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Bernhard Grümme: Öffentliche Politische Theologie. Ein Plädoyer
Als sich die Deutsche Bischofskonferenz im Rahmen ihrer Frühjahrsvollversammlung am 22. Februar 2024 mit ihrer Erklärung „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ an die Öffentlichkeit wandte, waren die medialen und gesellschaftlichen Resonanzen sowie die Zustimmung zu dem Text hoch. Die Gruppe „Christen in der AfD“ fühlte sich von ihm dermaßen provoziert, dass sie am 29. Februar 2024 einen offenen Brief an die Deutsche Bischofskonferenz richtete. Im Gegensatz zu vielen anderen öffentlichen Verlautbarungen erzielte diesmal eine Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, die sich als politische versteht, eine breite Wirkung.
Dass Kirche und Theologie politisch sein müssen und sollen, ist ein Diktum, das der Theologe Johann Baptist Metz immer wieder in das gläubige Bewusstsein brachte. Dies beinhaltete für ihn die besondere Verantwortung, die die Kirche gegenüber den Marginalisierten, Entrechteten und Armen hat, und zwar ebenso in der Gegenwart wie auch gegenüber denjenigen in der Vergangenheit. Politische Theologie muss daher theodizee-empfindlich sein und darf als gefährliche Erinnerung den geschichtlichen Horizont nie aus dem Auge verlieren, vor allem auf dem Hintergrund der eigenen Missionsgeschichte, die immer zugleich auch Kolonialisierung war, und dem Zivilisationsbruch der Shoah.
Bernhard Grümme würdigt im vorliegenden Buch ausführlich das Verdienst von Johann Baptist Metz und seiner Neuen Politischen Theologie, die er vor allem als Gegenentwurf zur Politischen Theologie des Juristen und Politologen Carl Schmitt erarbeitete. Heute hätte Metz‘ Ansatz nur noch eine begrenzte Reichweite, weil sich vor allem durch die Globalisierung, Digitalisierung, postkolonialen Diskurse und Genderdiskussion neue Problemlagen und Themen ergeben hätten. Vor allem die Digitalisierung hat zu einem „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) beigetragen, dessen Auswirkungen für die weltweiten Gesellschaften als Paradigmenwechsel beschrieben werden kann.
Der Verfasser teilt sein Buch in drei große Kapitel ein. Im ersten fragt er danach, welche Aufgaben Theologie in der Demokratie hat. Im Rekurs auf die Neue Kritische Theorie (Axel Honneth, Rahel Jaeggi) bestimmt er die Demokratie als Lebensform, die es zu schützen gilt und daher auch von der Theologie argumentativ abgestützt werden muss. Im zweiten Kapitel diskutiert er den Begriff „Politische Theologie“. Er verweist dabei auf die Begrenzungen und Aporien der Neuen Politischen Theologie. Zugleich diskutiert er den Beitrag und Mehrwert, die die postkolonialen und Gender- Studien für eine Neukonzeptionierung der Politischen Theologie, die auf der Höhe der Zeit ist, bieten könnten. Dabei zeigt er die Begrenzungen und Aporien auf, die in vielen Ansätzen postkolonialer und Gender-Studien zu finden sind. Daraus entwickelt er – in kritischer Distanz zu postmodernen Theorien einer „schwachen Vernunft“ mit einer begrenzten Reichweite – einen selbstreflexiven Universalismus, der den Anspruch hat, in seiner Argumentation eine starke prinzipielle Geltung zu formulieren, ohne dabei totalitär zu sein oder die menschlichen Wirklichkeiten platonisch zu überspringen.
Im dritten und letzten Kapitel stellt Grümme sein Konzept einer „Öffentlichen Politischen Theologie“ vor. In ihr entwickelt er die These von der Aufgeklärten Heterogenität als öffentlichkeitstheoretische Perspektive, die versucht, die pluralen Lebenswelten der Gegenwart begrifflich in ihrer Ambiguität einzuholen. Weiterhin begründet er sein Konzept einer Öffentlichen Politischen Theologie und zeigt auf, welche Innovationen es gegenüber der Neuen Politischen Theologie (Metz) zeitigt. Zum Schluss verweist er auf den Nexus von Öffentlicher Religionspädagogik und Öffentlicher Politischer Theologie, denn Letztere bedarf umfassender Bildungsprozesse, weil Demokratie als Lebensform nicht naturaliter im Menschen vorhanden ist.
Der Verfasser versteht sein Buch als einen ersten Entwurf und einen Neuansatz, der versucht, Öffentliche und Politische Theologie zusammen zu denken. Gerade auf Grund vieler Problemüberhänge, die vor allem ein neoliberalistischer Kapitalismus im Verbund einer umfassenden Digitalisierung generiert (z.B. Destabilisierung von Demokratien, selbstausbeuterische Selbstoptimierung, Fake News), ist es heute die Aufgabe der Theologie, die Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes und damit von einem befreienden Gott, der unabhängig von irgendeiner Leistungsfähigkeit jedem Menschen seine bedingungslose Liebe schenkt, in angemessener Form in die Öffentlichkeit zu bringen. Dabei rekurriert sie auf die These der Neuen Kritischen Theorie von der Demokratie als beste Lebensform, denn nur in ihr kann sich Jesu Botschaft vom Reich Gottes in ihrer Fülle entfalten.
Die Stärke von Grümmes Ansatz liegt in der kritischen Durchleuchtung der Begriffe „Öffentlichkeit“, „Politische Theologie“, „Demokratie als Lebensform“, „Postkoloniale und Gender-Studien“, „Öffentliche Theologie“, „Politik“ und „Öffentliche Politische Theologie“. Der Autor wehrt sich zu Recht gegen ihre naive oder unterkomplexe Verwendung. Zugleich zeigt er ihre Aporien und ihre Reichweitenbegrenzung auf und entwickelt daraus seinen eigenen elaborierten Ansatz.
Jede Stärke hat zugleich ihre Schwäche. Grümmes Ansatz ist hochkomplex, was ihn sehr abstrakt und „blutleer“ macht. Von daher kann man sich durchaus die Frage stellen, inwieweit er praktisch werden kann, ohne unterkomplex zu werden. Grümme formuliert vor allem die Bedingungen einer möglichen Öffentlichen Politischen Theologie. Wer alle diese Bedingungen wirklich berücksichtigen möchte und sich an eine konkrete inhaltliche Formulierung wagt, ist immer in Gefahr, irgendeinen Aspekt nicht genug zu würdigen.
Weiterhin ist zu fragen, welche Reichweite dieser Ansatz unter den gegenwärtigen Bedingungen wirklich haben kann. Zum einen besteht durch den Missbrauchskomplex, der beide Großkirchen in Deutschland betrifft, ein tiefes Misstrauen in der Öffentlichkeit gegenüber Aussagen kirchlicher Vertreterinnen und Vertreter, zu denen auch Theologinnen und Theologen gehören. Zum anderen hat Jan Loffeld mit seinem Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ (2024) den Finger in die Wunde gelegt: Immer mehr Menschen sind absolut desinteressiert an Kirche und christlichem Glauben, und man nimmt keine öffentlichen Stellungnahmen mehr zur Kenntnis oder regt sich darüber auf. Und gerade theologische Statements werden noch weniger wahrgenommen oder allein sprachlich nicht mehr verstanden, weil die religiöse Sozialisation nur noch marginal oder komplett ausgefallen ist. Leider nimmt Grümme zu diesen Themen nur am Rande oder gar nicht Stellung bzw. zeigt nicht auf, wie in der Theologie damit umgegangen werden sollte. Sein Ansatz mag eventuell noch im wissenschaftlichen Kontext an den Universitäten eine gewisse Reichweite erfahren. Für den Bereich der Pfarreien, kirchlichen Bildungswerke und Akademien sowie den Religionsunterricht müssten aber Übersetzungen geleistet werden. Ob die Theologie durch die Komplexität einer Öffentlichen Politischen Theologe nicht in eine Professionalisierungsfalle geraten ist, muss sich noch zeigen, denn Übersetzungen leben davon, Komplexität in angemessener Weise reduzieren zu müssen. Eventuell wird der Autor in einem seiner nächsten Bücher zeigen, wie Konkretionen ohne Komplexionsverlust aussehen könnten.
Positiv zu vermerken ist der Anmerkungsapparat, das ausführliche Literaturverzeichnis sowie die Übersicht der behandelten Autorinnen und Autoren. Im Gegensatz zu vielen anderen theologischen Publikationen bei renommierten Verlagen gab es ein sehr gutes Lektorat, das den Text sorgsam redigiert hat.
Freiburg: Herder Verlag. 2023
286 Seiten
48,00 €
ISBN 978-3-451-39527-7