Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Demut im Widerstand

Eine jüdische Perspektive

Bisweilen haben die Dinge eine eigene
Logik. So fiel dem Verfasser beim
Abfassen seiner Überlegungen das
Herbstheft 2019 der „Zeitschrift für Ideengeschichte“
auf, das ausgerechnet dem Thema
„Widerstand“ gewidmet ist und in dem
aus der Feder der Philosophin Petra Gehring
(auf Seite 4) zu lesen ist: „Widerstand ist ein
strapazierter, überforderter Begriff [... ]. Widerstand
ist ein Begriff, der nach Hammer
und Marmor schreit, und wer versucht, ihn
historisch dingfest zu machen, dem läuft er
wie Suppe durch die Finger.“

Worum also kann, worum soll es beim gestellten
Thema gehen? Um Demut beim Widerstand
oder – ein ganz anderes Thema –
um Widerstand in der Demut. Im Folgenden
wird es hauptsächlich um Demut in und
beim Widerstand gehen. Das Gegenteil von
Demut jedenfalls ist Hochmut und dagegen
forderten schon die Propheten Israels zum
Widerstand auf.

Biblische Überlieferung

Die Propheten des Alten Israel, Jesaja, Jeremia,
Hesekiel und Micha, ja sogar der Psalmist
priesen die Demut und kritisierten jede
Form von Hochmut – vor allem von Herrschern,
die sich in blasphemischer Weise
selbst vergotteten: etwa bei Jesaja 10,13
und 57,15, bei Jeremia 9,22, bei Ezechiel
28,2 und schließlich am deutlichsten beim
Psalmisten: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist
ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes
und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht
verachten.“ (Ps 51,19). In Ps 22,7 ist zu lesen:
„Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
der Leute Spott und verachtet vom Volk.“

Rabbinisches Judentum

Freilich – darauf ist immer wieder hinzuweisen
– ist der Glaube des Alten Israel nicht
mit dem Judentum identisch, sondern „nur“
der wesentliche seiner Quellströme. Das in
der späten Antike entstandene rabbinische
Judentum äußerte sich – etwa in den „Sprüchen
der Väter“ – zur Demut so: „Des Azzai
Sohn sagte: Befolg auch ein leichtes Gebot
und flieh die Sünde! Die eine Gebotserfüllung
zieht die andere nach sich und die
eine Sünde die andere. Der Lohn für die Gebotserfüllung
ist weitere Gebotserfüllung,
und der Lohn der Sünde ist weitere Sünde.
Derselbe sagte: Verachte keinen Menschen
und halt nichts für unmöglich! Denn jeder
Mensch hat seine Zeit und jedes Ding seine
Stelle. Rabbi Levitas aus Jabne sagte: Sei
sehr demütig! Der Menschen Erwartung ist
ja das Gewürm.“ (Sprüche der Väter 2-4)

In gewisser Weise stand auch der deutlich
früher lehrende Bergprediger in dieser
biblisch-prophetisch geprägten Tradition:
„Der Größte unter Euch“, so Jesus von Nazareth,
„soll Euer Diener sein. Denn wer sich
selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer
sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.“ (Mt
23,11f)

Die Tugend der Demut

Aber was ist überhaupt Demut? Eine Tugend!
Die seit der Antike als solche ausgewiesene
Tugend der Demut konnte überhaupt erst
entstehen, als mit dem Gedanken eines einzigen,
übermächtigen, allgerechten, allwissenden
und wohl auch allgütigen Gottes
eine Art absoluten Vergleichsmaßstabs für
jedes menschliche Handeln entstand – ein Maßstab, vor dem jedes menschliche Handeln letztlich
nichtig wurde. Sich demütig zu verhalten war
jetzt keine Frage kluger Abwägung bezüglich der eigenen
Glücksmöglichkeiten mehr, sondern eine Frage
des unbedingten Gehorsams gegenüber Gott, und damit
die Frage nach dem Alles oder Nichts des eigenen
Seelenheils.

Exkurs zu Augustinus

Diesen Gedanken – und hier ist der Bereich des Judentums
zunächst zu verlassen – hat der im vierten
Jahrhundert lebende Kirchenvater Augustinus entfaltet,
in dessen Spuren später der Protestantismus, namentlich
Luther, die Lehre von der absoluten, durch
keinerlei eigene Taten beeinflussbare Gnadenabhängigkeit
geprägt hat. Augustinus verkündigte seinen
Heiland Jesus als Christus und als „doctor humilitatis“,
als jenen Gottmenschen also, der in der absoluten
Unterordnung unter Gottes Willen – bis zum
qualvollen Tod am Kreuz – demütig war und damit
der Menschheit die Erlösung brachte. Demütig ist,
wer dem Willen, gelobt zu werden, und das heißt jeder
Form der „Superbia“, des Stolzes oder des Hochmuts,
widersteht. Der Kirchenvater, der in seinen „Bekenntnissen“
erzählt hat, wie er selbst einen einschneidenden
Bruch in seinem Leben erfahren hat, der ihm
die Gabe demütigen Glaubens ermöglicht hat, hat der
„Superbia“ indessen mehr Aufmerksamkeit gewidmet
als ihrem schlichten Gegenteil, der Demut: Hochmut ist Streben nach falscher Hoheit, ein Laster, dem jeder
verfällt, der sich selbst zu sehr vertraut und sich
selbst zur Mitte seines Lebens macht; vor allem aber
missachtet der Hochmut die göttliche Schöpfungsordnung
und stärkt Haltungen, die dazu führen, dass
das Herz herabgezogen wird. Demgegenüber erbaut
Demut das Herz, sie ist „aliquid, quod sursum faciat
cor.“ (De civitate dei, XIV, p. 13)

»In der jüdischen Überlieferung sind Widerstand
und Demut vor allem mit der Erfahrung
des bezeugenden Martyriums verbunden«

Micha Brumlik

Im Wechselspiel von Stolz und Demut eröffnet sich
für Augustinus nicht nur das Spannungsverhältnis
von Gott und Menschen, sondern auch die prekäre
Balance zwischen den Menschen.

Kiddush ha Shem

In der jüdischen Überlieferung freilich sind Widerstand
und Demut vor allem mit der Erfahrung des
bezeugenden Martyriums verbunden – mit dem „Kiddush
ha Shem“, der „Heiligung des Namens“. Als halachische
Belegstelle für die Praxis des „Kiddusch ha
Schem“ gilt vor allem der babylonische Talmud, Traktat
Berachot 20 a, gemäß derer ein Rab sagte: „Die
Früheren haben für die Heiligung des Namens ihr
Leben eingesetzt, wir aber setzen unser Leben des
Namens nicht ein.“ Dem ist zumindest zu entnehmen,
dass die später geübte Praxis des kollektiven Suizids
bzw. der Bereitschaft, sich für den Glauben umbringen
zu lassen, keine unumstrittene rabbinische Vorgabe
war. Rettung des Lebens hatte allemal Vorrang,
denn: Schon Rabbi Akiba erklärte im frühen zweiten
Jahrhundert, dass der Respekt des Menschen vor dem
Menschen in dem Ausmaß wuchs, indem er erkannte,
dass er und seinesgleichen von Gott geschaffen wurden. Das damit implizierte Prinzip einer universalistisch
gefassten Gleichheit aller Menschen findet
sich – wenn auch in narrativer Form – bereits in der
Mischna, nach jüdischer Überlieferung der mündlich
überlieferten Tora vom Sinai – die verschriftet seit
dem zweiten Jahrhundert der Zeitrechnung
bekannt ist: „Also ward der
Mensch als einzelnes Individuum geschaffen
und, um des Friedens unter
den Menschen willen, sollte niemand
zu seinem Genossen sagen: Mein Vater
war größer als deiner und zugleich
die Größe Gottes, gesegnet sei er, aufrufen,
denn: wenn ein Mann viele Münzen mit einem
Prägestock prägt, so sind doch alle Münzen gleich –
aber der König der Könige prägte jeden Menschen mit
dem Prägestock des ersten Menschen und (dennoch)
ist keiner mit seinem Genossen identisch. Und daher
ist es die Pflicht eines jeden Menschen, zu beten (zu
sagen): Um meinetwillen wurde die Welt erschaffen.“

Es ist diese – jawohl: demütige – Anerkenntnis
der Größe Gottes, die so zur Einsicht in die Gleichheit
der Menschen, zu ihrer Würde führt. Dass damit
vergleichsweise früh, wenn auch nur narrativ gefasste
Prinzip der Heiligkeit der Individualität und
damit eines jeden Individuums hat sich zugleich in einer Reihe moralischer Imperative niedergeschlagen
– wiederum war es zu Beginn
des zweiten Jahrhunderts Rabbi Akiba, der
die wesentlichen Stichworte lieferte: „Der
Mensch ist geliebt, denn er war in Gottes
Antlitz geschaffen.“ Die Weisen Israels
setzten demnach auf ein strikt individualisiertes,
moralisches Handeln, das dem einzelnen
menschliches Leben rettenden Individuum
zugleich das Verdienst anrechnet,
die Schöpfung im Ganzen gerettet zu haben,
so jedenfalls die Mischna: „Jede, der einen
einzelnen Menschen rettet, wird es so angerechnet,
als ob er die ganze Schöpfung gerettet
habe.“

Folgt daraus umgekehrt, dass, wer ein
einzelnes menschliches Leben zerstört, auch
im Grundsatz die Schöpfung zerstört? Zu
solcher Radikalität waren die stets realistisch
und pragmatisch denkenden Rabbanim
nicht bereit. Anders als der rigorose
Bergprediger befürworteten sie genau aus
dem Prinzip der Heiligkeit eines einzelnen
Lebens ein Recht auf Notwehr und Selbstverteidigung,
ohne indes jenen, die Selbstverteidigung
übten, ein übermäßig gutes Gewissen
zu verschaffen: Wer – aus welchem
Grunde auch immer – Blut vergießt, zerstört
damit zugleich Gottes Ebenbild, was durch
den verteidigbaren Zweck einer solchen
Handlung nicht aufgehoben wird.

Es war der rabbinische Patriarch Hillel,
er lebte im ersten vorchristlichen Jahrhundert,
der dieser Einsicht in einer ausgerechnet
auf die hellenistisch-römische Staatsreligion
bezogenen Geschichte Rechnung trug:
„Dieses Prinzip mag der Geschichte eines
Königs gleichgesetzt werden, der ein Land
eroberte, Abbilder seiner selbst aufstellen,
Statuen seiner selbst errichten und Münzen
mit seinem Bild prägen ließ. Als dann seine
Abbilder umgestürzt, seine Statuen zerbrochen
und der Wert seiner Münzen außer
Kraft gesetzt wurden, wurde auch die Ähnlichkeit
mit dem König zerstört. Und genau
so schreibt es die Schrift einem jeden zu, der
(menschliches) Blut vergießt: er zerstört das
Ansehen des Königs (Gottes).“

»Widerstand ist eine
Konsequenz der Demut vor
dem moralischen Gesetz«

Micha Brumlik

Aber was, wenn – wie vor allem im christlichen
Mittelalter immer wieder geschehen
– Jüdinnen und Juden dazu gezwungen
wurden, gegen die Weisungen der Tora im
engeren Sinne zu verstoßen, etwa unter der
Androhung des Todes dem Judentum abzuschwören
und zum Christentum überzutreten
– im jüdischen Verständnis also Götzendienst,
Avoda Zarah, zu verrichten? Seit der
Zeit der Makkabäer haben Jüdinnen und
Juden für diesen Fall die Möglichkeit einer
Zeugenschaft bis in den Tod, eines Martyriums,
des „Kiddusch ha Schem“, ins Auge gefasst
und auch vollzogen, vor allem im Zeitalter
der Kreuzzüge. Noch im neunzehnten
Jahrhundert war „Kiddusch ha Schem“ jedenfalls
im Zarenreich nicht nur ein Thema,
sondern sogar gelebte Praxis. Als jüdische
Knaben im neunzehnten Jahrhundert im Zarenreich,
unter dem Regime des judenfeindlichen
Zaren Nikolaus II. schon im zarten
Alter von zwölf Jahren gezwungen wurden,
in der zaristischen Armee zu dienen,
wo sie sich mit Sicherheit nicht koscher
ernähren konnten, ließen sogar eher orthodoxe
Rabbiner Responsen ob der höchsten
Bedeutung der Lebensrettung – „Pikuach
Nefesch“ – eine unkoschere Ernährung zu.
Tatsächlich traten unter dem Druck dieses
harten Regiments nicht wenige dieser jüdischen
Knaben zum Christentum über, auf
der anderen Seite kam es in vielen Fällen zu
Selbsttötungen, die als „Kiddusch ha Schem“
verstanden wurden. Es waren chassidische
Gruppen, die sich um diese zum Christentum
gezwungenen Knaben kümmerten, vor
allem Emissäre des Rabbi Menachem Mendel
Schneersohn (1789 -1866), die eine Organisation
„Tchias Meyssim“ gründeten, um
diesen jungen Leuten physisch und seelsorgerisch
beizustehen.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die
im Zusammenhang mit der Shoah häufig geäußerte
Ansicht, die Opfer der Shoah seien ein Fall von „Kiddush
ha Shem“, eindeutig falsch ist: Die Menschen,
die ihrer angeblichen Blutszugehörigkeit wegen stigmatisiert
und ermordet wurden, hatten noch nicht
einmal die Chance, ihren Glauben zu verleugnen. Und
dennoch:

Die Shoah – „inner Kiddush ha Shem?“

In der neueren, nicht zuletzt jüdischen zeitgeschichtlichen
Literatur wird oft erörtert, dass die Opfer der
Shoah ein Fall von „ Kiddush ha Shem“ gewesen seien
– eine Behauptung, die auf den ersten Blick falsch
zu sein scheint, hatten doch die Menschen, die ihrer
angeblichen Blutszugehörigkeit wegen stigmatisiert
und ermordet wurden, noch nicht einmal die Chance,
ihren Glauben zu verleugnen. Neuere und neueste
jüdische Theologie, nicht zuletzt chassidische Überlieferungen
beglaubigen das: So etwa der Rebbe von
Slonim Shalom Noach Berezovsky: „Anyone of Jewish
origin was killed. Most of the victims had no opportunity
to reflect at all as they were being killed. How
can this be considered kiddush Hashem? Throughout
the generations, the vast quantities of Jewish blood
that were shared were frequently related to a test, to
an opportunity to choose to die for God and thus attain
the level of kiddush Hashem. But this was not
the case here; kiddush Hashem was not an option for
those who were annihilated“.

Und dennoch entspricht der später oft erhobene
Vorwurf, jene Menschen hätten sich wie Schafe zur
Schlachtbank führen lassen, nicht der Würde und
dem Schmerz ihres Endes. Daher entwickelten einige
chassidische Lehrer das Konzept des „inner Kiddush
ha Shem“: „Rav Dessler proposes a new concept here:
‚inner kiddush Hashem‘. Outwardly, the death is indeed
meaningless; what meaning can there be to an
act that does not proceed from will or choice? Still,
we must ask what a victim was thinking while taking
his final steps towards the gas chambers or the
pits. Did he accept God's judgment? Was every step
infused with the love of God? This is an inner test,
with no outer signs of valor. It lacks the heroics of an
outward display of kiddush Hashem, the satisfaction
of this ultimate victory. All that it offers is the inner
truth in one's heart, and for this reason, explains Rav
Dessler, it is even greater than the classic kiddush
Hashem.“

Demut in der Moderne

Womöglich lässt sich eine Auflösung der mit dem
Spannungsverhältnis von „Demut“ und „Widerstand“
verbundenen Widersprüche unter Rückgriff auf jenen
Philosophen suchen, der – obwohl persönlich kein
Freund des Judentums – keineswegs zufällig immer
wieder von jüdischen Denkern wie etwa Hermann Cohen
beansprucht wurde und der auch später – etwa
von Jacques Derrida – als ein im Wesen jüdischer
Denker apostrophiert wurde. Tatsächlich hat sich
der Philosoph der Aufklärung, nämlich Immanuel
Kant, sogar zum Problem der Demut geäußert: „Das
Bewusstsein und Gefühl der Geringfügigkeit seines
moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz
ist die Demut (humilitas moralis), die sich wohl davor
bewahrt, durch Vergleichung mit anderen Menschen
und durch das Bestreben, sie zu übertreffen, zum
Hochmut werden.“

Kant entfaltet diesen Gedanken weiter: „Ist nicht in
dem Menschen das Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung,
d.i. die Gemüthserhebung (elatio animi) als
Schätzung seiner selbst, mit dem Eigendünkel (arrogantia),
welche der wahren Demut (humilitas moralis)
gerade entgegengesetzt ist, zu nahe verwandt, als daß
zu jener aufzumuntern rathsam wäre; selbst in Vergleichung
mit anderen Menschen, nicht blos mit dem
Gesetz. Oder würde diese Art von Selbstverläugnung
nicht vielmehr den Anspruch anderer bis zur Geringschätzung
unserer Person steigern und so der Pflicht
(der Achtung) gegen uns selbst zuwider sein. Das Bücken
und Schmiegen vor einem Menschen scheint in
jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein.“

Demut – und das wäre eine jüdische Perspektive –
ist Demut vor Gott und seiner Weisung, einer Weisung,
die anbefiehlt, Menschen nicht zu instrumentalisieren
und daher die Würde eines jeden einzelnen Menschen
zu achten. Widerstand erweist sich so als eine Konsequenz
der Demut vor dem moralischen Gesetz.