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Cornelia Steinfeld: Trauer in Formen und Farben
„Trauer in Formen und Farben“ ist bereits das zweite Buch, das Cornelia Steinfeld in diesem Format veröffentlicht. In einem Interview erklärt sie seine Entstehung: Am Anfang dieses Buches standen Stichworte, die ihr zu Trauer eingefallen sind. Trauer ist nicht nur ein episodisches Gefühl, sondern eher so etwas wie eine Atmosphäre, zu der verschiedene Gefühle gehören: Angst, Wut, Verzweiflung, Liebe, Trost; aber auch verschiedene Haltungen und Werte: Akzeptanz, Geduld, Liebe; und Situationen: Abschied, Einsamkeit, Auferstehung, Neubeginn und Ewigkeit. Zu diesen Stichworten hat sie dann Bibeltexte ausgesucht und illustriert sowie verschiedene Autorinnen und Autoren gebeten, sich ein Bild auszuwählen für einen Impuls. Mit beiden Büchern hat sie ein Format entwickelt, das Auge, Geist und Körper zugleich anspricht, und deshalb lohnt es sich, hier darauf aufmerksam zu machen, wie die beiden Bücher ihre Leserin und ihren Leser unwillkürlich in einen Prozess der Betrachtung hineinnehmen.
Cornelia Steinfeld lässt in beiden Büchern ihren selbstbewussten Ansatz als Grafikdesignerin erkennen. Grafik kommt von dem griechischen Verb graphein. Es wird oft mit „schreiben“ übersetzt. So wird zum Beispiel die Bibel als hä graphä – „die Schrift“ – bezeichnet oder auch als graphai agiai „heilige Schriften“. Das Verb graphein meint aber auch im heutigen Griechisch noch mehr als das bloße Schreiben, es bedeutet genauso zeichnen oder malen, also etwas bildlich darzustellen. Eine Ikonenmalerin „schreibt“, so heißt es aus dem Griechischen, auch wenn wir eigentlich sagen würden: „Sie malt“. Bei ihrem „Malen“ ereignet sich aber ein komplexer Vorgang, denn sie versucht, ein lebendiges Geschehen so in das Bild einzufangen, dass die Kraft, die in dem Geschehen liegt, beim Betrachten wieder spürbar wird. Um es anders zu sagen: Wenn sie eine Ikone der Auferstehung Jesu „schreibt“, dann schreibt sie die Kraft der Auferstehung so in ihr Bild ein, dass die Betrachtenden sie spüren und aus dieser Kraft heraus leben können.
Cornelia Steinfelds Grafiken sind trotz ihrer strengen Elementarisierung auf einfachste Formen und wenige Farben eigentlich zeitgenössische Ikonen: Sie holen die ursprüngliche Kraft eines Ereignisses in das Bild herein, so dass die Leserin und der Leser sie beim Betrachten wieder spüren können. Es entsteht eine neue Kraft, weil der Ausdruck in der Grafik neue Assoziationen freisetzt. Ein Beispiel: Eine Grafik in „Die Bibel in Formen und Farben“ zeigt unter einem breiten hellblauen Himmelsfeld zwei große, bedrohliche dunkelblaue Wellen rechts und links. Sie wölben sich aber nicht gefährlich nach innen in die Bildmitte, sondern nach außen weg, so als wollten sie dem Raum in der Mitte Schutz geben. In der Mitte der beiden Wellen öffnet sich ein Spalt, in dem der hellblaue Himmel einen braun-grauen Weg berührt, der von unten auf diesen Spalt zuläuft. Auf diesem Weg bewegen sich viele kleine und größere Punkte in Richtung Himmelsspalt. Jetzt habe ich bereits interpretiert, denn der Titel „Mose teilt das Meer“ und der Bibeltext aus Ex 14 daneben geben mir diesen Schlüssel zur Deutung mit. Die Grafik kann mich direkt in das Geschehen hineinnehmen: In den kleinen, schmalen Spalt, durch das die kleinen lebendigen Kreise wie Brausekugeln in Richtung Himmel aufsteigen. Mose streckt eigentlich nur seine Hand aus, aber Gott teilt das Meer, so dass inmitten von Wellen ein Spalt entsteht, in dem Leben möglich ist. Was Gott hier tut, tut er an vielen Stellen der Bibel, gleich am Anfang. Gott trennt die Chaoswasser, dass darin Raum zum Leben entsteht, und er lässt so Wasser und Leben auf dem Trockenen nebeneinander entstehen. Cornelia Steinfelds Grafik lässt die Energie dieses Ereignisses lebendig werden für unser heutiges Ringen: Wird diese Generation die menschengemachten Dynamiken, die die Erde zerstören, mit Gottes Hilfe noch einmal bewältigen können, so dass allen Raum zum Leben bleibt?
Beim Betrachten der Grafiken werden die Lesenden in Steinfelds Büchern in einen Dialog zwischen Bibeltext und Bild hineingenommen. Dazu tritt dann noch jeweils als Drittes der Impuls. Aus diesen dreien entsteht ein Kraftfeld, das den Bibeltext in die Erfahrungswelt der Leserinnen und Leser eintreten lässt. Zu dem Stichwort „Zuhören“ gehört etwa ein Bibeltext aus dem Buch der Sprichwörter: „Mein Sohn, achte auf meine Worte, neige dein Ohr meiner Rede zu! Lass sie nicht aus den Augen, bewahre sie tief im Herzen! Denn Leben bringen sie dem, der sie findet, und Gesundheit seinem ganzen Leib.“ (Sprw 4,20–22) Zuhören erfordert nicht nur das Ohr, sondern eine innere Achtsamkeit des Herzens, die alle Sinne mitbestimmt. Der Bibeltext ist eine Mahnung eines Weisheitslehrers an seinen Schüler mit einem deutlichen hierarchischen Gefälle: Der Schüler, achtungsvoll „Sohn“ genannt, soll hören, der Lehrer spricht. Steinfelds Grafik aber drückt das Zuhören mit zwei gleichgroßen Dreiecken aus, einem weißen und einem schwarzen, die einander in der Mitte berühren. So bilden beide eine gemeinsame Form, ein Prisma. Zuhören ist – so der Impuls der Grafik – mehr als das passive Aufnehmen eines Hörenden. Es ist eine Kommunikation, in der beide, die sprechende Person und die hörende Person, mit gleichen Teilen Anteil haben. Das sagt auch die Kommunikationsforschung: Zuhörende prägen durch ihr Zuhören die Rede der Sprechenden, geben ihr Leben und Gestalt. Im Impuls schreibt Berno Simon berührend von einem Gespräch mit seiner demenzkranken Mutter. Steinfeld erklärt: Man könnte das so deuten, dass das weiße Dreieck den Sohn präsentiert, der im Jetzt und bewusst lebt, und das dunkle die Mutter, deren Bewusstsein langsam dahindämmert. Der Impuls endet aber: „Sie ist meine Mutter, auch wenn sie es vergisst. Und das Herz wird nicht dement.“ Ihre Begegnung schenkt beiden trotz unterschiedlicher Achtsamkeit eine Gemeinschaft, die durch lange Jahre gegenseitigen Zuhörens gewachsen ist und sich dem Herzen nicht mehr nehmen lässt.
Auch da, wo die Gefühle der Trauer beklemmend sind und bleiben, zeigt sich in den Dreiklängen zu Steinfelds Grafiken denn auch oft ein Lichtblick, der Hoffnung machen kann. Die Grafik zu Einsamkeit zeigt vier weiße Punkte, drei am Bildrand gleichsam das Feld verlassend, einer eingeschlossen inmitten eines großen schwarzen Vierecks. Zum Grün drumherum hat der weiße Punkt in seinem schwarzen Kasten jeden Kontakt verloren. Als Bibeltext dazu hat Steinfeld die Angsteinsamkeit Jesu im Garten von Getsemani ausgesucht (Mk 14,32–42). Grafik und Bibeltext beengen beim Anschauen und Lesen. Der Impuls dazu gibt ein Gespräch mit dem 9-jährigen Valentin Steinfeld wieder, und auf die letzte Frage „Was tust du denn, wenn du so fühlst?“ erscheint da die Perspektive eines Auswegs: „Ich gehe zu Freunden oder zu dir und erzähle davon. Dann ist das Gefühl nicht mehr so doll.“
Die Deutungsoffenheit und -vielfalt der Dreiklänge von Bibel, Grafik und Impuls zu jedem Bibeltext bzw. Stichwort ermöglichen die Bücher von Cornelia Steinfeld in vielen Feldern einzusetzen. Sie schenken Entdeckungsreisen in der Bibel genauso wie Wegbegleitung für Trauernde, Alltagsbewältigung für Seelsorgende wie neue Einblicke auch für Bibelprofis. Ebenso vielfältig sind ihre Bücher auch einsetzbar: als Gesprächsanregung in Bibelkreisen und Trauergruppen, als didaktisches Material in Unterrichtseinheiten in Schule und Universität oder als Gedankenanregung für die Vorbereitung der Predigt. Die beiden Titel „Die Bibel in Formen und Farben“ und „Trauer in Formen und Farben“ hören sich nach dem Beginn einer Reihe an. Es wäre den beiden Büchern zu wünschen, wenn sie bald ein nächstes an ihrer Seite haben. Geneigte Leserinnen und Leser finden sie bestimmt.
Regensburg: Schnell & Steiner Verlag. 2023
96 Seiten m. farb. Grafiken
20,00 €
ISBN 978-3-7954-3848-7
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des GEORG. Magazin der Hochschule Sankt Georgen, Nr. 21 / 2023.