Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jean-Philippe Toussaint: Der USB-Stick. Roman

Nachdem Facebook Milliarden Kunden weltweit für sich eroberte, bekommt es heute von anderen sozialen Medien zunehmend Konkurrenz; die „User“ wollen verantwortlicher mit ihren persönlichen Daten umgehen, obwohl keiner genau sagen kann, was bei einschlägigen Apps damit wirklich passiert – das ist ja das Unheimliche daran und zugleich das Betriebsgeheimnis von Facebook & Co. Auch in der Wissenschaft hat die Ursachenforschung inzwischen ausgedient; an ihre Stelle sind Analysen des Big Data getreten, die mit Korrelationen die Realität besser durchschauen und sogar recht zuverlässig voraussagen können.

Seltsam nur, dass ausgerechnet dem neuen Roman von Jean-Philippe Toussaint von prominenter Stelle – im Deutschlandfunk – vorgeworfen wurde, er nenne keine zureichenden Gründe für die Handlung seines Romanhelden, eines biederen Zukunftsforschers in Diensten der EU-Kommission, der sich als postmoderner Ritter der traurigen Gestalt alleine und ohne Lizenz auf Geheimmission nach China begibt, um das Rätsel einer Zukunftstechnologie zu lösen, die ihm von Brüsseler Lobbyisten aus Versehen in die Hände gefallen ist. Entweder gelten heute im Rahmen von Fiktionen und nur für dieselben noch die überholten Realitätsauflagen (des Satzes vom Grund) der vordigitalen Vergangenheit. Oder es ist genau umgekehrt, weil die Gegenwart längst auf die Zukunft hört und deshalb anders funktioniert: Die Fiktion ist kein Gegensatz mehr zur Realität, sondern bereits Teil unserer neuen Lebenswelt – nämlich Ausdruck des unsagbar Neuen, noch nicht ganz Verstandenen, ja irgendwie Kontingenten.

Interessanter ist die zweite Option, plausibler auch – und zwar für den Roman wie für seine beabsichtigte Zeitdiagnose. Unplausibel ist die Kritik im Deutschlandfunk schon aus herkömmlicher, moderner Sicht, insofern ein jeder Wissenschaftler seine Passion zum Beruf macht, so dass sich gerade keine festen Grenzen zum Privaten mehr ergeben. Jeder echte Wissenschaftler, der glaubt, eine unerhörte Entdeckung auf seinem Fachgebiet machen zu können, würde sich wahrscheinlich nur zu gerne in ein solches Abenteuer stürzen, um Feldforschung bei der Entstehung des Neuen zu betreiben. An einem ernstzunehmenden Grund für besagte Geheimmission mangelt es daher eigentlich nicht; erst recht nicht, wenn man zur Kenntnis nimmt und angemessen bedenkt, dass schon bei dem, was dieser EU-Wissenschaftler für gewöhnlich tut, die Zukunft auf dem Spiel steht – gewiss mehr die Zukunft von Industrie- und Politstrategien, aber immerhin. Die kritische Rezension des Romans im Deutschlandfunk nimmt davon keine Notiz, verrennt sich so in ihrer modernen Kritik des unzureichenden Grundes und hat deshalb keine Chance mehr, den zeitdiagnostischen Mehrwert des Unternehmens zu erkennen; er liegt in einer Art Reifeprüfung des Techno-Futurismus von heute, und seine Fiktionalität ist wesentlich dafür: Toussaint klärt nämlich durchaus darüber auf, dass die ordentliche Zukunftsforschung (wie sie die EU und alle Wissenschaft betreibt) nie nur in die Nähe von veritablen Zukunftsfragen und -szenen kommt, sondern dass man sie betreiben kann; wie man will (mit guten Beiträgen oder qua miserablem Vortrag), ohne Folgen für das eigene Leben, ja nicht einmal für die Wissenschaft des Futurismus.

Diese Zukunftsforschung ist längst steril und verläuft mechanisch nach angestaubten Methoden – eine Art Sozialtechnologie zur besseren Verwaltung einer Welt in Bewegung. Um den Frust an diesen Glasperlenspielen hinter sich zu lassen und die Zukunft der Gegenwart leibhaftig zu spüren, zu erkunden, ja ihre Existentialität zu begreifen, braucht es nicht mehr als einen vagen Anfangsverdacht auf eine echte Zukunftstechnologie. Natürlich kann einem auf dieser Mission allerhand passieren, aber dass ein verbeamteter Spitzenwissenschaftler kein echter Spion ist und sich schwertut, das unbekannte Terrain von heute aufzuklären, darf nicht überraschen. Bei Toussaint hat das sogar einen besonderen Grund: Heute schlägt die Stunde des Dilettanten, nämlich desjenigen; der die Zukunft nicht verwalten will, noch bevor er sie verstanden oder gar erlebt hat; es ist einer, der die Zukunft an sich sprichwörtlich erfährt, indem er sich der Welt von heute aussetzt – ohne Schutzzaun der Wissenschaft und ihrer Methoden, ganz allein – sozusagen eskapistisch wie der Romanheld. Er merkt an sich und seinem Leben, dass Zukunft der Fall ist, wo die Geschichte etwa beim Tod des Vaters ausläuft, selbst wenn er zu spät kommt. Bei Toussaint ist die Reifeprüfung geschafft, wenn aus dem mechanischen Futurismus ein organischer geworden ist. Das kann man der Welt und ihrer Wissenschaft von heute nur wünschen und antragen! Immerhin trägt die Übersetzung von Joachim Unseld dieses Flair der organischen Reife mit ihrer Stilsicherheit einerseits und ihrem Mut, kleine Passagen in Französisch oder gar Chinesisch zu belassen: Die Welt von morgen ist heute bunt – und bei Weitem nicht ganz verständlich!

Kein Wunder, dass Science-Fiction das Genre gewechselt hat und nunmehr als Krimi neu erscheint.

Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt. 2020
192 Seiten
22,00 €

ISBN 978-3-62700-273-2

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