Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Die konvivialistische Internationale: Das zweite konvivialistische Manifest

Den Begriff „Konvivialität“ hat der Philosoph und vormalige Jesuit Ivan Illich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit seiner Technikkritik geprägt. Er führt damit ein Bewertungskriterium für technologische Errungenschaften ein: Sie dürfen ein Gemeinwesen nicht systematisch überfordern, die Souveränität der Gesellschaft gegenüber der Technik nicht gefährden. Genau in diesem Sinne wurde der Begriff in den letzten Jahren, vor allem im Zusammenhang der Degrowth-Bewegung, wiederentdeckt und entscheidend weiterentwickelt. Andrea Vetter zum Beispiel arbeitet in ihrer ebenfalls im transcript Verlag erschienenen Dissertation („Konviviale Technik“) eine entsprechende Kriteriologie aus: Beziehungsqualität, Verbundenheit mit allem Lebendigen, Zugänglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Angemessenheit usw. sind die Maßstäbe, die an jede Technik anzulegen wären. Das „konvivialistische Manifest“ löst sich von dieser Begriffsgeschichte und definiert Konvivialismus in einem sehr weiten Sinne als „Kunst des Zusammenlebens“. Sucht man nach deren näherer inhaltlicher Bestimmung, so gibt bereits der Untertitel Aufschluss: Konvivialismus wird hier als Gegenentwurf zum herrschenden Neoliberalismus verstanden. Vor allem der Finanzkapitalismus, der sich gegenüber der Sphäre der Realwirtschaft weitgehend verselbstständigt hat, steht im Fokus und wird als Hauptursache der globalen sozialen wie ökologischen Verwerfungen beschrieben. Bereits an dieser Stelle melden sich die ersten Zweifel: Ist dies nicht eine analytische Engführung, die die aktuellen Bedrohungsszenarien nur unzulänglich erfasst? Weist hier nicht bereits der Stichwortgeber Ivan Illich mit seinem Postulat der Rückkehr zum menschlichen Maß und der darin enthaltenen Kritik am Industrialismus einen viel radikaleren Weg?

Aufschlussreich ist der Vergleich mit dem ersten, auf Deutsch im Jahr 2014 erschienenen konvivialistischen Manifest, dessen Unterzeichnerkreis sich damals im Wesentlichen auf französische Intellektuelle beschränkte. Die Prinzipien, die man dem neoliberalen Zeitgeist entgegensetzte (gemeinsame Menschheit; gemeinsame Sozialität; legitime Individuation; schöpferischer Konflikt), werden nun durch einen fünften Imperativ ergänzt: das Prinzip der gemeinsamen Natürlichkeit, des Eingebundenseins ins Netz alles Lebendigen, der wechselseitigen Abhängigkeit von Natur und Mensch. Der Text enthält in der Tat gerade zum Thema Ökologie recht wichtige Einsichten, die über die innerhalb der sozialen Bewegungen weitgehend konsensfähige Kritik am Neoliberalismus deutlich hinausgehen. So wird etwa die vom ökoliberalen Mainstream immer wieder behauptete mögliche Abkoppelung des Energie- und Ressourcendurchsatzes vom Wirtschaftswachstum als „illusorisch“ bezeichnet (28). So wird – wenn auch zaghaft genug – im Zusammenhang der konkreten ökologischen Forderungen darauf hingewiesen, dass die notwendige Transformation nicht nur technischer Natur ist, sondern eine „frugale“ Gesellschaft voraussetzt.

Eine weitere entscheidende Ergänzung im Vergleich zum ersten Manifest besteht darin, dass die fünf Prinzipien zusammengefasst werden im kategorischen Imperativ bzw. „Metaprinzip“, „die Hybris zu beherrschen“ (47). Bei diesem Stichwort horchen vor allem die Theologen auf. Dass der inzwischen global durchgesetzte, wachstumsgetriebene Kapitalismus eine entsprechende sozial- und individualpsychologische Disposition voraussetzt bzw. erst hervorbringt, dass die nicht bewältigte Kontingenz, Endlichkeit und Grund-losigkeit unseres Daseins eine Voraussetzung unseres Strebens nach immer mehr ist, wurde vielfach bedacht und sowohl psychologisch (Marianne Gronemeyer) als auch theologisch (Eugen Drewermann) beschrieben und analysiert. Im Zusammenhang des Manifests wird diese Kategorie aber doch recht „unvermittelt“ eingeführt. Es wird nicht geklärt, welcher Stellenwert ihr innerhalb der sozialen und ökonomischen Analyse zukommt.

Die literarische Gattung „Manifest“ ist mit einem hohen, praktisch-politischen Anspruch verbunden und reklamiert für sich, Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewegung zu sein. Die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen dieses – diesmal international verankerten – zweiten Manifests sind zu einem großen Teil tatsächlich in sozialen Bewegungen (etwa den Sozialforen) verwurzelte „organische Intellektuelle“. Neben durchaus wertvollen, aber leicht zu überlesenden Denkanstößen enthält der Text allerdings so viel Altbekanntes und vielfach Beschriebenes, dass er kaum die Funktion eines kraftvollen Impulsgebers bzw. eines einigenden „Symbols“ (88) von Protestbewegungen erfüllen wird.

Für eine post-neoliberale Welt
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Bielefeld: transcript Verlag. 2020
140 Seiten
10,00 €
ISBN 978-3-8376-5365-6

Zurück