Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

François Jullien: Ressourcen des Christentums

In Reaktion auf den publizistischen Erfolg, den Vertreter des sogenannten „Neuen Atheismus“ seit der Jahrtausendwende in der medialen Öffentlichkeit erzielt haben, melden sich in jüngerer Zeit Philosophen zu Wort, die, obwohl nach eigenem Bekunden selbst nicht gläubig, über die in der Regel wenig plausiblen, logisch fehlerhaften Argumente der modernen Vulgär-Atheisten hinausgelangen möchten. Als prominentes Beispiel für den Versuch, den gesellschaftlichen Diskurs (wieder) auf eine seriöse, nicht länger primitiv-reduktionistische Grundlage zu stellen, kann der britische Philosoph Tim Crane angeführt werden, der 2017 das Buch „The Meaning of Belief. Religion from an Atheist's Point of View“ (vgl. die Rezension in EULENFISCH Literatur 1_2020) vorgelegt hat und darin treffend bemerkt: „In Wahrheit haben wir gar keine echte Debatte, sondern lediglich Leute, die aneinander vorbeireden oder sich anschreien.“ Während Crane sich lediglich darum bemüht, die Basis für eine solide wissenschaftliche Auseinandersetzung zu schaffen und nachzuweisen, dass Überzeugungen, die nicht unter die Alternative von wahr und falsch fallen, nicht notwendig irrational sein müssen, geht der sich ebenso als Atheist bekennende François Jullien in seinem 2018 erschienenen Buch „Les ressources du christianisme“ einen Schritt weiter. Er beklagt eine nicht nur für die laizistische französische Gesellschaft diagnostizierbare Verdrängung der kulturellen Ressourcen des Christentums und fragt sich, ob die einem solchen Befund entsprechende „ausweichende Haltung heute nicht bis hinein in die Kirche zu finden ist, die sich lieber mit Ökologischem oder Humanitärem als mit der nicht gestellten Frage beschäftigt: Was hat das Christentum dem Denken angetan?“

In der Tat konzentriert sich Jullien in seiner Schrift auf diejenigen Aspekte des Christentums, die dem Bereich des Denkens und Denkbaren zuzuordnen sind. Dessen kulturgeschichtliche Rezeption, insbesondere aber auch gesellschaftspolitische, gar spirituelle Implikationen, die der Titel seines Buches nahelegen könnte, ignoriert er weitestgehend. Bei seinen tiefsinnigen Betrachtungen handelt es sich daher um alles andere als einen Lebensratgeber. Methodisch-formal lassen sich Parallelen etwa zu Hannah Arendts „Vita activa“ feststellen. Hier wie dort werden kurze philologische Reflexionen, die sich an altgriechischen Grundlagentexten orientieren, zum Anlass für äußerst gewinnbringende philosophische Überlegungen. Bei Jullien nehmen diese ihren Ausgangspunkt nicht nur in der klassischen Antike, sondern stützen sich in der Hauptsache auf das Johannes-Evangelium, das, ohne dass es der Autor explizit erwähnt, mit den Motiven einer philosophischen Strömung aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts – der sogenannten „Lebensphilosophie“ – zu einer Synthese verbunden wird. So bietet laut Jullien das Johannes-Evangelium eine Ressource, um mit der Frage umzugehen „Wie kann ich voll und ganz, d.h. tatsächlich lebendig sein […], das mir innewohnende Leben in seinem aufsprühenden und üppigen Aufschwung, d.h. als Quelle des Lebens, zur Entfaltung bringen?“ Grundlegend dafür ist die johanneische Unterscheidung von ψυχή und ζωή, die beide in der deutschen Übersetzung des Neuen Testaments mit „Leben“ übersetzt werden.

Der Autor entfaltet einen beeindruckenden Spannungsbogen, der eine profunde Kenntnis des griechischen Originals erkennen lässt, nebenbei mit Bezug auf Joh 4,10ff religionspädagogisch und philosophiedidaktisch äußerst wertvoll vor der Gefahr eines dualistischen Symbolverständnisses warnt oder an anderer Stelle sinnvoll zwischen „glauben“ und „bezeugen“ bzw. „croire à“ und „croire en“ differenziert. Mithilfe der von ihm definierten Begriffe „Subjekt“, „De-Koinzidenz“, „Ipseität“ und „Ex-istenz“ sowie mit Rekurs auf Levinas entwickelt er eine „Dimension des Anderen“, die in einer positiven Uneindeutigkeit den christlichen Transzendenzgedanken zu säkularisieren scheint, ihn jedoch nicht banalisiert: „Ohne an die Auferstehung glauben zu müssen, aber durch den Abstand zu dem Vitalen seines Lebens, beginnt der Andere – jeder Andere –, erst nach seinem Tod voll und ganz mit dieser expansiven Liebe geliebt zu werden.“ Dass auch die das Absolute befördernde Liebe eine Ressource des Christentums darstellt, illustriert Jullien nahezu am Ende seines Gedankengangs in seiner Auseinandersetzung mit der Gegenüberstellung von ἀγαπᾷς und φιλῶ im Zwiegespräch Jesu mit dem auf seiner „Liebe“ zu ihm beharrenden Petrus (Joh 21,15).

Der französische Philosoph hat mit den „Ressourcen des Christentums“ ein wichtiges und inspirierendes Buch vorgelegt. Eine Neuauflage sollte allerdings das äußerst schlampige Lektorat, das teilweise mehrere Fehler pro Seite und in einer Kapitelüberschrift sogar eine Sinnentstellung zugelassen hat, revidieren.

Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis
Aus dem Französischen von Erwin Landrichter
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2020
126 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-579-02395-3

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