Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gottfried Böhme: Der gesteuerte Mensch?

„Wissen ist Macht“ ist eine These, die sicherlich alle am Bildungssystem beteiligten Personen unterstützen, insofern die Macht dem lernenden Individuum dient. Was aber, wenn „Wissen (ist)“ durch „Informationen (sind)“ ersetzt wird und diese im digitalen Raum frei verfügbar sind? – Dann kehren sich die Machtverhältnisse gefährlich um.

Gottfried Böhme, der über vier Jahrzehnte als Lehrer tätig war, widmet sich in seinem Buch genau diesen Aspekten. Ist der Mensch (und dies meint hier insbesondere Schülerinnen und Schüler und zudem ihre Lehrerinnen und Lehrer) gesteuert durch Google und Co oder hat er noch die Möglichkeit, selbst zu bestimmen? Und welche Chancen und Risiken bietet der medial omnipräsente Digitalpakt Bildung?

Böhmes Kritik beleuchtet viele Facetten – nach einer umfassenden Bestandsaufnahme zur sog. „Digitalisierungswelle“ an Schulen blickt der Autor auf die (neue und zukünftige) Rolle des Lehrers als Lernbegleiter, die Verwandlung der Lerner zu Usern, nimmt eine Schulcloud in den Blick, um dann in mehreren Kapiteln das damit einhergehende sich verändernde Gesellschafts- und Menschenbild zu untersuchen. Abgerundet wird die Streitschrift durch Risiken und Nebenwirkungen des Digitalpakts und der digitalen Medien.

Der Überblick zeigt, dass in diesem doch recht schmalen Band viel drinsteckt. Aber, dies darf vorweggenommen werden, Böhme überzeugt voll, in dem er mit einem persönlichen und philosophischen Blick alle genannten Themen klar und kritisch be- und durchleuchtet. Das Standardargument, dass die digitale Entwicklung sowieso nicht aufzuhalten sei, negiert er nicht, aber weitet für die Leserinnen und Leser deutlich den Horizont, um zu prüfen, ob diese Fortschritte gut sind und inwieweit noch (politische) Steuerungselemente vorhanden sind.

Er warnt eindringlich vor einer kompletten digitalen Neugestaltung der Schule, die das Denken, die Lesefähigkeiten, den Diskurs und das Absehen der Folgen vernachlässigt bzw. gar bewusst abschafft. Klug sind seine Ausführungen, dass das Konzept des Digitalpaktes „von oben“ kommt, die (gute) Revolution aber ihren Ursprung „von unten“ entwickeln müsste. Anhand von Referenzen zu Luthers Bildungsverständnis stellt er die Frage, wer zurzeit der Souverän über die digitalen Bildungsprozesse ist.

So bemängelt er vollkommen zutreffend, dass sich sämtliche Debatten um interaktive Tafeln, digitale Schulbücher usw. drehen, aber nahezu nie die Aussprache über pädagogische Konzepte stattfindet. Dabei ist dies die eigentliche Aufgabe, der Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet sind – pädagogisch zu agieren und Unterrichtsinhalte didaktisch aufzuarbeiten. Böhme zeichnet hier ein Szenario, das aufhorchen lässt: Lehrerin und Lehrer werden zu Lernbegleitern und nahezu entmündigt. Algorithmen bestimmen den Lernstoff, dieser ist individualisiert (und in jeglicher Hinsicht kontrollierbar!), der Lehrkörper ist nicht mehr der authentische Vertreter eines Faches, sondern nur noch Beiwerk, der Prozesse anstößt.

Werden Schülerinnen und Schüler zu Usern, ist Lernen mit den Lehrenden kein personaler Akt mehr. Schule arbeite dann nur noch auf die digital-wirtschaftliche Berufskarriere hin. Böhmes Erläuterungen sind hier sehr überzeugend und werden gut durch verschiedene Referenzen unterstützt; sehr klar zeigt er zudem immer wieder auf, dass kritische Kompetenzen im Umgang mit der Digitalisierung kaum bis nicht beachtet werden. Denn für die Firmen sind die Daten der Schülerinnen und Schüler wichtig, nicht die Entwicklung einer kritischen Haltung.

Äußerst erhellend analysiert der Autor das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Digitalisierung. Er kommt zu dem Schluss, dass die KMK nahezu ganz im Sinne der Konzerne agiert und den Aspekt der Werterziehung, die insbesondere im digitalen Bereich äußerst bedeutsam ist, sträflich vernachlässigt. Dass der Digitalpakt vor allem nur die Bereitstellung der Technik in den Blick nimmt, ist für Böhme ein großes Ärgernis. Es stellt sich gesamtgesellschaftlich (und somit auch im System Schule) die Frage, wie wir zukünftig leben möchten: Was ist eine Person, wer bestimmt uns, welche Daten dürfen, können und möchten preisgegeben werden? Es gilt, Lerner auf dieses Leben vorzubereiten.

Dabei zeigt sich eine weitere Stärke des Buches, da Böhme zwar klar vor dem blinden Einsatz der digitalen Medien warnt, gleichermaßen aber auch betont, dass diese sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können, wenn oben ausgeführte Voraussetzungen eben stimmen. Einen Gewinn bietet der Abschluss des Werkes, in dem „Richtlinien für einen besseren Digitalpakt Bildung“ vorgestellt werden. Hoffentlich werden nicht nur diese, sondern das gesamte Buch von vielen Personen, die im Bildungssystem tätig sind, gelesen. Denn die Macht über das eigene Wissen sollte nicht leichtfertig aus der Hand gegeben werden.

Digitalpakt Bildung – eine Kritik
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2020
269 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-374-06341-3

Zurück