Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ingolf U. Dalferth: Sünde

Mit dem Thema „Sünde“ nimmt sich der evangelische Systematiker Ingolf U. Dalferth des vielleicht anstößigsten und unverständlichsten Kerninhalts christlicher Lehre an. Dass wir alle mehr oder weniger gute und schlechte Seiten haben, dass wir alle auch hier und dort schuldig werden, wird jeder vernünftige Mensch zugeben. Aber dass wir alle in gleicher Weise Sünder sind und unser ganzes Leben von der göttlichen Vergebung abhängt, kann einem modernen Menschen nur als eine monströse religiöse Übertreibung erscheinen.

Der Verfasser schreitet in seiner gründlichen und umfassenden Untersuchung zuerst die verschiedenen theologischen Denktraditionen ab. Seine spannendste These in diesem Zusammenhang liegt in der Gegenüberstellung einer von Thomas von Aquin, aber auch den Reformierten her gespeisten Moralisierung der Sünde und einer augustinisch-lutherischen Entmoralisierung der Sünde. Die von Dalferth kritisierte Moralisierung der Sünde ist für ihn wesentlich dafür verantwortlich, dass der Sündenbegriff in der Moderne ganz in ein moralisches Fehlverhalten aufgegangen ist. Zur Feststellung moralischen Fehlverhaltens bedarf es keiner Sündenlehre, keines Gottesbezuges, sondern nur der Vernunft.

In einem weiteren Kapitel geht Dalferth auf die „Transformationen der Sünde“ ein, wie sie sich in Selbsterhaltung, Angst, Daseinsschuld etc. widerspiegeln. Es handelt sich hierbei mehrheitlich um profunde Auseinandersetzungen mit bedeutenden Denkern der Neuzeit wie Hobbes, Kierkegaard, Heidegger und anderen. Aktueller ist das folgende Kapitel über die „Dekonstruktionen der Sünde“ gehalten. Der Autor entfaltet, wie im Ressentiment, im Sexismus, im Kolonialismus und der Trivialisierung der heutige Mensch versucht, mit dem Problem der Sünde fertig zu werden. So verwandelt sich in der Kolonialismusdebatte der Sündendiskurs in einen Konfliktdiskurs zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Stehen sich im christlichen Verständnis auf der einen Seite alle Menschen und auf der anderen Seite Gott gegenüber, so im kolonialistischen Denken Gruppen von Menschen, die sich eine je eigene Identität zulegen und für sich Gerechtigkeit suchen. Die Gesellschaft zerfällt in rivalisierende Gruppen, die jeweils die anderen auf ihre Schuld festlegt. Auch Dalferths Ausführungen zur Trivialisierung sind m.E. zutreffend und bedenkenswert. Religion hat als Tabuthema das inzwischen völlig enttabuisierte Thema Sex abgelöst und findet nur noch im Sonderbereich der organisierten Religion oder im spirituellen Wellnessbereich ihre Berechtigung.

Dalferths Buch ist ein großer Wurf, der sich durch Scharfsinn und den souveränen Blick auf den vergangenen wie gegenwärtigen Umgang mit dem Sündengedanken auszeichnet. Mit dem Buch allein könnte man ein Theologieseminar an der Universität bestreiten und würde mit reichen Erkenntnissen belohnt. In dieser Würdigung und Empfehlung liegt für den Rezensenten auch die bedauernswerte Einschränkung des Buches. Dalferth besitzt das Sprachvermögen und die geistige Flexibilität, den verständigen, der christlichen Religion fernstehenden Zeitgenossen zu erreichen. Aber eben nicht mit einer über 400-seitigen Untersuchung, die in differenzierten Reflexionen und Literaturreferaten selbst dem mit der abendländischen Geistesgeschichte vertrauten Leserkreis viel abverlangt. Gerade jemand, der Sünde nur noch im trivialen Sinn versteht und mit Sünde höchstens die Kirche selbst identifiziert, könnte durch Dalferths Gedanken ins Nachdenken kommen. Sicher setzt dieser Entwurf für den innertheologischen Diskurs über Sünde Maßstäbe und findet den Anschluss an den Geist unserer Zeit. Doch mit seinem Anliegen und seinen Erkenntnissen hätte es einen breiteren Leserkreis verdient, der in einer „abgespeckten“ Version ohne zu trivialisieren erreicht werden könnte. So ist das Buch in jedem Fall empfehlenswert, aber man sollte sich auf anspruchsvolle theologische und philosophische Gedankengänge gefasst machen.

Die Entdeckung der Menschlichkeit
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2020
422 Seiten
32,00 €
ISBN 978-3-374-06351-2

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