Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Agnès Poirier: Notre Dame

Eine Verlusterfahrung besteht darin, dass man bemerkt, was fehlt. Eine Verlustkommunikation liegt in der schieren Unendlichkeit der Klage darüber, dass etwas fehlt und nicht zurückkommt – wie im omnipräsenten Krisen-Sprech unserer Tage angesichts der Covid-19-Pandemie und unserer Sehnsucht nach „neuer Normalität“. Wie aber ist der Vorgang zu bezeichnen, dass man erst dann merkt, was man hatte, wenn es einem zu fehlen beginnt?

Nostalgie ist es nicht, hängt damit aber zusammen. Es ist deshalb keine Nostalgie, weil diese lediglich den Gemütszustand jenes Vorgangs angibt, ihn aber noch nicht qualifiziert. Der Vorgang selbst liegt in einer Gedächtnisfunktion. Genauer gesagt liegt er in der Fähigkeit, den Gedächtnisbesitz zu mobilisieren und verwertbar zu machen – für (mehr oder weniger zutreffende) Erinnerungen, weil sich dabei Zusammenhänge zwischen einem aktuellen Erlebnis und einer Spur im Gedächtnis bilden, wie beim katastrophalen Brand von Notre-Dame, der nicht nur globales Entsetzen auslöste, sondern auch Solidarität quer durch alle religiösen und weltanschaulichen Lager. Als ob dieses Ereignis global zumindest in dem Maße sinnstiftend war, dass es die unstrittige Bedeutung dieses Weltkulturerbes in seiner Bedrohung ultimativ steigerte.

Agnès Poirier geht in ihrem Buch sogar noch einen Schritt weiter und behauptet nunmehr, darin habe sich eine Art Offenbarung der Seele Frankreichs ereignet. Darin liegt viel Nostalgie, reichlich metaphysischer Elan, indes kaum Geschichtsbewusstsein, wenig analytisches Problembewusstsein und keinerlei prognostische Kraft (weil die anschließende Pandemie die Außerordentlichkeit dieser Katastrophe in den Schatten stellte: Nun war das legendäre Pariser Leben auf den Terrassen, in den Bars und Bistros tatsächlich verschwunden, weil auf Geheiß des Präsidenten „wir in Frankreich im Krieg sind“; bei Poirier musste der Krieg noch als Metapher für die Brandkatastrophe herhalten).

Der Überschuss an Nostalgie geht einher mit dem Mangel an Geschichtsbewusstsein, trotz der Rekonstruktion der Geschichte von und mit Notre-Dame, die Poirier pointiert von der Erbauung über den Brand und den Wiederaufbau rekapituliert. Was Geschichte kann, beschränkt sich nicht auf die Schaffung, Ansammlung und Verklärung von sozio-kulturellen Fakten; aufgrund ihrer Übermächtigkeit relativiert sie ihre eigenen triumphalistischen Erzählungen – wie der Pariser Mediävist Patrick Boucheron neuerdings betont. Es ist eben kein Zufall, dass Notre-Dame in den Meistererzählungen der Momente, die Frankreich geprägt haben (collection Gallimard: Les journées qui ont fait la France), zwar immer wieder präsent ist, ihr aber anders als z.B. Aléisia oder Verdun keine eigene Erzählung gewidmet wird. Der metaphysische Elan von Poirier rührt ebenso an diese nostalgische Note des Buchs heran, denn ihm geht es nicht einfach um die Wiederentdeckung von historisch maßgeblichen Erinnerungen im Umfeld von Notre-Dame, sondern um die Behauptung, in dieser Erzählung sei die Seele Frankreichs zu finden. Das geht nur, wenn man beim Gedächtnis-Thema in den Fußstapfen von Platon und seinen Schülern (bis hin zu den modernen Mnemen) unterwegs ist und die Erinnerung als Anamnese versteht, also als Akt des Entdeckens des Immer-schon-Gewussten, ja Präexistenten – eben des Seelisch-Geistigen vor dem Körperlichen. Wenn aber Notre-Dame die Verkörperung dieses seelisch-geistigen Prinzips bedeutet, darf man sich schon fragen, in welcher platonischen Höhle Franzosen vorher gehaust und gelebt haben. Ist Vercingetorix tatsächlich mehr eine Figur aus Asterix als der wohl früheste Nationalheld Frankreichs, inklusive entsprechenden Geschichtsbewusstseins? Fragen müsste man sich darüber hinaus, welchen Stellenwert historische Monumente heute einnehmen, wenn sie mit dem Zeitalter der Postmetaphysik nicht mithalten können oder wollen; ihre Musealisierung würde unausweichlich – Poirier hingegen verleugnet mit ihrem Ansatz indirekt sowohl Frankreichs vor-mittelalterliche Existenz und prägende Geschichte als auch seine postmoderne Gegenwart, wenn sie typisch modernistisch beim Wiederaufbau von Notre-Dame Kirchengebäude vom schon lange angedachten Museumsbau auf dem Vorplatz strikt trennt.

Die modernistische Feder, mit der das Buch geschrieben ist, stellt sich in zahlreichen Superlativen (meistbesuchte Stadt, bester Bäcker, schönster Blick, etc. etc.) und einschlägiger Heldenerzählungen (von Feuerwehr u.a.) heraus. Sie ist aber keiner Ideologie geschuldet, sondern einem Milieu, zu dem die Autorin sich mehr oder weniger bewusst selbst rechnet – dem Pariser Milieu um Saint-Germain, das seinen Ruhm im 20. Jahrhundert fand. Natürlich blickt man von hier „aus der Küche“ auf Notre-Dame, kauft im „Maison Isabelle“ auf dem Boulevard Saint-Germain seine exquisiten Croissants (und verschweigt, dass zwischen Notre-Dame und „Isabelle“ immer mehr kleinste Bio-Bäckereien ihre Brote für 12 Euro quasi verschleudern …, denn die Miete und die Brote kann man sich hier, aber sonst kaum einer in Paris leisten), „bewundert“ die Armenküche am anderen Seine-Ufer und versteht die Gelbwesten natürlich überhaupt nicht. Den größten Gewinn verspricht das Buch deshalb, wenn man es als entsprechende Milieustudie liest – als eine Art neuer „Reise zum Mittelpunkt der Welt“ (Jules Verne), wo wohlklingende Familiennamen zuhause sind und sich oftmals mit kleinen Titeln schmücken (wie beim tatkräftigen Generalvikar im Unterschied zu seinem polnisch klingenden Mitbruder der Suppenküche vom anderen Seine-Ufer).

Natürlich brauchen fremdsprachige Touristen einen solchen Reiseführer dringender als Einheimische; deshalb kann man auf die französische Ausgabe nur zu gerne noch warten. Die solide deutsche Übersetzung bietet den Vorteil, dass man nicht das englische Original mitsamt zahlreichen Fehlern lesen und seiner Unentschiedenheit zwischen Oxford-Englisch und US-Englisch folgen muss.

Die Seele Frankreichs
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Berlin: Insel Verlag. 2020
239 Seiten m. Abb.
24,00 €
ISBN 978-3-458-17877-4

Zurück