Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jens Schröter: Die apokryphen Evangelien

Als die „verborgenen“ Schriften der Bibel (so die wörtliche Übersetzung des Begriffs) haben die „Apokryphen“ schon oft Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Eine ganze Reihe dieser nicht in den biblischen Kanon aufgenommenen Schriften waren lange verschollen und wurden erst seit dem 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Inhaltlich wie literarisch äußerst verschiedenartig, prägten mehrere von ihnen nachhaltig christliche Traditionen, erregten populärwissenschaftliches Interesse über den kirchlichen Tellerrand hinaus und weckten nicht selten auch Hoffnungen auf vertiefte historisch belastbare Kenntnisse über biblische Gegebenheiten und Personen.

Jens Schröter, Professor für Neues Testament und antike christliche Apokryphen an der Humboldt-Universität Berlin, legt nun in der Reihe „C.H. Beck Wissen“ ein höchst informatives Buch über die Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel vor. Die Bezeichnung „(apokryphes) Evangelium“ will er dabei ausdrücklich in einem weiten Sinn verstanden wissen, d.h. auch über die engen Grenzen literarischer Gattungsbezeichnungen hinweg bezogen auf einen Text, der Jesus, sein Wirken und seine Botschaft vermittelt. Dem Aufbau der kanonischen Evangelien folgend, präsentiert er bedeutende apokryphe Jesusüberlieferungen an der Chronologie des Lebens Jesu entlang. Gerade die Kindheitsevangelien, die oft eine narrative Füllung von „Leerstellen“ in den biblischen Kindheitsgeschichten betreiben, erfreuen sich einer hohen Beliebtheit in der Frömmigkeitsgeschichte. Man denke nur an das Protevangelium des Jakobus, das erstmals die Eltern Marias, Joachim und Anna, mit Namen nennt, oder an Ochs und Esel bei der Krippe, die wir dem Pseudo-Matthäusevangelium verdanken. Bei den Überlieferungen über das Wirken Jesu verweist Schröter auf fragmentarisch oder in anderen Schriften als Zitate erhaltene Texte unterschiedlichster Provenienz (z.B. auf die spezifisch „judenchristlich“ genannten Evangelien). Gleichzeitig nennt er aber auch spätere Zusätze, die sich in den kanonischen Evangelien finden (z.B. Lk 6,1-4 oder Joh 7,53–8,11), und zeigt dadurch, wie fließend die Übergänge zwischen biblischen und nichtbiblischen Texten bisweilen verliefen. Ähnlich wie die Kindheitsevangelien schmücken auch die apokryphen Zeugnisse über Leiden und Tod Jesu oft u.a. mit apologetischer Absicht genau die Stellen aus, an denen die Bibel schweigt (vgl. z.B. die detaillierte Schilderung der Auferstehung Jesu im Petrusevangelium oder auch die wirkmächtige Ausgestaltung von Tod, Auferstehung und Höllenfahrt im Nikodemusevangelium). Hier finden sich auch Ausführungen zum gnostisch inspirierten Judasevangelium, das vor einigen Jahren mediale Aufmerksamkeit geweckt hat. Schließlich geht Schröter auf Textzeugnisse ein, die anknüpfend an die biblischen Erscheinungsgeschichten die Lehre des auferstandenen und lebendigen Jesus in den Mittelpunkt stellen. Auch hier verweist er einerseits auf spätere Zusätze innerhalb der kanonisch gewordenen Evangelien (Mk 16,9-20; Joh 21) und stellt andererseits eine Reihe apokrypher Schriften vor, die die Lehre des Auferstandenen im Horizont ihrer oftmals gnostisch geprägten Weltwahrnehmung entfalten (z.B. das Maria- oder Thomasevangelium). Mit der gesonderten Vorstellung zweier Evangelien aus der valentinianischen Gnosis (Philippusevangelium und Evangelium der Wahrheit) schließt der Verfasser seine Präsentation apokrypher Evangelien ab.

Dass das breite Spektrum äußerst heterogener Schriften die Frage aufkommen ließ, an welchen Aussagen über Jesus sich die christliche Kirche denn nun orientieren solle, leuchtet nach der Lektüre des Buches umso mehr ein. Ebenso aber staunt man über den Facettenreichtum früher Jesusüberlieferung. In historischer Hinsicht mag der Ertrag bezüglich des Lebens Jesu begrenzt sein – als wichtige Zeugnisse der Sozial- und Frömmigkeitsgeschichte prägen die apokryphen Evangelien in ihrer Wirkungsgeschichte jedoch die christliche Tradition bis heute.

Jens Schröter legt einen kompakten Band von beeindruckender Informationsdichte vor. Einerseits ist er stets darauf bedacht, Begriffe und historisch-theologische Zusammenhänge auch für den theologischen Laien verständlich zu erklären. Immer wieder lässt er mit markanten Zitaten oder Passagen aus den apokryphen Evangelien die Textzeugnisse selbst in ihrer narrativen Farbigkeit zu Wort kommen. Andererseits bietet er mit vielen Detailangaben z.B. zu Fragen der Datierung und Textgeschichte sowie mit einer Berücksichtigung unbekannterer Schriften jenseits der prominenten Beispiele auch dem theologisch geschulten Leser die Chance zu zahlreichen Neuentdeckungen aus dem faszinierenden Schatz früher Jesusüberlieferungen.

Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel
München: C.H. Beck Verlag. 2020
128 Seiten m. s-w Abb.
9,95 €
ISBN 978-3-406-75018-2

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