Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
.

»Wofür du leben kannst, und groß genug, um dafür zu sterben«

Vom Mut und der Demut des Widerstands

Gegenwart und Geschichte des Widerstands

Nicht selten wird einem publikumswirksam vorgetragenen
Protest, einer rechtlich erlaubten Demonstration,
einer engagierten Äußerung des Ungenügens der
Stempel des Widerstands aufgedrückt. Aktuelle Publikationen
oder politische Bewegungen der Gegenwart
rufen zum Widerstand auf oder präsentieren Ikonen
eines vermeintlich wieder notwendigen Widerstands
gegen ein erstarrtes „System" – so, als seien alle anderen
Möglichkeiten, eine Gegenposition zu artikulieren
oder gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen,
erschöpft. Ein solch weiter Gebrauch von „Widerstand"
ist nicht unproblematisch. Denn er lässt
den Unterschied zwischen Kritik und Widerstand, ja,
selbst zwischen freier Meinungsäußerung und widerständigem
Handeln verschwinden. Widerstand wird
dadurch zu etwas fast Trivialem, einer Tätigkeit, der
man routiniert – etwa an einem Freitagvormittag –
nachgehen kann.

Begriffliche Präzisierungen scheinen notwendig.
Denn man tut mit einem zu allgemeinen Widerstandsbegriff
den Menschen Unrecht, für die der Gang in den
Widerstand eine zutiefst risikoreiche Ultima Ratio war
und ist – etwa jenen, die im Dritten Reich zum Widerstand
gehörten und zu Widerstandskämpfern wurden.
Während viele von ihnen lange noch nach 1945 als Verräter
galten, dienen sie heute aufgrund ihres
Widerstands als leuchtende, oft immer noch
kontrovers diskutierte Vorbilder: die Männer
des 20. Juli, die jungen Leute der „Weißen
Rose" oder andere, heute weniger bekannte
Heldinnen und Helden, die in ganz alltäglichen,
heute vergessenen Situationen den
Mut zu widerstehen fanden.

Nicht alle, so zeigen diese Widerständler,
haben mitgemacht. Es gab Menschen, die
innerlich mit der nationalsozialistischen
Diktatur nicht einverstanden waren und die
den Weg einer inneren Emigration gegangen
sind. Aber es gab auch andere, die ihre Unzufriedenheit,
ihren Ärger, ja, ihr Entsetzen
und ihre Scham für das, was geschah, gezeigt
haben und aktiv etwas unternommen haben,
um dem Unrecht und der Unmenschlichkeit
des Regimes ein Ende zu bereiten. Dafür haben
sie nicht selten mit ihrem Leben bezahlt.
Diese Menschen zeigen, dass man nicht alles,
was geboten ist oder zum persönlichen
Vorteil dient, auch tun muss, dass man sich
entziehen und „Nein" sagen kann, wo alle
anderen begeistert jubeln, dass es Grenzen
gibt, die man nicht, unter keinen Umständen
überschreitet und dass Worte wie Ehre,
Anstand oder Gewissen einen ganz anderen
Sinn haben, als die lügnerischen Sprachverdrehungen
der Machthaber nahelegten.

Auch in anderen totalitären Systemen wurde Widerstand
geleistet: in Francos Spanien, in Stalins Sowjetunion
oder in Mussolinis Italien. In Ländern, in
denen die Freiheit des Menschen beschränkt ist, gibt
es auch heute noch Widerständler. Man muss nur nach
Hongkong oder Nordkorea schauen, um zu verstehen,
dass „Widerstand" seine Bedeutung nicht verloren
hat. Das Ende der Geschichte, in der alle Menschen
in liberalen Gesellschaften friedlich zusammenleben,
ist eine Utopie. Die Gefährdungen der Freiheit bleiben
nicht nur Realität, sie nehmen weltweit zu. Allerdings
muss man gar nicht so weit in die Ferne schweifen.
Ein zweiter, hinter die verbreitete Trivialisierung des
Widerstands schauender Blick zeigt, dass die westliche
Welt heute noch Menschen kennt, die den Mut
aufbringen, wirklichen Widerstand zu leisten, und die
dafür auch die Konsequenzen zu tragen bereit sind.
Jüngst hat Edward Snowden „seine Geschichte" veröffentlicht,
die vor Augen führt, dass es im liberalen
Westen mutiger Menschen bedarf, die um einer guten
Sache willen gegen ihre primären Interessen, gegen
ihre Sehnsucht nach einem ruhigen, beschaulichen
Leben oder nach unmittelbarer gesellschaftlicher Anerkennung
handeln.

Der Widerstand setzt eine unüberwindliche Differenz
voraus, nicht einen Gegner, mit dem man handeln,
verhandeln und einen Kompromiss schließen
kann, sondern einen Feind, mit dem man keinen Dialog
mehr führen kann und den man nicht einfach mit
etablierten Mitteln kritisieren kann. Im Widerstand
zeigt sich die radikalste Form des Antagonismus.
Widerstand ist gerade aus diesem Grunde etwas anderes
als ein Einspruch oder eine kritische Haltung;
er reicht tiefer als der zivile Ungehorsam, der eine
bürgerliche Ordnung und damit die Möglichkeit ordentlicher
Verfahren voraussetzt. Wo Widerstand geübt
wird, gibt es keine geordneten Verfahren des Protestes
mehr. Im Widerstand zeigt sich die Ausnahme
von der Ordnung, der Bruch der Konventionen, das
Ende der Bemühungen um Konsens. Der Kritiker wird
im Widerstand zum Dissidenten.

Im demokratischen Rechtsstaat gibt es in der Regel
andere Formen, einer abweichenden Meinung
Gehör zu verschaffen oder den Status quo zu verändern.
Doch lässt sich, wie das Beispiel von Edward
Snowden eindrücklich zeigt, nicht ausschließen, dass
eine tiefgreifende Krise des liberalen Rechtsstaates
dazu führen kann, dass Widerstand wieder notwendig
wird. Wenn dieser illiberale Tendenzen zeigt, seine
Ideale verrät und die Freiheit des einzelnen und seine
Würde in Frage stellt, kann der zivile Ungehorsam zu
einem Akt des Widerstands werden.

Wirklichkeit und Überzeugung des Widerstands

Man kann und darf den Widerstand nicht darauf reduzieren,
dass jemand gegen etwas ist. Es ist nämlich
möglich, aus vielen Gründen gegen etwas zu sein.
Manchmal ist es Faulheit, ein anderes Mal Trotz, der
dazu führt, dass man sich gegen etwas stellt. Es gibt
die blinde Zerstörungswut, die Freude an der Erschütterung
der Fundamente, auf denen man zusammen
mit anderen Menschen steht, oder die Lust am Untergang,
die Aufregung verspricht, wo sonst nur gelangweilte
Routine und Langeweile herrschen. Wer diese
Widerständigkeit – manchmal eher pubertär akzentuiert,
ein anderes Mal in nihilistischer oder misanthropischer
Prägung – erklären will, bedarf zumeist
der Psychologie. Vielleicht geht es bei vielem, was wie
Widerstand aussieht, auch gar nicht darum, dass man
gegen etwas ist, sondern um das eigene Selbst: Indem
man sich radikal einer Sache entgegensetzt, definiert
man sich und findet Identität. Ein solcher Widerstand
ist kein echter, sondern nur ein scheinbarer Widerstand,
dem es in der Opposition allein um Selbstbehauptung,
ja, um Selbststeigerung geht. Hier findet in
der oft radikalen Negation der Wille zum Ich die ihm
notwendig erscheinende Bestätigung.

Wirklicher Widerstand hingegen hat immer ein
positives, nicht vom Willen zur bloßen Selbstbestätigung
bestimmtes Element. Es geht ihm um etwas,
und zwar um nichts Beliebiges, sondern um das Wichtigste.
Denn Widerstand bewegt sich nicht im Umkreis
vorletzter Fragen; er vollzieht sich angesichts dessen,
was die allerhöchste Bedeutung für einen Menschen
hat, was ihm heilig ist und Sinn schenkt. So setzt er
Überzeugungen voraus, nicht einfach Meinungen oder
Geschmacksurteile, sondern Standpunkte, Positionen,
die man nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben
und zu verraten, die absolut gelten, unabhängig
von Einschränkungen oder Bedingungen, und die in Anspruch nehmen, ohne dass man sich dieses Anspruches entziehen
könnte. Aus diesem Grunde dürfte der wirkliche Widerstand heute
schwerer als in früheren Zeiten fallen und seltener sein. Denn die Gegenwart
stellt wirkliche, nicht verhandelbare Überzeugungen oft unter
einen Generalverdacht. Menschen, die Überzeugungen haben, die sich
nicht relativieren möchten und für die sie sogar dann eintreten, wenn
damit Nachteile verbunden sind, wirken wie Fremdkörper in einer Welt,
in der die Maximierung individueller Vorteile im Vordergrund steht. Widerstand
verträgt sich nicht mit einer Logik der Selbstoptimierung. Er
entstammt der Logik eines anderen Selbstverhältnisses, einer Sorge um
das Selbst, die darum weiß, dass der Zweck und die Würde menschlicher
Existenz nicht in seinem äußeren Erfolg oder im bloßen physischen
Überleben liegen. Manchmal liegt sie in einem einfachen, aber so schwierigen und folgenreichen Bekenntnis: „Auch wenn alle anderen, ich nicht" (vgl. hierzu auch Mk 14,29).

»Wo Widerstand geübt wird, gibt es keine
geordneten Verfahren des Protestes mehr«

Holger Zaborowski

So gibt es Menschen, die, ohne dass sie dies je geplant hätten, zu Widerständlern
wurden, da sie zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr
„Ja" sagen oder sich enthalten konnten. Sie wollten nichts riskieren. Sie
wollten keine Heldinnen oder Helden sein oder ihr Leben aufs Spiel setzen.
Sie mussten einfach so handeln, wie sie dann gehandelt haben. Sie
haben die Folgen ihres Tuns ertragen. Sie hätten nichts dagegen gehabt,
wenn es gar nicht zum Äußersten gekommen wäre. Das war ihnen nicht
mehr möglich. Sie kannten – in den Worten des ehemaligen UN-Generalsekretärs
Dag Hammerskjöld – noch etwas, „wofür du leben kannst, und
groß genug, um dafür zu sterben" (Dag Hammarskjöld, 80). Und dies war
kein ihnen äußerlich bleibendes Wissen, keine abstrakte Idee, keine lebensferne
Theorie. Es war ein Wissen, das ihre Identität bestimmte – und
ihr Handeln. Wer sie waren, zeigte sich in diesem Wissen, diesen Überzeugungen.
Sie gingen daher in den Widerstand, um sich selbst treu zu
bleiben. Das ist etwas ganz anderes, als widerständig gegen etwas – was
immer es sei – zu sein, um sich selbst zu bestätigen.

Derart mächtige Überzeugungen zu haben, wird schnell unter Fundamentalismusverdacht
gestellt. Es wird als verbohrt oder engstirnig
gedeutet, als Zeichen falscher Präferenzsetzungen oder als Frucht verbohrter
Ideologisierungen. In der Tat gibt es einen solchen fanatischen
Widerstand, dem nicht die Überzeugungen fehlen, der aber unter dem
Vorzeichen falscher Überzeugungen steht, denen aus unmenschlichen Gründen mit unmenschlichen Mitteln Folge geleistet
wird. Es ist der Widerstand der Terroristen. Von ihm
ist der Widerstand der Menschlichkeit zu unterscheiden.
Doch was genau trennt menschlichen von terroristischem
Widerstand?

Freiheit und Wahrheit des Widerstands

Der Terrorist ist befangen, er handelt aus dem Zwang
einer Ideologie heraus. Er dient nicht dem Guten, sondern
dem Bösen; er befreit nicht, sondern verknechtet;
er führt in die Irre und verweigert sich der Wahrheit.
Der Widerstand der Menschlichkeit erwächst
zwar aus der Gefahr. Niemand geht freiwillig in den
Widerstand. Es sind äußere Zwänge, Situationen, in
denen man sich lieber nicht finden würde, die zum
Widerstand führen. Doch wo alle anderen mit- und
einer Führergestalt oder mächtigen Ideologie nachlaufen,
drehen die Widerständler der Menschlichkeit
sich in Freiheit um und bewegen sich gegen den Strom
– nicht um des Protestes willen, sondern weil sie noch
Prinzipien haben, welche die verblendete, der Macht
erlegene Masse oft längst vergessen hat – wenn sie
denn je ihrer inne gewesen ist. Wo Widerstand nicht
aus Freiheit und um der Freiheit willen geschieht,
dient er nicht dem Menschen und wird unmenschlich.
Diese Freiheit darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt
werden. Ihr geht es um das Gute, um das, was menschlich
ist und dem Menschen dient. Sie ist bezogen auf
eine Verantwortung – und zwar nicht nur für die eigene
Ehre und Würde, sondern für den anderen, den
Mitmenschen oder in selteneren Fällen auch für die
Natur. Sehr oft ist eine Quelle widerständigen Handelns
auch die Verantwortung vor Gott, dafür also,
dass ihm, wo ansonsten Blasphemie herrscht oder
sein Name vergessen wird, Ehre getan wird.

Der echte, menschliche Widerstand entspringt
nicht nur der Freiheit; er führt auch zur Freiheit.
Denn ein Widerständler kann, gerade wenn sein Widerstand
gescheitert ist und er im Gefängnis sitzt
und vielleicht sogar auf seinen Tod wartet, zu einer
inneren Freiheit finden, die ihm zeigt, wie richtig das
war, was er getan hat. In äußerer Unfreiheit kann sich
die innere Freiheit bewähren. Nelson Mandela gewann
im Gefängnis eine Stärke und eine Kraft, die ihn
freier sein ließ als viele seiner Zeitgenossen. Wer die
Gefängnisbriefe von Dietrich Bonhoeffer liest, wird
schwerlich zu dem Schluss kommen, dieser Theologe
und Märtyrer sei in seinen letzten Lebensmonaten
unfrei gewesen. Ähnlich gewann Richard Henkes in
seiner letzten Lebensphase eine Entschiedenheit, die zeigt, dass ein von außen kommender Zwang
den freien Willen eines Menschen nicht brechen
muss.

Wirkliche Überzeugungen verweisen
nicht nur auf die Freiheit eines Menschen,
der, um überhaupt Überzeugungen haben zu
können, sich frei zu ihnen bekennen muss.
In ihnen eröffnet sich auch ein Wahrheitsanspruch.
Wer eine Überzeugung hat, weiß,
dass diese ihm nicht allein gehört. Das Dritte
Reich war nicht nur für Hans und Sophie
Scholl falsch. Sie haben in ihren Flugblättern
nicht allein ein subjektives Ungenügen
oder eine beliebige Meinung zur Sprache
gebracht. Sie wurden genau deshalb zu Beispielen
eines guten Lebens, weil sie sich für
etwas einsetzten, das für alle Menschen Gültigkeit
beanspruchen kann. Ihr von außen so
aussichtsloser Kampf diente der Wahrheit.
Der Widerstand ist aus diesem Grund auch
ein Gewissensphänomen: Tief im Inneren
des Menschen, in seinem Gewissen meldet sich eine Überzeugung, deren Wahrheit
nicht geleugnet werden kann und die zum
Zeugnis und zum Handeln aufruft. Diesen
Ruf zu erfahren und ihm entsprechend zu
handeln, macht einsam. Wer in den Widerstand
geht, wird manchmal nur wenige Menschen
finden, die seinen Weg mitgehen und
mit ihm eine verschworene Gemeinschaft
bilden. In nicht wenigen Fällen wird er ganz
alleine bleiben – ein dem Ruf der Wahrheit
verpflichteter Rufer in der Wüste.

»Die Menschen des
Widerstands waren Zeugen
einer Wahrheit«

Holger Zaborowski

Dieser Ruf – der Wahrheit und des Rufers
zur Wahrheit – wird oft überhört. Es ist ja
nicht so, dass im Dritten Reich nicht vielen
Menschen die Unmenschlichkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft vor Augen gestanden
hätte. Jedoch haben die meisten dieses Wissen,
die Einsicht in die vielen Verletzungen elementarer
Menschlichkeit, das Bewusstsein um die alltägliche
und doch so außerordentliche Barbarei verdrängt,
weil gerade dies ihnen Nutzen versprach, weil es so
einfacher war zu überleben, oder weil sie sich nur zu
gerne verführen ließen. Sie lebten ein Leben der Lüge.
Die Menschen des Widerstands waren hingegen Zeugen
einer Wahrheit, die alles andere als abstrakt oder
lebensfern war. Denn wo sie diese Wahrheit verletzt
sahen, bezeugten sie die Wahrheit mit ihrem eigenen
Leben: in einem ehrlichen Wort, wo die Unwahrheit
herrschte; im Einsatz für Gerechtigkeit, wo diese mit
Füßen getreten wurde; in der Tat der Liebe, wo Hass
regierte. In ihrem Tun nahm die Wahrheit ein Gesicht
an. Sie wurde konkret und zu einem Stachel für alle
Menschen, die ähnlich handeln, ja, ähnlich leben
sollten.

Aus diesem Grund sollten wir – die Nachgeborenen
– die Erinnerung an die großen und kleinen, die
bekannten und die unbekannten, die heiliggesprochenen
und die vergessenen Widerstandskämpfer der
Geschichte bewahren. Weil es sie gab, führt der Blick
zurück in die Geschichte, der Blick auf das Unheil, das
die Jahrhunderte versammelt haben, nicht nur zu Verzweiflung
und Resignation. Sie sind vorbildliche Menschen,
Gerechte, von denen ein einzelner nur die Ehre
der gesamten Menschheit retten kann.

Würde und Demut des Widerstands

Die Ernsthaftigkeit einer Überzeugung zeigt sich
darin, welche negativen Konsequenzen man in Kauf
nimmt, um dieser Überzeugung und somit sich selbst
treu zu bleiben. Widerstand setzt die Bereitschaft
zum Opfer voraus. Dies klingt zunächst altmodisch
– wie ja auch dem Wort „Widerstand" eine gewisse
Altertümlichkeit zueigen ist. Und es klingt fragwürdig.
Denn zu viele Menschen haben Opfer für falsche
Ziele gebracht, zu oft wurden sinnlos Menschen auf
dem Altar der Geschichte, einer Religion oder Weltanschauung
geopfert, als dass diesem Wort keine Ambivalenz
zueigen wäre. Doch kann man nicht auf das
Wort – und die Sache – des Opfers verzichten, wenn es
darum geht, den Widerstand zu verstehen. Denn dieser schließt Nachteile – bis zum eigenen Tod – ein. Zwar
darf man den eigenen Tod nicht leichtfertig suchen.
Auch der Widerstand bedarf des Respekts vor dem
Leben. Doch ist für den Menschen das höchste Gut
nie das bloße Leben. Wer Widerstand leistet, bekennt
sich zu einer anderen Ordnung, welche die Ebene der
bloßen Existenzsicherung oder des leiblichen Lustgewinns
übersteigt. Dies ist das Bekenntnis zu einem
das eigene Leben übersteigenden höchsten Gut. Für
Christen liegt dieses höchste Gut darin, Gott zu verehren,
seinen Willen zu tun und ihn und den Nächsten
zu lieben. Nicht nur in christlichen, sondern auch in
anderen Kontexten wird diese Ordnung erkannt und
anerkannt: Sokrates sah die Aufgabe des Menschen
darin, „dass die Seele möglichst gut werde“. Wie er
durch sein eigenes widerständiges Leben gezeigt hat,
konnte dies bedeuten, die über ihn verhängte Todesstrafe
anzunehmen, obwohl es für ihn die Möglichkeit
der Flucht gegeben hätte.

»Man kann nicht auf das Wort
Opfer verzichten, wenn es
darum geht, den
Widerstand zu verstehen«

Holger Zaborowski

Manchmal ist es eine Frage der Ehre, dem Unmenschlichen
zu widerstehen, oder der Widerstand
ist eine Sache der Pflicht, unter die man sich gestellt
erfährt. Und in nicht wenigen Fällen geht es darum,
aus bloßer Menschlichkeit ein Zeichen zu setzen. Wie
immer man die Motive für den Widerstand deutet,
immer erfährt man ein Sollen, das einen unbedingten
Anspruch hat. Der Mensch zeigt sich in seiner Freiheit
als ein moralisches Wesen. Darin liegt letztlich die
Wurzel der Menschenwürde. Diese Würde kann einem
kein Mensch – kein Richter, der dem Unrecht dient,
kein Henker, der blind Befehlen folgt, kein Journalist,
der der Lüge das Wort spricht – nehmen.

Man kann die Würde aber durch eigenes Denken
und Handeln verraten und verletzen. Das ist oft leichter,
als seine Würde zu bewahren. Denn Widerstand,
wo er wirklich nötig wird, setzt Mut voraus. Zu groß sind die Versuchungen, moralische Prinzipien nicht
anzuerkennen oder gleichgültig dabei zuzusehen,
wie Grenzen der Menschlichkeit überschritten werden
und dadurch die Würde des Menschen verletzt
wird. Die mutige und zugleich demütige Anerkennung
dieser Grenzen ist jedoch für ein menschliches
Miteinander unverzichtbar. Demut ist sogar eine Voraussetzung
für wirklichen Widerstand. Denn dieser
anerkennt nicht nur eine Ordnung, die den Menschen
überschreitet und in Anspruch nimmt. Er fügt sich
letztlich auch dem Schicksal, den unveränderlichen
Herausforderungen seiner Zeit, ohne dabei fatalistisch
zu werden. „Ich glaube", so Dietrich Bonhoeffer
im Februar 1944, während er auf seinen Prozess
wartete, „wir müssen das Große und Eigene wirklich
unternehmen und doch zugleich das selbstverständlich
und allgemein Notwendige tun, wir müssen dem
‚Schicksal' – ich finde das Neutrum dieses Begriffes
wichtig – ebenso entschlossen entgegentreten wie uns
ihm zu jeder gegebenen Zeit unterwerfen." Die „Grenzen
zwischen Widerstand und Ergebung", so Bonhoeffer
weiter, „sind also prinzipiell nicht zu bestimmen;
aber es muss beides da sein und beides mit Entschlossenheit
ergriffen werden." (Bonhoeffer, 333f.)

Widerstand und Ergebung mutig und demütig zugleich
zu ergreifen, setzt eine enorme menschliche
Stärke voraus. Daher werden es immer nur wenige
Menschen sein, die in den Widerstand gehen. Viele von
ihnen mag man von außen gar nicht als Widerständler
erkennen. Sie müssen im Geheimen wirken. Andere
werden ihren Widerstand offen ausüben und viele
andere Menschen begeistern und dazu bewegen, sich
dem Widerstand anzuschließen. Nicht wenige werden
vielleicht gar nicht wissen, wie widerständig sie sind.
Sie tun einfach, ganz demütig und dennoch voller Mut,
was ihnen geboten und anständig erscheint. Dadurch
bleiben sie selbst anständig. Das ist nicht wenig. Wer
nach schwierigen, die moralischen Maßstäbe pervertierenden
Zeiten behaupten kann, er sei anständig geblieben,
hat Achtung und Lob verdient. Und solange es
Menschen gibt, die anständig bleiben, gibt es keinen
Grund, die Hoffnung auf die Zukunft zu verlieren.