Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jutta Hajek: Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten

Wer dieses Buch unbefangen liest, wird überrascht von einer dramaturgisch mitreißenden Mischung aus Reportage, Kurzgeschichte und Biografie. Sie wird getragen von einer schlichten und einfachen Sprache. Sie bürgt Überzeugungskraft, ist überaus empathisch und wirkt authentisch. Sie spürt achtsam dem Leben einer von Blindheit betroffenen Familie bis ins kleinste Detail nach. Wie kann man als blinder Mensch Holz hacken, ohne sich zu verletzten? Wie backe ich einen Kuchen, dass er gelingt? In der theologischen Reflexion bringt das Buch Fragen nach dem Bösen, dem Leid und dem Tod ebenso zielsicher auf den Punkt wie etwa die Not einer blinden Frau, die um Mitternacht auf dem Bahnhof steht und um eine Lösung ringt, nach Hause zu kommen. In ausdrucksstarken Bildern menschlichen Lebens vermag sie das Unwort „unwertes Leben“ zu entwaffnen.

Mit den Augen eines Inklusionspädagogen gelesen, erkennt man sofort die gesamte Begrifflichkeit heutiger Inklusionstheorie, die vom Leben der Familie ausgefüllt wird: Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung, Angst vor Ghettoisierung durch Einrichtungen, Isolation, Diskriminierung, Exklusion, Inklusion, Teilhabe in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Lebensgemeinschaft Internat und Dorf. Der Wille, dazugehören zu wollen, und das Vertrauen auf einen stärkenden Glauben sind neben der Familiengemeinschaft die Träger der Motivation. Das Bedürfnis, das Leben in die eigenen Hände nehmen zu wollen, macht die Familie zu Kämpfernaturen, die nach jeder Auseinandersetzung gegen ungerechte Strukturen, nach Enttäuschung oder schwerem Schicksalsschlag wieder aufsteht und mutig ihren Weg fortsetzt.

Mit den Augen eines Seelsorgers gelesen, bin ich fasziniert, wie gegenseitiger Zuspruch und das Bedenken theologischer Fragen sofort von der Realität der Familiensituation eingeholt und eingepasst wird. Die Mutter überlebte knapp die Vernichtung in Hadamar. Ihr blinder Sohn will Priester werden. Die Spannung des Erzählten könnte nicht größer sein. Der Sohn schafft es, seine Berufung gegen alle Widerstände durchzusetzen. Er will kein Behindertenseelsorger sein. Er will ein Pfarrer für alle sein. Es gibt keine Vorerfahrungen mit einem blinden Priester. Man will ihn nicht überfordern. Immer neue Wege muss er gehen, um anderen zu zeigen, dass er ein guter Seelsorger für alle sein wird. Sein Glaube an die eigene Berufung und an seinen gottbestimmten Lebensweg wird trotzdem erschüttert, als er eine junge Frau kennenlernt, die ihn heiraten möchte. Ihre Beziehung scheitert an seinem Wunsch, Kinder bekommen zu wollen, wie an seinen Eltern. Seine Blindheit ist verursacht durch einen vererbbaren Gendefekt, seine Kinder werden ebenfalls erblinden. Im „Nein“ der Freundin zum Kinderwunsch sieht der junge Mann ein „Ja“ zu seiner Berufung. Er geht seinen Weg weiter und wird zum ersten blinden Priester in Deutschland geweiht. Seine Reflexionen auf seine Einschränkungen und Möglichkeiten, der Umgang mit dem erfahrenen Leid in der Familie und einem tragischen Unfall in seinen ersten Jahren als Seelsorger beschreiben ihn als einen, der die Fragen und Suche seiner Umgebung teilt und gemeinsam mit ihr nach tragenden Antworten sucht. Seine Botschaft ist Lebensmut, seine Erfahrung „Glaube hilft, sich nicht aufzugeben“ und sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Dieses Kapitel sollte in keiner Priesterausbildung fehlen.

Mit den Augen eines Religionspädagogen gelesen verschiebt sich das Augenmerk auf den jüngsten Bruder. Er wird als Nicht-Sehender ein Religions- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium für Sehende. Er wird in der Vorbereitung des Unterrichtes, in der Korrektur der Klausuren von Lesekräften unterstützt. Sie helfen ihm, den vorliegenden Text in Blindenschrift aufzunehmen und zu bewerten. Die Lesekräfte beschreiben ihm auch die Bilder, die notwendig sind, um Sachverhalte im Unterricht zu erläutern. So vermag er, Bilder zu erklären, zu deuten und ihre Botschaft zu überbringen. In jedem Seminar zur Information zum Leben mit Behinderung, das er zusammen mit seiner Mutter hält, werden typische Fragen gestellt zur ersten großen Liebe, zu Kinderwunsch, zu Berufsleben und Miteinander in der Gesellschaft. Auch diesen Fragen stellt sich der Titel: Ohne Lebensmut, seinen starken Willen und die erfahrene Kraft aus dem Glauben wäre ihm dieser Werdegang nicht möglich gewesen. Seine Lebensgeschichte eignet sich wie die seines Bruders als Inhalt für den Religionsunterricht.

Mit den Augen eines Lesers, der sich vom Titel des Buches leiten lässt, wird auf den ersten Seiten des Buches die Fremdheit in der Welt der Nicht-Sehenden überwunden. Die erblindete Familie wird zur Nachbarschaft. Sie lässt teilhaben an ihrem Leben. Ihre Erfahrungen werden mal zum Ratgeber, zur Inspiration für Lebenskraft oder zur Ermutigung, sich gestaltend in das Leben der Gesellschaft einzubringen. Deswegen können Personen mit Sehbehinderung oder Erblindung das Buch in Punktschrift (im Blindenschrift-Verlag Pauline von Mallinckrodt) oder als Hörbuch (über die Katholische Blindenbücherei Bonn) erhalten.

Die Autorin gesellt sich als Vierte im Bunde dazu. Die Familie ist offen für sie und teilt mit ihr ihr Leben. Sie stellt fest: Die bewegende Geschichte der Familie ist der lebende Beweis dafür, dass man jedes Hindernis im Leben bewältigen kann – mit starkem Willen und Gottvertrauen. Auf diesem Hintergrund beginnt das Buch: „Die Stiefel knirschen auf dem Sand in der Auffahrt. Zwei Männer. Sie schlagen mit ihren Fäusten an die Haustür und rufen laut: ‚Aufmachen.‘ Die Tante, von den Kindern nur Godi genannt, öffnet die Haustür einen Spalt, schaut misstrauisch auf die Uniformen, bevor sie die Tür ganz öffnet, und kommt zögernd heraus. ‚Guten Morgen. Was wollen Sie?‘ ‚Wir kontrollieren.‘ ‚Was denn?‘, fragt sie forsch zurück. … ‚Es wurde Anzeige erstattet, dass hier ein blindes Kind ist.‘“ Mit Erleichterung teilt der Leser die Überschrift des einleitenden Kapitels „Das war knapp.“ Von da an lässt das Buch seine Leser nicht mehr los.

Eine blinde Familie beweist, dass man jedes Hindernis überwinden kann
München: Bene Verlag. 2019
223 Seiten m. s-w Abb.
16,99 €
ISBN 978-3-96340-075-9

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