (Massentierhaltung!), aber stets unter der Berücksichtigung einer zunehmenden Lebenserwartung aufseiten des Menschen. Inzwischen scheut sich der Mensch nicht mehr zu bekennen, dass er sein eschatologisches Wohl in den eigenen Händen hält. Er ist nur noch auf sich selbst angewiesen, wenn und insofern er hoffnungslos säkularisiert ist. Alle Inves-
titionen in seine Gesundheit sind letztlich nur Maßnahmen, der verlorenen Glückseligkeit seines Lebens nach dem Tod etwas Zuversichtliches davor entgegenzustellen. Hospize z.B. humanisieren die Vorstellung vom Ende und bezeugen die unter solchen Umständen notwendiger werdende Solidarisierung der Lebenden. Und eine ausgewogene Ernährung verlängert die Hoffnung auf die Haltbarkeit des Körpers.

Der Versuch, die Gefahren für Leib und Leben zu bannen, hat sich bisher auf so fremden Feldern wie in der Bekämpfung des Terrorismus oder im Ernährungs-
alltag als notwendig, aber noch nicht erfolgreich erwiesen. Deshalb widerspricht niemand steigenden Ansprüchen einer ausgreifenden Sicherheitspolitik, es müsse dringend aufgerüstet werden. Aber wie? Um die Existenzängste nach dem gesellschaftlichen Kontrollverlust im Zaum zu halten, bleibt nur, von der fraglosen Realität des Leibs auf die Utopie der Körper umzuschalten und in Form von Diäten des Gemüts einen kognitiven Sicherheitsabstand zum Leib einzubauen – ihn immer wieder mit neuen Ideen seiner Vitalisierung zu versorgen.12 Man sollte meinen: Für ernährungsbewusste Christen kommt diese Auferstehungsfeier ihrer Leiber fast ein bisschen zu früh. Andererseits gilt auch für sie: Wer den Leib kontrolliert, beherrscht selbst die Trauer seiner Vergänglichkeit. Mehr noch: Weil Körper immer als Ganzheiten und nie nur in Teilen wahrgenommen werden, kann man sich sogar die Illusion leisten, mit der Kontrolle des Körpers sein ganzes Leben (wieder) zu beherrschen bzw. alle anderen Restrisiken für Leib und Leben einfach zu ignorieren. Wenn auch diese letzte Kontrollmaßnahme versagt, haben wir endlich die Grenzen der Moderne erreicht. Im Moment ist sie noch – ein Bauchgefühl.