Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Stefan Baudach

»Wir sind eine moderne Wertegemeinschaft«

Im Jahr 2022 feiert die Caritas ihr 125-jähriges Jubiläum und blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Jörg Klärner, Diözesancaritasdirektor in Limburg, spricht über die Aufgaben eines Spitzenverbands der Freien Wohlfahrtspflege.

Herr Klärner, seit mehr als 25 Jahren sind Sie Teil der Caritasfamilie und überzeugter »Caritäter«. Was bedeutet
es Ihnen, Teil dieser Familie zu sein?

In den 25 Jahren habe ich gelernt, dass Caritas eine ganz große und bunte Bewegung ist, eine Bewegung
hin zu den Menschen. Wir haben einen gemeinsamen Auftrag: Wir beraten, wir unterstützen,
wir pflegen, wir begleiten, wir bilden aus und wir helfen Menschen, die mitunter in schwierigen
Notlagen sind. Wir sind in der Caritas sehr vielfältig, sehr offen, und das ist etwas, was mich heute
noch viel mehr beeindruckt als früher. Wir sind sehr schlag- und tatkräftig, treten für eine offene
und demokratische Gesellschaft ein und formulieren unsere Positionen klar. Wir sind eine moderne
Wertegemeinschaft. Und das ist etwas, was uns von anderen unterscheidet.

Wörtlich übersetzt heißt Caritas ja »Nächstenliebe«. Das klingt für Außenstehende ziemlich romantisch und
weniger nach sozialer Arbeit, wofür die verbandliche Caritas doch maßgeblich zuständig ist.

Unser Slogan heißt ja »Not sehen und handeln«. Liebe und Nächstenliebe sind zwei Seiten einer Medaille.
Es gilt wachsam zu sein und den Nächsten in seiner einzigartigen Würde wahrzunehmen und
zu erkennen. Nächstenliebe ist eine Haltung und ein konkretes Handeln für den Nächsten: Einfach
für die Menschen da zu sein und dass wir uns für eine solidarische Gesellschaft engagieren, in der
wir miteinander und füreinander unterwegs sind. Das gehört für mich zu dem Begriff der Nächstenliebe.

Wie äußert sich die tätige Nächstenliebe bei Ihrer Aufgabe, der Führung des Spitzenverbandes?

Wir sind als Spitzenverband fach- und sozialpolitisch auf Landesebene und kirchenpolitisch
auf Bistumsebene tätig. Unser Job ist es, die fachlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
zu schaffen und weiterzuentwickeln, damit soziale Arbeit – sprich Erziehung,
Beratung, Bildung, Pflege usw. – vor Ort gut stattfinden kann. Wir verhandeln mit den
Ministerien und den politischen Parteien den Rahmen für die soziale Arbeit vor Ort. Als
Spitzenverband stehen wir nicht vor, sondern hinter der Kamera.

Spitzenverbandliche Arbeit: Wie sieht das auch vor dem Hintergrund, dass Limburg derzeit den Vorsitz
der Hessen-Caritas innehat, ganz konkret aus?

Lobbyarbeit oder Interessenvertretung hat sicher viele Facetten. Wir arbeiten in vielen
Bündnissen und mit Ministerien zusammen. Beidseitig haben wir das Interesse, soziale
Angebote weiterzuentwickeln und an die jeweiligen Bedarfe anzupassen. Außerdem müssen
wir neue Bedarfe erkennen und reagieren. Wir sind Teil der Hessen-Caritas und der
Arbeitsgemeinschaft der Caritasverbände in Rheinland-Pfalz, ebenso Teil der LIGA der
Freien Wohlfahrtspflege in den beiden Bundesländern. Wir arbeiten eng mit unseren regionalen
Caritas- und Fachverbänden und bundesweit mit allen Diözesancaritasverbänden
zusammen. In der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege arbeiten die großen Verbände zusammen:
Caritas, Diakonie, der Paritätische, das DRK, die AWO und
der Landesverband der Jüdischen Gemeinden. Zusammen haben
wir beispielsweise die Forderung nach mehr bezahlbarem
Wohnraum zu unserem Thema gemacht. Aber wir bearbeiten in
unseren Bündnisstrukturen auch viele andere Themen aus der
Arbeitsmarkt- oder Gesundheitspolitik, der Migrationspolitik
oder der Sozialpolitik.

Das heißt, Sie müssen gut netzwerken können?

Ja, Lobbyarbeit oder Interessenvertretung ist immer auch
Netzwerkarbeit. Wir haben in vielfältiger Hinsicht einen Begegnungsauftrag,
müssen sichtbar sein und Netzwerke knüpfen.
Warum? Weil wir – politisch unterstützt – auch kurzfristig
Hilfe ermöglichen wollen. So hatten zum Beispiel die psychologischen
Beratungsdienste in unserem Bistum coronabedingt
eine so hohe Nachfrage, dass die Kapazitäten nicht ausgereicht haben. Hier
sind wir zusammen mit dem Bistum Limburg mit 250.000 Euro eingesprungen
und haben befristet die Beratungsangebote ausgeweitet. Wichtig ist uns
beispielsweise ein Recht auf Schuldnerberatung in ganz Deutschland. Es gilt
niedrigschwellige Beratungsangebote im Sinne der Prävention zu stärken.

Sie sagten eben, Sie ermitteln neue Bedarfe? Was kann man sich darunter vorstellen?

Das wird anschaulich bei dem Schlagwort »Digitalisierung«. Es gilt den Menschen, unseren
Klientinnen und Klienten, ganz konkret den Zugang zu Soft- und Hardware und zu
einem Internetzugang zu ermöglichen. Wir brauchen ein Recht auf Internetzugang. Darüber
hinaus müssen wir im digitalen Bereich Qualifizierung und Fortbildung anbieten: Wie gehe
ich mit der Technik um? Digitale Kompetenzen sind eine notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche
Teilhabe. Das sah vor fünf bis zehn Jahren noch ganz anders aus.

125 Jahre verbandliche Caritas im Bistum. Was sind die größten Herausforderungen in der jüngeren
Geschichte gewesen?

Dann springe ich mal ins Jahr 1995. In diesem Jahr wurde die Pflegeversicherung eingeführt
und damit gab es einen Paradigmenwechsel: weg vom Kostendeckungsprinzip, hin zu prospektiven
Entgelten. Der Wettbewerb ist in den sozialen Bereich eingezogen. Wir haben gelernt, vorausschauend
sozial und wirtschaftlich zu handeln. Dieser Paradigmenwechsel hat bis heute
Auswirkungen auf nahezu alle Angebote der freien Wohlfahrtspflege.
Apropos Wettbewerb: Auch im Sozial- und Gesundheitswesen hilft uns der Wettbewerb weiter.
Wir brauchen hier allerdings klare Regeln. Der Wettbewerb darf nicht zu Lasten der Menschen
und der Leistungen gehen. Beispielsweise sollten nur Anbieter eine Zulassung bekommen, die
ihre Mitarbeitenden nach Tarif bezahlen. Und
in einen Tarif gehören neben dem Lohn ebenso
Zeitzuschläge, Fort- und Weiterbildungen, moderne
Arbeitszeitmodelle und eine betriebliche
Altersvorsorge. Im Sozial- und Gesundheitswesen
brauchen wir starke Leitplanken. Hier darf
der Staat ruhig etwas stärker regulieren.

Sie sprechen von vielen Angeboten der Caritas und
der Freien Wohlfahrtspflege. Welche Angebote gibt
es denn?

Das ist eine lange Liste: Kindergärten, frühe
Hilfen, Schwangerenberatung, Erziehungsberatung,
Frauenhäuser, Wohn- und Arbeitsangebote für Menschen mit
Behinderung, ambulante Pflege, Altenheime, Hospize, Schuldnerberatung,
Suchtberatung, Migrationsberatung, Wohnungslosenhilfe, Anziehpunkte und
Second-Hand-Läden, Krankenhäuser u.v.m. Wir sind ein starker Verbund und
Partner in allen Lebenslagen und ein starker Arbeitgeber. Wir bilden aus und fort. Die Caritas
hat bundesweit über 650.000 Mitarbeitende bei etwa 6.200 selbstständigen Rechtsträgern, die
zusammen den Deutschen Caritasverband bilden. Wir sind ein Verband, kein Konzern.

Und wenn wir ganz aktuell auf das Heute schauen: Worauf kommt es Ihrer Meinung nach mehr denn
je an?

Wir haben das Jubiläumsjahr 2022 unter das Motto »sozial.politisch.engagiert« gestellt.
Stichwort »sozial«: Der soziale Zusammenhalt ist heute wichtiger denn je. Es gilt den sozialen
Zusammenhalt zu stärken und die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen.
Zusammenhalt und Solidarität sind Schlagworte der bundesweiten Caritaskampagne »Das
machen wir gemeinsam«. Stichwort »politisch«: Wir wirken sozial- und fachpolitisch auf die
Sicherung der sozialen Infrastruktur und deren Weiterentwicklung hin. Wir verstehen uns
nach wie vor als Anwalt für Benachteiligte. Es geht um die Stärkung der Beteiligung und Partizipation
benachteiligter Gruppen, die Förderung von Teilhabe und Mitgestaltung am sozialen
Leben durch Inklusion. Wir erheben unsere Stimme für eine offene und demokratische, für
eine plurale und freiheitliche Gesellschaft.
Und zum Stichwort »engagiert« fällt mir ein, dass ich uns gefordert sehe, noch viel stärker
präventiv tätig zu werden. Gerade mit dem Blick darauf, was wir aus Corona gelernt haben,
müssen wir schauen, wo wir präventiv noch viel mehr tun können. Aktuell treibt uns das
Thema »Präventionsketten gegen Kinderarmut« um. Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf.
Hilfesysteme in Hessen sind derzeit in sich geschlossen und Hilfen enden, wenn Kinder ein entsprechendes Alter erreicht haben oder eine bestimmte Schulform abgeschlossen ist.
Es braucht vielmehr ein ganzheitliches und vernetztes Hilfesystem, in dem besonders die
Schulen stärker involviert werden müssen. Ebenso gehören die Schuldnerberatungen und
weitere niedrigschwellige Beratungsangebote im Gedanken an Prävention ausgebaut, denn
Prävention ist immer eine Investition in unsere Gesellschaft.

Und wie sehen Sie die Zukunft? Wie wird sich die Caritas verändern oder sogar verändern müssen?

Der Klimaschutz hat an Bedeutung gewonnen. Diesen gilt es sozial zu gestalten und
wirtschaftlich zu ermöglichen, also von der sozialen Marktwirtschaft hin zu einer ökologisch-
sozialen Marktwirtschaft. Das ist gewissermaßen ein neues Dreieck: das Soziale, die
Ökologie und die Marktwirtschaft. Ich hoffe, dass wir dafür das Gute, das uns auszeichnet,
bewahren können. Dazu gehören unser Fundament als Wertegemeinschaft und das Engagement
sowie die Fachkompetenz unserer Mitarbeitenden.
Und ich hoffe, dass wir uns trauen und dazu in der Lage sind, neue Wege zu gehen und nicht
anfangen zu sagen: Das haben wir schon immer so gemacht. Ebenso hoffe ich, dass wir weiterhin
kreativ sind und bei der Gestaltung unseres Sozialstaates mitwirken – als lebendiger
Teil der Kirche für die Menschen und mit den Menschen.