Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans-Dieter Mutschler: Was läuft falsch im Christentum?

Beiträge zur Analyse der Krise der Kirchen liegen zuhauf vor. Der Titel des vorliegenden Bandes sticht heraus. Nicht: Was läuft schief in der Kirche? – sondern: Was läuft falsch im Christentum? Hans-Dieter Mutschlers These: Das Handeln Jesu entspringt seinem Sein als wahrer Mensch und wahrer Gott. Es äußert sich in bedingungsloser Liebe. Die aus dem Leben und der Person Jesu abgeleitete Ethik ist, so Mutschler, eine Eliteethik in dem Sinne, dass ihr die Erfahrung gnadenhaften Beschenktseins durch die Liebe Gottes vorausgeht und den durch sie erfüllten Christen befähigt, diese göttliche Liebe durch sich selbst vorbehaltlos anderen zu schenken. Die radikale Christusnachfolge ist nicht für alle, sondern nur für die so Beschenkten. Alle anderen, die, in welcher Weise auch immer, sich dem Christentum verbunden fühlen oder mit ihm in Berührung kommen, nehmen diesen Glauben in fein differenzierten Stufungen an oder bestimmen selbst Nähe und Distanz, so dass man von ihnen die Vollform des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe weder verlangen kann noch darf.

Der „Sündenfall“ des Christentums beginnt für Mutschler mit dem Jahr 380, als es zur Staatsreligion wird. Das quantitative Anwachsen der Christen bedingt zwangsläufig antiproportional eine Verminderung der Qualität ihres Glaubenszeugnisses. Die Krise von heute wurzelt wesentlich in dieser Entscheidung von damals. Die römisch-katholische Kirche hält für alle Getauften an der Vollform der ethischen Forderung Jesu fest, stemmt sich sanktionierend und reglementierend gegen ihre Zersetzung, scheitert aber selbst an ihren eigenen Forderungen u.a. bei vielen Amtsträgern, die dies für alle propagieren, selbst aber für sich nicht einlösen und Gegenteiliges leben. Die Kirchen des Protestantismus identifizieren im Zuge der Aufklärung das allgemein Menschliche mit dem von Jesus her Gesollten und sehen Religion in bürgerlicher Moral erfüllt. Das Profane wird zur Erscheinungsform des Sakralen, das Menschliche ist das Göttliche. Die Katholiken, so könnte man im Sinne Mutschlers sagen, überhöhen den Preis, die Protestanten unterbieten ihn; im Ergebnis fallen beide Konfessionen der Irrelevanz anheim. Da dem Verfasser dieser Aspekt zum Verständnis der gegenwärtigen existentiellen Krise von Christentum und Kirchen unterbelichtet erscheint, fokussiert er karikierend alles auf diesen einen Punkt hin.

Hat man nach den ersten Seiten den Eindruck, nur Altbekanntes werde wiedergekäut, wird man beim Weiterlesen auf einen Parforceritt durch Theologie, Philosophie und Künste geschickt, um ein Gespür für die Tragweite dieser spätantiken Entscheidung zu gewinnen, dass alle Bürger Christen werden sollten. Das mit spitzer Feder geschriebene Buch sucht die Provokation, der Autor stellt sich selbst unter das Verdikt des von ihm Erkannten. Es führt den Leser zur Gretchenfrage: Was bedeutet Dir die christliche Religion? Wer ist für Dich Jesus? Sie für sich selbst zu beantworten, bevor man der Kirche Reformen anträgt, ist klug. Zu wissen, dass durchgeführte Reformen noch nicht aus sich selbst heraus glaubwürdige Christen entlassen, ist weise. Wer sich religiös selbst überfordert, wird repressiv gewalttätig gegen andere oder agiert depressiv selbstzerstörerisch.

Summa summarum: Das Christentum taugt nicht als Massenbewegung. Wird die Eliteethik zu einer allgemein akzeptierten bürgerlichen Moral verwässert, wird aus christlichem Glauben ein humanistischer Einheitsbrei, dessen Gottesbezug letztlich entbehrlich ist. Sich Gott auszusetzen, ist erfüllend und gefährlich zugleich, wofür Mutschler u.a. Søren Kierkegaard und Thérèse von Lisieux als Kronzeugen anführt. Gott hat alle lieb, aber nicht alle taugen dazu, Gottes Liebe zu allen allen zu schenken. Beide Konfessionen stehen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, nicht nur im Verhältnis der Kirchen zu außerkirchlichen Welten, sondern auch in der Spannung zwischen den Lebensentwürfen einzelner Christen und dem Evangelium Jesu Christi. Mutschler kittet die Brüche nicht. Er macht die schier unüberwindlichen Gräben bewusst.

Die Frucht dieses Buches, wenn man es nicht verärgert in die Ecke wirft, lautet: Freiraum und Freiheit. Kirchen werben um Menschen, ohne das Evangelium weichzuspülen. Sie gewähren einen freien Raum, sich zu nähern, und akzeptieren die freie Entscheidung, sich zu distanzieren. Christen in den Kirchen haben die Freiheit, ihren Status quo hinsichtlich ihres Glaubens frei zu bekennen, und erfahren in ihren Kirchen, was Glaube jenseits dieser Grenzen und Begrenztheiten sein könnte. Die sich näher einlassen möchten, finden in den Kirchen Spielraum und Glaubenskundige vor, die selbst mit Gott gegangen sind und andere begleiten können – und sich zugleich vor Augen halten, dass Glaube nicht Besitz ist; er wird vielmehr in zerbrechlichen Gefäßen getragen.

Kirchheim: Verlagshaus Schlosser. 2020
214 Seiten
12,90 €
ISBN 978-3-96200-297-8

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