Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rom: Mein heiliger Ort

Interviews und Fotos: Matthias Cameran

ALINA OEHLER

Autorin der ZEIT/ Christ & Welt

Ihr heiliger Ort:
Santa Maria sopra Minerva

Das erste Mal so richtig über Heiligkeit nachgedacht habe ich in der Berliner Hedwigskathedrale. Ich zeigte einer jungen evangelischen Vikarin das Gotteshaus der Katholiken im Bezirk Mitte unweit des Regierungsviertels. In der Unterkirche hielt ich kurz inne und kniete am Grab vom seligen Bernhard Lichtenberg nieder wie ich das bei jedem Besuch tat. Draußen vor der Kirche sprachen wir darüber, denn in einer Nische baumelte ein Heiligenschein an einer durchsichtigen Schnur, an der Wand klebten in Gold die Buchstaben „heilig“. Der heutigen Pfarrerin gefiel das, ich machte von ihr ein Foto mit Heiligenschein. Ich selbst wollte mich nicht darunter stellen – nur warum eigentlich nicht?

Nach meinem Gebet am Grab des beeindruckenden Domprobstes, der gegen das Naziregime Widerstand geleistet und in der Kathedrale für verfolgte Juden gebetet hatte, konnte ich das nicht. Es hätte sich vermessen angefühlt, angesichts dessen, was heilige Märtyrer wie er getan haben. Ein Jahr später sollte ich meine Meinung etwas revidieren – nach der Lektüre von „Gaudete et exsultate“, einem berührenden Text von Papst Franziskus über die Heiligkeit, den der Vatikan Anfang des Jahres veröffentlicht hat. Bis dahin wusste ich wohl, dass alle Menschen dazu gerufen sind ein heiligmäßiges Leben mit Gottes Hilfe zu führen, und dachte, dass es dabei gerade auch darauf ankommt, den Heiligen nachzueifern. Sehr wichtig waren für mich dabei immer große Frauengestalten.

Während meines Theologiestudiums in Rom führte mein Weg deshalb sehr häufig zur „Santa Maria Sopra Minerva“. Dort liegt für viele Italiener die größte Frau der Kirchengeschichte begraben: Caterina von Siena. Schon beim Betreten der Kirche ist ihr Sarkophag in Szene gesetzt. Er befindet sich im Hochaltar und strahlt am Ende der Stufen durch die vielen davor entzündeten Kerzen schon von Weitem dem Kirchenbesucher entgegen. In ihrem Glanz sonnte ich mich so oft ich konnte und brachte meine Anliegen vor. Diese mutige Frau schickte Briefe voll ungeschminkter Kritik am Zustand der Kirche in den Vatikan, ja sie bewegte 1376 Papst Gregor XI. sogar zur Rückkehr von Avignon nach Rom. Als „Beraterin der Päpste“ kümmerte sie sich aufopferungsvoll um Arme und Kranke, bis sie sich selbst mit der Pest ansteckte. Sie ist für mich eine „Heilige“ – ein unerreichbares Ideal, ein Leben, wie es nur dank göttlicher Gnade geführt werden konnte. Demgegenüber kann man sich trotz aller Ermutigung doch nur klein vorkommen.

Wenn wir etwas „heilig“ nennen, so meinen wir damit ja auch etwas unverfügbares, einen Zustand außerhalb unserer Möglichkeiten, den wir nicht herstellen können. Gerade in der Liturgie, der „heiligen Messe“, wird das deutlich. Das „Heilige“ lässt Transzendentes anklingen und wirft den Menschen auf die eigene Profanität zurück, macht ihm seine Kreatürlichkeit und auch die Neigung zur Sünde bewusst. Das kann weh tun, das kann eine Bürde sein.

Diese Last hat mir Papst Franziskus ein wenig von den Schultern genommen. Er spricht in „Gaudete et Exsultate“ davon, dass wir Heilige gerade nicht kopieren sollen, da jeder von uns seinen einzigartigen Weg zu gehen hat. Er spricht von Heiligen von nebenan, „Heiligen der Mittelschicht“, von Frauen, die sich um andere im Alltag kümmern und für den Bettler auf der Straße auch noch ein schönes Wort übrig haben. „Die Heiligkeit ist das schönste Gesicht der Kirche“, sagt der Papst. Und ich glaube er hat Recht – wenn wir uns bemühen Jesus wirklich nachzufolgen und nach seinen Geboten zu leben, allen voran die Nächstenliebe, lassen wir etwas von der Heiligkeit Wirklichkeit werden, die das Reich Gottes hier schon anbrechen lässt. Benedikt XVI. nannte Heiligkeit „nichts anderes als die in Fülle gelebte Liebe“. Das ist ein Anspruch, der sich auch im Alltag anstreben lässt und nicht gleich das Martyrium abverlangt. Wenn Heiligkeit also meint, das sittlich Gute zu tun, das in der Nachfolge Jesu besteht, dann will ich auch heilig sein und kann diesen Zustand vielleicht auch immer wieder einmal erreichen.

In so einem Moment würde ich dann auch schnell unter den Heiligenschein bei der Hedwigskathedrale in Berlin hüpfen, doch wissend, dass es eine Momentaufnahme ist. Heilige Momente lassen sich zwar anstreben, aber nicht festhalten, sie werden einem geschenkt – und manchmal bestimmen sie das ganze Leben. Dafür sind auch „heilige Orte“ wichtig. Für mich gibt es keine Stadt auf der Welt, die davon so viele hat wie die Rom.

Text: Alina Oehler

DR. MICHAEL KOCH

Deutscher Botschafter im Vatikan

Ihr heiliger Ort:
San Luigi dei Francesi

Herr Dr. Koch, warum haben Sie uns zu diesem Ort geführt?

Vor über 35 Jahren habe ich bei einem mehrwöchigen Rombesuch in dieser Kirche ein weltberühmtes Bild für mich selber entdeckt, von dem ich damals, als ganz junger Mensch, nichts wusste. Das Bild ist die Berufung des Heiligen Matthäus von Caravaggio, das in der Kirche San Luigi dei Francesi hängt. Und dieses Bild hat mich damals gleich im ersten Moment der Inaugenscheinnahme wie ein Blitz getroffen – wie seitdem kein anderes Gemälde. Der Titel sagt ja erschöpfend worum es geht. Die Berufung eines Menschen zum Dienst an Gott, die hier mit einer geradezu soghaften Wucht erfolgt, ausgedrückt in der scheinbar lässig hingestreckten Hand Jesu. Und noch heute geht es mir nicht anders, wenn ich dieses Bild sehe, das ich seitdem auf einer Postkarte immer auf meinem Schreibtisch stehen habe.

Was klingt bei Ihnen an, wenn Sie das Wort „heilig“ hören?

Der Begriff „heilig“ hat natürlich eine sehr komplexe Bedeutung, die auch abhängt von der Kultur, in der man sich bewegt und vielem anderen mehr. Für mich ist das Heilige das, was jenseits jeder zeitbedingten Zufälligkeit Sinn stiftet, unserem Leben Sinn gibt und daher eine besondere Achtung für sich einfordert. Diese Achtung ist letztlich dem Umstand geschuldet, dass wir im Heiligen jenem gegenübertreten, was uns die Welt im Innersten erklärt, was uns in ihr einen Platz gibt und eine Richtung für unser Leben.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Nach meinem Dafürhalten ist es geradezu ein Kern des Wesens von Heiligkeit, dass das, was heilig ist, von den Zufälligkeiten dieser oder jener Epoche, von allen Zeitempfindungen unabhängig ist. Insofern ist das Heilige stets zeitgemäß oder paradoxerweise auch nie zeitgemäß.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel, die wir ja auch als heilige Schrift bezeichnen. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

Diesem Appell zu entsprechen, ist freilich sehr schwer. Das wissen wir alle. Heiligkeit ist nichts, was abhängig von den Zeitläuften zu oder abnimmt. Es ist stets da. Die Herausforderung für uns als Menschen besteht darin, das Heilige zu erkennen, es zu entdecken unter all den zahllosen Nichtigkeiten, den kleinen und meistens nicht so sehr großen Dingen des Alltags. Und ich glaube, dass das immer schwierig war und immer schwierig sein wird. Verändert hat sich in der heutigen Gesellschaft die grundlegende Achtung, die man gegenüber dem Heiligen empfindet. Weil die Gesellschaft heute insgesamt viel skeptischer Versuchen gegenüber ist, in einem großen Wurf die Welt zu erklären. Und solche Skepsis finde ich auch nicht grundsätzlich falsch. Aber hat es das schwerer gemacht Heiliges zu erkennen oder ein heiligmäßiges Leben zu führen? Ich vermute eher nein.

DR. JOACHIM BLÜHER

Leiter der Villa Massimo

Ihr heiliger Ort:
Pantokrator Mosaik von Lorenzo Cosmati (San Tommaso in Formis)

Warum haben Sie uns zu diesem Ort geführt?

In Rom ist man zwangsläufig und mit großem Vergnügen ganz natürlich mit den Kirchen und der Kirche verbunden. Man muss nur genau schauen, um die Anbindung an unser Leben heute zu finden. Hier oben auf dem Celio, wo man normalerweise als Deutscher hundert Meter vorher stoppt, um nach Santo Stefano Rotondo zu gehen, bin ich weitergefahren und habe vor San Tommaso in Formis Christus als Weltenherrscher in einem Mosaik entdeckt. Es zeigt ihn, der einen Schwarzen und einen Weißen an dem Arm nimmt und sie von ihren Ketten befreien wird. Weil ich das so noch nie gesehen habe, wollte ich dem auf den Grund gehen.
Dieses Mosaik ist vom Beginn des dreizehnten Jahrhunderts und symbolisiert den Orden der Santissima Trinità e redenzione degli schiavi, also der Hl. Dreifaltigkeit und der Erlösung der Sklaven, gegründet vom französischen Mönch Jean de Matha, der auch zu einem Freund des Hl. Franziskus von Assisi wurde. Dieser Orden hatte nichts weniger im Sinn, als Menschen aus der Sklaverei zu befreien, was in sehr großer Zahl gelang. Das Mosaik zeigt also Jesus mit einem weißen und einem schwarzen Sklaven. Sie sind beide in Ketten und sie stehen beide auf gleicher Höhe. Sie sind vor Gott gleich, aber der Orden trägt Sorge, daß sie es auch auf der Erde sind. Das war 1200. Wenn wir uns heute in Europa umsehen, die Härte und Gefühlskälte vieler Menschen und Regierungen, dann wissen wir, wir sind in 800 Jahren nicht einen Schritt vorangekommen. Wir haben nichts gelernt und rühmen uns trotzdem unserer selbst!

Was klingt bei Ihnen an, wenn Sie das Wort „heilig“ hören?

Das Wort heilig klang für mich oft dogmatisch. Wenn man aber wie hier in Rom alle fünfzig Meter Anregungen erhält, dann fängt man an, doch über Heiligkeit und über sich selber nachzudenken. Heiliges ist das Gegenbild zum Alltag, mehr noch, es ist höher als unsere Existenz. Ich habe mich in meinem Leben erst langsam dem Heiligem angenähert und bin kurioserweise nach völliger persönlicher Absenz wieder zu ihm gelangt nach einem Besuch des Institutes für Nuklearphysik bei l’Aquila im Gran Sasso-Gebirge. Die Physiker dort führten mich bis an die Grenzen des Universums und des Wissens. Mir wurde klar, wie beschränkt und klein das ist, was mir als Mensch sinnlich und geistig zur Verfügung steht. Dass es also ein Jenseits im wahrsten Sinne des Wortes gibt und ich nicht einmal weiß, wie groß es ist und welcher Natur. Aber es hatte auf einmal einen Namen für mich: Gott. Und das Nichtwissen ist heilig.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Selbstverständlich. Heiligkeit ist grundsätzlich zeitgemäß. Es wäre wünschenswert, es würde wieder kulturell relevant werden. Aber das ist es nicht im Moment. Ich bedauere das.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel, die wir ja auch als heilige Schrift bezeichnen. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

Naja, gut. Wir müssen alles übersetzen. Zu lieben, was man tut, ist ein authentisches Leben. Und ich tue das offenbar. Von Heiligkeit aber weit und breit keine Spur. Ich würde auch nicht sagen, dass die Leute, die Menschenleben im Mittelmeer retten, heilig sind. Heilig hat für uns etwas Überkommenes, wenn ein „heiliges Leben“ so etwas wie „heldenhaftes Leben“ ist. Das gibt es nicht mehr. Wir können es nicht mehr sagen. Es gibt keine Helden und es gibt keine Heiligen mehr. Unsere Leben führen wir einfach anderes. Unsere Parameter sind andere. Heilig gibt uns einen Zugang. Aber heiliges Leben, ich glaube nein. Wie sehr haben wir Gott verloren, wie sehr die Demut!

Wo würden Sie sich mehr Heiligkeit in unserem Leben wünschen?

In jedem Punkt! Es wäre die Authentizität der Menschen in ihrem Tun. Ich meine damit zuerst, an das Wohlergehen der Anderen zu denken. Das ist die wirkliche Aufgabe, vor der jeder steht. Unsere Gesellschaft hat die biblische Botschaft und die christlichen Gebote formell übernommen. Aber wir tun herzlich wenig dafür, das auch zu erfüllen. Heilig bedeutet für mich Vorbild sein.

DR. MARIA GAZZETTI

Leiterin des Goethe-Hauses

Ihr heiliger Ort:
Via Giulia

Frau Gazzetti, warum haben Sie uns zu diesem Ort geführt?

Weil es meine Lieblingsstraße ist und ich hier eine bestimmte Stimmung beim Spazierengehen verspüre. Diese Straße repräsentiert für mich Glanz und Scheitern der Geschichte und sie ist voller Geschichten. Papst Julius II. della Rovere wollte aus der Straße ein wichtiges Verwaltungszentrum mit großen Palästen machen. Die Künstler Bramante und Borromini haben hier gebaut. Papst Leo X. versuchte dann aus der Straße ein Zentrum der Finanzen zu machen. All diese Pläne scheiterten aber. Später regte diese Straße die Fantasie von vielen Schriftstellern an wie Emile Zola, der hier seinen Roman „Rom“ geschrieben hat. Das Schöne an dieser Straße ist auch, dass sie Momente der Stille kennt. Selbst wenn Autos und Vespas hier durchfahren, zählt sie immer noch zu den ruhigeren Straßen Roms. Es geht von ihr eine Melancholie, aber auch eine besondere Diskretion aus. Die Türen und Tore der Häuser sind verschlossen, aber wenn man die Tore aufmacht, sieht man prachtvolle Gärten, die früher bis zum Tiber reichten. Weil die Straße oft überflutet wurde, errichtete man eine Mauer. Dadurch entsteht der Eindruck, als befände man sich hinter einem Deich. Es finden sich hier auch großartige Beispiele von Palästen aus der Renaissance, also aus einer Zeit bevor Rom durch den Barock das glanzvolle Rom wurde. Diese Paläste haben etwas Zurückgezogenes. Sie sind dunkel, nicht überrenoviert und auch nicht überbeleuchtet. Da bleibt die Zeit noch ein bisschen erhalten, auch wenn der Einzug von Hotels und B&B vor der Via Giulia nicht Halt macht. Via Giulia heißt übrigens nicht deshalb „Giulia“, weil sie einer Frau mit diesem Namen gewidmet ist. Sie heißt nach ihrem Erbauer Julius II. della Rovere. Durch diese Straße streunt gerne meine Seele. Und als Emblem für die Heiligkeit habe ich dieses Relief mit dem Skelett und mit der Inschrift ausgesucht: „Heute mir, morgen dir.“ Das Wandrelief ist für mich wie ein Symbol für den Glanz und das Scheitern der Via Giulia. Es könnte aber auch eine Guerilla-Plakatierung eines jungen Künstlers sein.

Was klingt bei Ihnen an, wenn Sie das Wort „heilig“ hören?

Heilig ist für mich eine Art ferner Klang oder eine Energie, die ich verspüre. Oder auch ein Sich-angezogen-Fühlen von einer Form geistiger Wirkung. Vor etwas Heiligem habe ich Respekt, ich kann es weder berühren noch verstehen, aber ich empfinde Empathie. Diese Steine in der Via Giulia sind für mich heilig – sie sprechen mich an und bewegen mich.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Mehr denn je. Wir leben in einer Zeit enormer technisch-wissenschaftlicher Umwälzungen. Das, was wir unter Menschlichkeit bislang immer verstanden haben, wird dadurch auch bedroht. Das Heilige ist nach meinem Verständnis ja so etwas wie Empathie mit dem Unbekannten, mit dem, was sich nicht gleich für mich aufschließt. Und somit auch eine Art Bewahren des Menschlichen in der Kunst und Literatur.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel, die wir ja auch als heilige Schrift bezeichnen. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

Nicht direkt durch die Bibel. Die Bibel ist natürlich auch Kunst. Ich persönlich fühle mich mehr durch die Kunst aufgefordert, das Heilige zu suchen. Es ist dieser Wunsch, diese Suche nach einem anderen Leben außerhalb der Grenzen meines Körpers. Ich habe aber nichts dagegen, wenn mich die Bibel dazu auffordert – auch wenn ihr Appell wahrscheinlich scheitern wird.

Wo würden Sie sich mehr Heiligkeit in unserem Leben wünschen?

Ich wünsche mir Menschen, die für ein höheres Ziel brennen und die nicht taub werden in unserer lauten Welt. Wir müssen wieder in die Stille hören. Ich glaube, dass wir dann viel reicher werden.

ALEXANDER HOLZBACH SAC

Chefredakteur Pallottis Werk

Ihr heiliger Ort:
San Salvatore in Onda

Pater Holzbach, warum haben Sie uns zu diesem Ort geführt?

Wir sind hier in der Kirche San Salvatore in Onda, der Grabeskirche des heiligen Vinzenz Pallotti. Ich war als Schüler 1972 zum ersten Mal in Rom und zum ersten Mal in dieser Kirche. Es war überhaupt die allererste Kirche, die ich in Rom gesehen habe. Damals war ich schon ein bisschen beeindruckt, weil ich am Überlegen war, Pallottiner zu werden. Da hat mich diese Kirche natürlich besonders angesprochen. Immer wenn ich nach Rom komme, führt mich mein erster Gang in diese Kirche, ich sage „guten Tag“, grüße den Heiligen und trage ihm meine Anliegen vor. Deshalb ist diese Kirche für mich ein ganz wichtiger Ort in Rom, der einfach zu meinem Leben gehört.

Was klingt bei Ihnen an, wenn Sie das Wort „heilig“ hören?

Ich denke als Priester natürlich sofort an die Heilige Messe und nicht so sehr an die Heiligung des Alltages, das muss ich offen zugeben. Denn im Alltag hat das Wort heilig ja eine eher unbestimmte Bedeutung oder spielt fast keine Rolle. In der Liturgie hingegen ist es ganz wichtig als Gesang der Engel bzw. der Gemeinde. Im Alltag muss ich mich immer selbst disziplinieren und sagen: „Ja, eigentlich willst du ein heiliges Leben führen.“ Und das heißt ein Leben in Verbindung mit Gott im Geist des Evangeliums. Das meint heilig. Ich gebrauche das Wort „heilig“ aber ganz wenig.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Es ist interessant, dass das Wort in letzter Zeit wiederkommt. Nicht nur im Raum der Kirche, sondern auch außerhalb. Manchmal liest man ja in der Zeitung: „Und was ist Ihnen heilig?“ Dann sagen die Leute alles Mögliche, wo wir als Christen manchmal schmunzeln oder auch nicht. Also, etwas, das von besonderer Bedeutung ist, das gilt als heilig. Für mich als gläubigen Menschen hat das Wort einfach etwas mit Gott zu tun. Die Engel im Himmel singen das Heilig. Und ich weiß aus der Bibel, dass letztlich allein Gott heilig ist. Das Wort bleibt aber gelinde gesagt schwierig und schwer zu vermitteln. Aber das, was es meint, ist bleibend gültig – seit der Zeit der Bibel: Dass wir eben nicht auf uns allein gestellt sind, sondern dass unser Leben etwas mit Gott zu tun hat und dass wir es nach ihm ausrichten und dabei einen Blick für die Mitmenschen haben. Wer so lebt, lebt heilig, auch wenn er es vielleicht gar nicht weiß oder das Wort dafür gar nicht gebraucht.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel, die wir ja auch als heilige Schrift bezeichnen. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

Sogar mehr als angesprochen, nämlich aufgefordert fühle ich mich. Wenn ich bete, wenn ich die Heilige Messe feiere, wenn ich in der Predigt verkündige oder in meiner Tätigkeit als Redakteur und Autor geht es ja immer um die Frage: „Wie lebe ich, dass mein Leben gelingt?“ Früher hätten die Leute gesagt: „Wie lebe ich, dass ich in den Himmel komme?“ Ich übersetze das heute oft mit: „Wie lebe ich, dass mein Leben gelingt?“ Dass ich aufrecht eines Tages aus diesem Leben gehen kann, ohne rot zu werden, wenn ich in den Spiegel gucke: das ist heiliges Leben. Also, ich fühle mich ständig davon angesprochen, im Sinne von einer Aufforderung. Lebe so, dass du vor Gott und mit Gott bestehen kannst. Das meint das Wort „heilig“. Und das meint die Aufforderung der Bibel zur Nachfolge Christi. Nachfolge Christi ist genau das: täglich zu versuchen, dieser Aufforderung mit tätigen und mit gefalteten Händen plus minus gerecht zu werden.

Wo würden Sie sich mehr Heiligkeit in unserem Leben wünschen?

Ich bin gerne Pallottiner und ich bin gerne Priester und hoffe, dass auch alles so einigermaßen okay ist, wie ich lebe. Aber ich bewundere oft Menschen, Mitbrüder oder Frauen und Männer, die eine große Familie haben und sich dennoch ungeheuer in der Gemeinde, in der Caritas, in der Politik oder anderswo einsetzen. Ich bewundere oft, wie viel verborgene Heiligkeit es heute gibt, wo Menschen einfach für Menschen da sind, wo Menschen sich für Ideale einsetzen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute so ernsthaft ihr Christsein leben. Dass mehr Leute sich in der Kirche, in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, im caritativen Bereich engagieren, egal in welchem Punkt. Denn wir brauchen in allen Lebensbereichen Leute, die ein Mehr tun. Dieses „etwas mehr“, dieses geräuschlose Einbringen der eigenen Gaben und Fähigkeiten ist gleich ein Schritt zur Heiligkeit.

BERND HAGENKORD SJ

Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Vatican News

Ihr heiliger Ort:
Gianicolo

Warum haben Sie uns zu diesem Ort geführt?

Es ist ein Alltagsort für mich in Rom, an dem ich häufiger vorbeikomme. Er liegt auch an meiner Joggingstrecke. Ich gehe gerne spazieren und gehe auch mal ab und zu früh am Morgen auf einen ersten Kaffee zum Sonnenaufgang hier herauf. Römerinnen und Römer und Kinder laufen herum. Es gibt ein Kinderkrankenhaus. Touristen kommen vorbei. Sehr viel Alltag. Eine Mischung aus allem Möglichen. Abgesehen davon hat man einen fantastischen Ausblick über Rom: ein einfach toller, lebhafter, normaler Ort.

Und wie bringen Sie diesen Ort mit „heilig“ in Verbindung?

Naja, heilig ist ja etwas, was ich im Alltag leben muss. Wenn ich mit heilig nicht klarkomme auf so einem Platz des Alltags, dann brauche ich auch in der Kirche gar nicht damit anzufangen. Also, nur in der Kirche über heilig reden und draußen dann einen Kaffee trinken bringt ja nichts. Ich muss es schon auch zumindest versuchen, im Alltag das mit dem heilig und mir in eins zu bringen. Von daher passt der Begriff heilig sehr gut hierher. Als Kind war heilig das, was auf den Säulen herumstand, in der Kirche, schön weit weg und damit auch relativ ungefährlich. Heilige waren irgendwie alte Gestalten. Meistens mit Bärten oder Folterwerkzeugen in der Hand. Damit habe ich nicht viel anfangen können, auch nicht mit ihren Geschichten. Die ganzen Heiligengeschichten haben mich als Kind nie so wirklich fasziniert. Der Begriff musste erst flüssiger werden. Er musste sich lockern. Wenn ich heute darüber nachdenke, ist heilig dann doch der Anspruch Gottes an mich und gleichzeitig auch ein Versprechen, dass er das schon macht, selbst kann ich es ja nicht produzieren. Ich kann mich ja selber nicht heilig machen. Das ist alles ein Geschenk Gottes. Und dem im Leben irgendwie zu entsprechen, das ist eben heilig zu sein. Im Grunde etwas ganz Alltägliches. Es ist ja etwas, das jeden Tag gelebt werden muss. Es gibt diesen wunderschönen Satz: „Jung sterben und heilig sein ist einfach.“ Schwierig ist es, alt zu werden und heilig zu bleiben. Also, das muss im ganzen Leben umgesetzt und gelebt werden. Das ist heilig heute – für mich. Daran knabbert ja jeder Christ, jede Christin quasi jeden Tag.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Wenn das mit Gott und dem Menschen irgendeine Rolle spielt, dann muss das auch heute eine Rolle spielen. Heilig ist ja nicht etwas, das heute nicht mehr passt. Wir würden heute vielleicht andere Begriffe finden. Aber, wenn man mal all diesen Unfug weglässt, dann sind das Heilige und die Heiligen, sehr zeitgemäß. Wenn ich sage: „Christen, das sind nicht nur wir, das sind auch alle, die vor uns gekommen sind“, von denen wir das, was wir glauben, empfangen haben, dann ist das sehr zeitgemäß und wird auch zeitgemäß bleiben.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

Die Bibel hilft dabei, auch wenn sie einem beim Lesen in dem Sinn auf den Nerv geht, weil sie dauernd Ansprüche an mich stellt. Und wenn ich wirklich regelmäßig in der Schrift lese, dann komme ich an diesem Anspruch nicht vorbei. Das sind Stolpersteine, über die ich nachdenken muss: „Was hat das jetzt mit dir zu tun, mit heute und – ja, ich weiß, du hast viel zu tun, du bist müde, aber trotzdem.“ Die Bibel hilft da sehr. Allen anderen Dingen kann man irgendwie so entgehen. Aber der Bibel nicht.

Wo würden Sie sich mehr Heiligkeit in unserem Leben wünschen?

Ich würde bei der katholischen Kirche anfangen. Wir durchleben nicht die einfachsten Zeiten. Viel von dem ist selbst verschuldet, über die Jahrzehnte hinweg. Und, was schlimm ist: das verhindert Heiligkeit, das verhindert das Wahrnehmen von Gottes Gegenwart bei uns. Weil sie sich abgestoßen fühlen und Kirche nicht mehr ein Zeugnis für den Glauben ist. Zu Recht muss man sagen, es sind große Fehler gemacht worden. Es sind Verbrechen passiert. Da würde ich mir ein bisschen Heiligkeit wünschen. Auch in dem Sinne, dass wir mehr darüber reden. Dass Gott mehr vorkommen kann. Nicht nur sonntags beim Gottesdienst in der Predigt, sondern auch im ganz normalen Miteinander. Denn, wenn man anfängt über Gott nachzudenken, dann wird das ziemlich schnell radikal. Und das hat Auswirkungen. Das ist eben nichts Frommes, sondern Gott hat Ansprüche an uns und hat die Fähigkeit, unser Leben umzukrempeln, wenn wir uns denn auf ihn einlassen. Da würde ich mir in seiner Kirche ein ordentliches Stück Heiligkeit wünschen.

DR. GEORG BÄTZING

Bischof von Limburg

Ihr heiliger Ort:
Santa Maria in Trastevere

Herr Bischof, was bedeutet Ihnen die Kirche Santa Maria in Trastevere?

Sie zählt zu meinen Lieblingsorten in Rom und ist für mich ein heiliger Ort. Die Mutter Gottes war für mich immer schon eine besondere Bezugsperson. An diesem Ort spüre ich einen ganz großen Bogen, der von der Vergangenheit bis heute reicht. Der Altar soll übrigens über einer Ölquelle errichtet worden sein, die schon vor Christi Geburt hier gesprudelt hat. Damals war die jüdische Gemeinde von Rom hier zuhause. Sie haben die Quelle als Zeichen gedeutet, dass die Zeit des Messias gekommen ist. Wir Christen glauben ja, dass das Gottesreich mit Jesus schon angebrochen ist. Heute ist die Kirche Santa Maria in Trastevere mit ihren wunderbaren Mosaiken Heimat der geistlichen Gemeinschaft Sant‘ Egidio, die sich hier jeden Abend zum Gebet trifft. Sant‘ Egidio tut sehr viel für die Armen Roms, aber auch für die vielen Armen in der Welt. Ich finde, das ist ein Ausdruck von Heiligkeit, ein heiliger Ort, der in die ganze Welt ausstrahlt.

Was klingt bei Ihnen an, wenn Sie das Wort „heilig“ hören?

Heilig stammt von seiner Grundbedeutung her aus dem Alten Testament: Gott allein ist heilig. „Kadosch“ ist der hebräische Begriff für das Heilige. Es ist etwas ganz Besonderes und Verehrungswürdiges. Das Heilige ist auch etwas Unverfügbares, das uns Menschen übersteigt, aber gleichzeitig auch anzieht und fasziniert.

Ist Heiligkeit noch zeitgemäß?

Absolut, auch wenn wir in einer sehr säkularen Welt leben. Unser Alltag, unsere Gespräche, unsere Beschäftigungen sind leider oft sehr profan. Heiligkeit erinnert mich daran, dass wir Menschen für Größeres bestimmt sind. Heiligkeit ist deshalb auch stets aktuell, weil damit die Frage gestellt ist, wem die Welt eigentlich gehört. Gehört sie einfach denen, die jetzt leben und sie zu ihrem Nutzen gebrauchen, oder gehört sie unserem Gott? Dann wird deutlich, dass wir eine große Verantwortung für diese Welt haben. In einer solchen Orientierung gewinnen wir Horizont und Weite. In diesem Sinne erfahre ich immer wieder, dass bei Menschen eine hohe Sensibilität für das Heilige vorhanden ist – für die Suche nach dem Heiligen in ihrem eigenen Leben und in der Welt insgesamt.

Der Appell, ein heiliges Leben zu führen, durchzieht die ganze Bibel. Fühlen Sie sich dadurch angesprochen?

In der Schrift heißt es immer wieder: Seid heilig, wie Gott, unser Herr, heilig ist. Ich deute das für mich so, dass ich die Verbindung zu Gott suchen soll. Mit Gott verbunden zu sein, ist für mich Heiligkeit. Wir entsprechen als Menschen dann unserem innersten Wesen: Gott hat uns geschaffen. Gott hat uns in diese Zeit gestellt, damit wir verantwortlich in ihr leben. Wir brauchen Orientierung im Leben: Was ist wahr, was ist falsch? Was ist gut, was ist böse? Was hat Zukunft? Wir müssen täglich Unterscheidungen treffen, wohin wir unsere Energie richten wollen, wofür wir einstehen wollen und wo gegen. In der Verbindung mit Gott, im Gebet, in der heiligen Schrift, in der Kirche, im Gespräch mit gläubigen Menschen finde ich Maßstäbe dafür, wie ich wirklich verantwortlich in dieser Welt leben kann.

Wo würden Sie sich mehr Heiligkeit in unserer Gesellschaft wünschen?

Ich glaube, dass nach wie vor viele Menschen die Verbindung zu Gott suchen. Viele Menschen stehen in dieser Welt und fühlen sich verantwortlich, auch wenn sie nicht an Gott glauben. Zu diesen Menschen guten Willens müssen wir im Sinne der Enzyklika zur Schöpfungsverantwortung von Papst Franziskus, „Laudato si“, Brücken schlagen. Ich wünsche mir einen Dialog über die großen Themen: Schutz des menschlichen Lebens, Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit für mehr Menschen. Da können wir ganz viel tun, denn es liegt vieles in der Welt im Argen.

Zur Person

Matthias Cameran ist Referent für Religionspädagogik in der Primarstufe im Dezernat Schule und Bildung des Bischöflichen Ordinariats.

Eulenfisch 02_2018