Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin M. Lintner: Christliche Beziehungsethik

Die Sexualmoral der katholischen Kirche zählt zu den „heißen Eisen“. Denn die Morallehre zu Sexualität, Ehe und Familie wird längst disziplinierend eingesetzt: Verschiedene Gruppen innerhalb der katholischen Kirche messen das Katholisch-Sein einer Person schlicht daran, ob sie der kirchlichen Morallehre zu Sexualität, Ehe und Familie zustimmt und keine Normen in Frage oder Diskussion stellt. Wer das Fach Moraltheologie vertritt, kann mit sexualethischen Publikationen schnell auch in Stress und Konflikt mit dem Vatikan geraten. Der Autor dieses Buches kennt die Gefahr solcher Konsequenzen aus eigener Erfahrung seit langem.

Martin M. Lintner ist Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie in Brixen. Er befasst sich seit vielen Jahren mit der kirchlichen Sexualmoral. Dieses moraltheologische Nachdenken und Forschen ist aufgrund seines reflektierten seelsorglichen Wirkens als Ordenspriester im besten Sinne geerdet. Lintner weiß, dass Menschen im großen Bereich der Sexualität verwundbar sind und die kirchliche Sexualmoral Verletzungen von Menschen mit sich gebracht hat und bringt. Die starke Reglementierung der katholischen Sexualmoral ist dabei nicht der einzige Faktor. Vielmehr hat die Kirche oft Positionen vertreten und verkündet, die sexualfeindlich sind, gute Sexualität zwingend mit dem Willen zur Fortpflanzung verknüpfen und darauf verkürzen sowie der Freude aneinander und der Lust schnell mit dem Verdacht des Sündhaften begegnen. Eine grundlegende Kritik lautet daher: Die Sexuallehre der Kirche nimmt den aktuellen Stand des Wissens über Sexualität nicht hinreichend auf und wird der Sexualität und folglich vielen Menschen nicht gerecht. Die Ablehnung von ganzheitlich intim gelebten homosexuellen Beziehungen ist ein Beispiel, an dem sich dieses Problem der Sexualmoral verdeutlicht.

Das Anliegen Lintners ist die Erneuerung der katholischen Sexualmoral. Mit seinem Buch „Christliche Beziehungsethik“ will er dazu einen Beitrag leisten und zugleich zu einem „offenen, kritisch-konstruktiven Dialog zwischen Lehramt und Moraltheologie“ (28) einladen. Dabei denkt Lintner, wie viele in der Theologischen Ethik, die theologische Sexualethik als Beziehungsethik. Er löst sich nicht von der kirchlichen Tradition los, sondern nimmt sie auf und schließt an sie an. Dieses Unternehmen ergibt dieses Buch von insgesamt 684 Seiten, das ein 56-seitiges Literaturverzeichnis und ein aufgrund des Buchumfanges besonders hilfreiches 6-seitiges Stichwortverzeichnis enthält.

Der erste Teil arbeitet historische Entwicklungen heraus und zeigt, dass sich die kirchliche Lehre bereits seit der frühen Kirche dynamisch entwickelt. Lintner konzentriert sich auf die kirchliche Ehelehre, zeichnet Grundzüge chronologisch von philosophischen Einflüssen der Antike bis zur Position von Papst Franziskus auf 207 Seiten nach und bietet damit eine ausführliche, detaillierte Gesamtschau zu den Grundlinien dieser Entwicklung. Leserinnen und Leser, die keine tieferen Vorkenntnisse der Ethik haben, gewinnen zudem Einblicke in Grundzüge prägender philosophischer Traditionen und fundierte Kenntnisse von einschlägigen lehramtlichen Dokumenten.

Der zweite Teil widmet sich, wie die Überschrift ankündigt, den „biblischen Grundlagen einer erneuerten Ethik der Sexualität und der Beziehung“. Auf 186 Seiten werden alttestamentliche und neutestamentliche Stellen ausgewertet. Es zeigt sich dabei beispielsweise, wie unbefangen alttestamentliche Texte über Sexualität sprechen, wie klar sie Sexualität bejahen und wie deutlich die Gefahr der Unterdrückung und Gewalt im Bereich der Sexualität gesehen wird. Die genauen exegetischen Ausführungen machen klar, dass eine Erneuerung der katholischen Sexuallehre sich aus bibeltheologischen Einsichten nähren kann – und sicherlich auch muss.

Im dritten Teil leistet Lintner auf 173 Seiten die Begründung seiner christlichen Beziehungsethik. Zunächst wird hervorgehoben, dass kirchliche Tradition immer lebendig ist und moralische Normen auf ihren ursprünglichen Sinngehalt sowie das Verständnis des Menschen hin befragt werden müssen. Auf dieser Grundlage wird die Sexualmoral in den Blick genommen; Anstöße für eine beziehungsethische Erneuerung erwachsen laut Lintner v. a. aus dem Missbrauchsskandal, den Genderforschungen, gesellschaftlichen Entwicklungen und aus natur- und humanwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Hauptkriterien der erneuerten Sexualmoral benennen die Unterkapitel „Achtsamkeit auf Vulnerabilität“, „Sittliche Autonomie im Kontext einer relationalen Verantwortungsethik“ und „Primat der Liebe“. Bei diesen ethischen Leitkriterien klingt bereits an, dass es um eine Änderung geht, die sich von einer Norm- hin zu einer Tugendethik bewegt – oder, wie er formuliert, „von einer Verbots- und Gebotsmoral zu einer ‚Befähigungsmoral‘“ (563). Das letzte Kapitel handelt von der Sakramentalität der Ehe, denkt in diesem Licht über die Unauflöslichkeit der Ehe nach und skizziert eine Spiritualität der Ehe. Danach folgt ein „Nachtrag“ zum Grundtext des Synodalforums „Leben in gelingenden Beziehungen“.

Das Buch ist gut lesbar und für einen breiten Kreis von Interessierten verstehbar. Die starke Konzentration auf die kirchliche Ehemoral ist dem Untersuchungsgegenstand geschuldet. Bei der Analyse und Reflexion behandelt Lintner aber viele damit zusammenhängende Themen. Dazu gehören die Genderforschungen und der Feminismus. Lintner hebt das Erfordernis einer sachgerechten, kritischen und konstruktiven Auseinandersetzung mit der Sexual- und Ehemoral bereits in der Einleitung hervor. Diese Anforderung gilt für das Lehramt genauso wie für die Moraltheologie. Der Autor löst diesen Anspruch selber ein. Er geht mit Ansichten fair um, bezieht sehr klar Position und argumentiert gründlich. Lintner hat hier ein gelungenes Buch vorgelegt, das seit seiner Veröffentlichung stark wahrgenommen wurde – und das zu Recht. Die Lektüre kann uneingeschränkt empfohlen werden.

Historische Entwicklungen – Biblische Grundlagen – Gegenwärtige Perspektiven
Freiburg i. Br.: Herder Verlag. 2023
684 Seiten
58,00 €
ISBN 978-3-451-39274-0

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