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Dietmar Mieth: Meister Eckhart
Impulse für eine praktische Theologie der Spätmoderne
Kaum einer ist konfessions- und religionsübergreifend so gefragt wie Meister Eckhart: als Lehr- und Lebemeister, als spiritueller Denker und Übersetzer, als Mystagoge und Weggefährte. Die einen lesen den entschieden christlichen Professor und Prediger buddhistisch, andere finden esoterische Weisheiten bei ihm, wieder andere rufen ihn als Zeugen eines nachkirchlichen Christentums an. Diese erstaunliche Resonanzfähigkeit einer großen Gestalt des frühen 14. Jahrhunderts ist keineswegs nur modischer Ausdruck spiritueller Bedürfnislagen und Projektionen heute, hat sie doch mit der inneren Vieldimensionalität von Eckharts prozessualem Denken zu tun. So werden vom Lesenden „Perspektivismus, Mut zur unterschiedlichen Betrachter- und Betrachtungsperspektive erwartet, die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche ‚Stufen‘, auf unterschiedliche Blickwinkel einzulassen“ (72).
Genau das macht Reiz und Verdienst dieser glänzenden Erschließung von Eckharts Zeit und Werk aus. Der emeritierte Tübinger Moraltheologe ist seit seiner pionierhaften Promotion mit dem Thüringer Dominikaner beschäftigt und fasst hier zentrale Interpretationsschneisen besonders aus den letzten zehn Jahren zusammen – kenntnisreich mit vielen Originalzitaten und klaren Durchblicken. Bei deutlichem Verstehensanspruch gut lesbar, werden Eckhart Gedanken mit heutigen Verstehensvoraussetzungen anschaulich vermittelt. Im Übrigen helfen Register zur Erschließung der dichten Interpretationen.
Eckharts Denken gleiche einem Paternoster-Aufzug oder einer Rolltreppe, es ist ständig in Bewegung und in Beziehung. Vernunft und Evangelium, Philosophie und Theologie stehen für ihn in einer Art prästabilisierten Harmonie, also im wechselseitigen Erschließungszusammenhang, und sind kein Gegensatz. Für Eckhart geht es um die Herkünftigkeit von allem aus dem ständig sprudelnden Einheitsgrund, den wir Gott nennen. „Alles ist Gabe, sonst wäre es nicht. Und alles ist, weil es aus liebender Beziehung entspringt. Der konstituierende Ursprung von allem muss nicht bewiesen werden, bedarf freilich um seiner Ankunft bei uns willen der Auslegung.“ (40) Nicht die Warum- und Wohin-Fragen sind für Eckhart leitend – alles dreht sich um das Geheimnis unserer Abkünftigkeit aus dem grundlosen Grund göttlicher Liebe. So soll der Mensch nicht länger darauf schauen, was er sein soll, sondern auf das, was er schon ist – nämlich vernunftbegabt und liebesfähig aus Gott geboren. Seine Aufgabe und Würde ist es, für dieses ständige Wirken Gottes frei zu werden und ihm Raum zu geben – „arm“, „abgeschieden“, „ledig“ von allem Vielerlei in Raum und Zeit. Dadurch wird der Mensch lebendig und fruchtbar: intellektuelle, spirituelle und soziale „Redlichkeit“ sind die Folge. Auf diesen (Wider-)Geburtsprozess – nicht Wiedergeburt! – zielen besonders Eckharts Predigten.
Mieth zeigt facettenreich, „wie sehr bei Eckhart die Schöpfung und die in sie hineingenommene Inkarnation dominieren“ (126). Vernunft und Glaube, Denken und Beten, Buch der Natur und Buch der (heiligen) Schrift sind keine Gegensätze, sondern sprechen in unterschiedener Einheit von Demselben. Dass Eckhart derart entschieden von der wirkenden Gegenwart Gottes in allen Dingen her denkt und diese als „Transzendenz nach innen“ (135) auslegt, macht ihn heute anregend und herausfordernd. Sein unglaubliches Welt- und Vernunftvertrauen aufgrund seines Gottesglaubens geben zu denken und zu tun. Keinerlei kirchliche Engführungen bei selbstverständlicher Kirchlichkeit, keine religiösen Sonderwelten bei höchster denkerischer Genauigkeit, kein frommes Gerede bei tiefster Spiritualität – es geht immer nur um den Gott, ohne den nichts wäre, und also um die ganze Wirklichkeit, in der dieser Gott gegen alle Widerstände zur Welt kommen will. Zentraler Begegnungsort dieses wechselseitigen Begehrens von Gott und Mensch ist die Vernunft – als Nachvollzug jener Rückkehr in den göttlichen Einheitsgrund, der alle Zeitekstasen zwischen Vergangenheit und Zukunft unterfängt und einbirgt, nicht zuletzt auch das Leiden (in) der Geschichte.
Mieth erschließt Eckhart als durch und durch katholischen Lehr- und Lebemeister; er ist ja kirchlich nie verurteilt worden, „nur“ einige seiner Sätze „so wie sie klingen“: Im Christlichen geht es eben nicht um eine Sonderlehre, sondern um die Geheimnisstruktur der ganzen Wirklichkeit. Und die will nicht nur im Leben, sondern auch im Denken und Danken schöpferisch mitvollzogen sein. Lebens- und Denkform sind untrennbar.
München: C.H. Beck Verlag. 2014
298 Seiten
16,95 €
ISBN 978-3-406-65986-7