Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Goodman: Die Geschichte des Judentums

Alle reden von 1.700 Jahren jüdischerPräsenz auf dem Gebiet Deutschlands, doch was es tatsächlich heißt, sich en detail mit der Geschichte des Judentums in seiner Breite und Tiefe auseinanderzusetzen, ahnt, wer den voluminösen, von Susanne Held exzellent und gut lesbar aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Band des namhaften Professors für Jüdische Studien in Oxford Martin Goodman aufschlägt.

In fünf sinnvollen, nicht im strengen Sinn chronologisch gegliederten Teilen („Ursprünge“, „Die Interpretation der Tora“, „Die Herausbildung des rabbinischen Judentums“, „Autorität und Reaktion“ und „Die Herausforderungen der Moderne“) werden tatsächlich 4.000 Jahre jüdischer Geschichte unter klarer Reflexion auf die wichtigsten Quellen und ihre Zuverlässigkeit sowie die Wahrnehmung der seit dem babylonischen Exil immer komplexer werdenden lokalen Ausformungen der versprengt lebenden und sich hinsichtlich des Glaubens, Kults und der Gesellschaft differenziert entwickelnden jüdischen Gemeinden dargestellt. Dabei werden hervorragendes Kartenmaterial und eine zwar kleine, aber punktgenau informierende Reihe von farbigen Abbildungen geboten.

Zu Beginn dominieren die Quellen des Tenakh (Tora, Propheten, Schriften), also der „jüdischen Bibel“ selbst, und die Schriften des Flavius Josephus. Denn die Anfänge des alten Israels vor dem dritten Jahrhundert liegen im Dunkel und können aus den heiligen Schriften bestenfalls annähernd rekonstruiert werden. Und: Die antike Situation des entstehenden Judentums ist historisch am exaktesten in Josephus‘ „Jüdischen Altertümern“, seinen kleinen Schriften, vor allem „Contra Apion“ und dem berühmten „Jüdischen Krieg“ geschildert. Was wir hier über Tempel und Synagogen, Pharisäer, Sadduzäer, Essener und Zeloten erfahren, geht schon weit über das hinaus, was Theologiestudium und erst recht Religionsunterricht vermitteln. Wirklich essentiell wird der Band aber, wenn er dem hier völlig unkundigen christlichen Leser die Tradition der „Weisen“ und der im nachbiblischen Judentum gepflegten Tradition von Reinheit und Shabbat, Kalender, Gelübde, Visionen und Propheten, Eschatologie und Messianismus entfaltet. Hier wird deutlich, dass die Ursprünge eines Großteils der jüdischen Gebräuche genau in jener „Achsenzeit“ liegen, in der auch das Christentum entstanden ist. Erst recht wissen wir nichts von den Rabbinen im Osten, dem griechischen Judentum und dem rabbinischen Denken des Mittelalters, also vom großen Kommentator Raschi und der Entwicklung der Halacha sowie dem Philosophen Moshe ben Maimon, dem Sohar und der Kabbala. Immer wieder lesen wir – schon in der Antike – von Vertreibungen und zerstörten Synagogen; und zunehmend sind Christen daran beteiligt, wie etwa der hochverehrte Bischof und Kirchenlehrer Ambrosius von Mailand 388 n.Chr. Immer wieder verfolgen wir gebannt die Rekonstruktion des Judentums aus seinen normativen Quellen, schriftlicher und mündlicher Tora, aber auch aus einer lebendigen Debattentradition und hören von abgelegenen jüdischen Siedlungen etwa im Königreich der Chasaren an der südlichen Wolga, das im Jahr 730 das Judentum als Staatsreligion übernahm, oder den Karäern, einem bis ins 19. Jahrhundert weit verbreiteten Judentum ohne Rabbiner. Über das frühe und hohe Mittelalter wird detailgenau berichtet und man erfährt ebenso von der ersten urkundlichen Erwähnung in Köln unter Kaiser Konstantin 321 wie vom Weg der bis heute unheilvollen Verschwörungstheorie des jüdischen Ritualmordes, die ihren Weg von England (1144) über Frankreich (1171), Spanien (1182) nach Deutschland (Fulda, 1235) nahm.

„Es war die geographische Zerstreuung der Juden, die für die Verschiedenheit des Judentums in unterschiedlichen Regionen sorgte. Jerusalem als religiöses Zentrum war nach dem Jahr 70 verloren, und Juden erforschten ihre religiösen Vorstellungen nicht nur in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache, sondern auch auf Arabisch, das für einige wenige Jahrhunderte zur Lingua Franca in nahezu der gesamten jüdischen Welt wurde.“ (324)

Besonders wertvoll ist eine umfassende Darstellung dessen, was man rabbinische Philosophie und Mystik des Mittelalters nennen könnte. Das für den Laien unübersichtliche, bis heute im Deutschen (teilweise nur in minderwertigen Ausgaben) zugängliche Schrifttum der jüdischen Antike – seien es Mishna, Gemara, Tosephta, die beiden Talmudim und spätere philosophische Einzelwerke wie die Mishne Tora und der „Führer der Unschlüssigen“ des Moses Maimonides, Ibn Gabirols „Fons Vitae“ oder die „Arba’a Turim“ des Jakob ben Ascher und der Raschi-Kommentar – wird auf mehr als 60 Seiten hinsichtlich der Entstehung und des Inhalts dargestellt und eingeordnet.

Im Renaissance-Kapitel treten erste weitverbreitete Drucke der zentralen jüdischen Schriften und in ihrer Folge früh- und quasiaufklärerisches Interesse á la Reuchlin, de Rossi oder Pico della Mirandola an der Kabbala, aber auch zunehmend Dialogsituationen mit der zeitgenössischen Philosophie und Theologie in den Focus der Darstellung. Die geographische und soziale Situation der jüdischen Gemeinden hat sich geändert: Statt des sephardischen Schwerpunktes in Spanien wird nach den Vertreibungen der Reconquista das ashkenasische Judentum in Osteuropa und das recht komfortable Leben jüdischer Gemeinden im Osmanischen Reich bedeutsam. Die Entstehung eines europäischen Stils in Synagogenbau und Kunsthandwerk, Musik und Schrifttum wird ebenso vermerkt wie der mit der Konsolidierung jüdischen Lebens wachsende Antisemitismus à la Pfefferkorn und – so wirkmächtig wie bedauerlich – Martin Luther und Johannes Calvin. Dabei dürfen herausragende jüdische Persönlichkeiten der frühen Neuzeit wie der Theologe Josef Karo, Autor des bis heute normativen Kompendiums jüdischer Lehre Schulchan Aruch, der Erneuerer der Kabbala Isaak Luria und der neue, schließlich zum Islam konvertierte Messias Sabbatai Zwi nicht fehlen.

Eigentlich gehört der noch unter „Neuzeit“ behandelte Chassidismus schon ins letzte Kapitel des Bandes, das auf gut 100 Seiten die heutigen oder „modernen“ Herausforderungen des Judentums thematisiert. Denn in Gestalt der Anhänger des New Yorker Rabbi Schneerson, einer weltweit missionarisch stark wachsenden neochassidischen Bewegung, der Chabbatniks oder Lubawitscher ist die in Osteuropa entstandene auf Wunderrabbis wie Baal Shem Tow, Gesang und Tanz, aber auch große Traditionstreue fokussierte Bewegung so aktuell wie eh und je. Solcherlei konfessionellen Differenzierungen des modernen Judentums widmen sich ausführlich und informativ die Kapitel „Reform, Gegenreform,Zurückweisung und Erneuerung“ am Ende des Bandes, die ausführlich orthodoxes, neoorthodoxes, konservatives, (letztlich in der jüdischen Aufklärung und vor allem Kant-Rezeption, Haskala wurzelndes) liberales und schließlich (zum Teil feministisch) erneuertes Judentum sowie die Charedim u.a. im Jerusalemer Stadtteil Mea Schearim in ihrer Entstehung und heutigen Lebensweise, Theologie und geographischen Verbreitung darstellen.

Eine gewisse Enttäuschung stellt aber das Kapitel „Von der Aufklärung bis zum Staat Israel“ dar. Es enthält zwar mit die mit Emanzipation, kulturellem Aufstieg und industrieller Vernichtung des europäischen Judentums verbundenen Fakten sowie der Vorgeschichte und vor allem der komplexen religionspolitischen Verfasstheit des Staates Israel alles, was man über die Äußerlichkeiten jüdischen Lebens in der Moderne wissen muss. Aber: Selbst wenn die explizit jüdische Philosophie verbunden mit den Namen Mendelsohn, Buber, Rosenzweig, Cohen und Levinas im Kapitel „Reform“ ausführlich Erwähnung findet, ist es doch bedauerlich, dass nur implizit jüdische Denkerinnen und Denker sowie Künstlerinnen und Künstler wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, Karl Marx, Albert Einstein, Walter Benjamin, Theodor Adorno, Hannah Arendt oder Rosa Luxemburg und viele andere gar keine Erwähnung finden. Doch stellt dieses Manko nur eine nachvollziehbare Petitesse dar angesichts der auf engstem Raum versammelten nahezu umfassenden Information nicht nur über die Geschichte des Judentums, sondern auch seine über die Jahrhunderte gewachsenen und intern hochdifferenzierten Theologien, Bräuche und Kulturen. Unbedingte Leseempfehlung!

Glaube, Kult, Geschichte
Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. 2020
784 Seiten m. farb. Abb.
38,00 €
ISBN 978-3-608-96469-1

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