Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Micha Brumlik: Antisemitismus

Seit dem Anschlag am 9. Oktober 2019 (Yom Kippur) auf die Synagoge in Halle fragen sich immer mehr Menschen, woher dieses Ausmaß an Antisemitismus kommt. Nicht alle kennen die Geschichte, auf der dieser aufbaut, und die Gründe, warum er heute wieder so massiv auftritt. Daher ist das Buch von Micha Brumlik so wichtig und wertvoll. Es ist sehr kompakt und außerordentlich informativ, dass es auch Leser anspricht, die ansonsten keine umfangreichen Bücher über dieses Gebiet lesen möchten. Und diejenigen, die sich mit der Thematik beschäftigt haben, erhalten neue Denkanstöße. Es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, auf nur 100 Seiten eine derartig differenzierte Darstellung zu bringen. Der historische Überblick wird eingeleitet mit dem Kapitel „Betroffen? Ein Jude in Deutschland“; darin thematisiert er die vielfältigen Formen der Judenfeindschaft. Generell ist „Judenfeindschaft“ für ihn ein „soziales Phänomen“, das aus „sozialen Ursachen“ zu erklären ist. Es schließen sich die Kapitel „Judenfeindschaft in der Antike“ und „Christlicher Antijudaismus“ an.

Der Leser erfährt, dass die Juden in der antiken Welt nur abgelehnt wurden, weil sie fremdartig waren, da sie den Kaiserkult ablehnten und ihre Speisegesetze befolgten, was zur Abgrenzung führte. Der christliche Antijudaismus jedoch brachte die Juden in große Gefahr, da sie nun als Kinder des Teufels und Gottesmörder dargestellt wurden. Der Autor skizziert die schlimmen Auswirkungen dieser Behauptungen und erwähnt, dass das Gedankengut des Häretikers Markion (2.Jh.), der eine Entjudaisierung der Bibel forderte, noch bis ins 19./20. Jahrhundert andauerte. Als Beispiel nennt er den Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930), der in seiner Zeit noch für eine Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zum jüdischen Erbe plädierte.

Aber nicht nur die Kirche, sondern auch die feudalen Höfe, die für ihre Repräsentationen immer mehr Geld brauchten, trugen zur Judenfeindschaft bei, indem sie den Juden den Geldverleih gegen Zins geradezu aufzwangen. Auf exzellente Weise werden in dem Buch die Beweggründe und die Zusammenhänge zwischen den Pogromen des Mittelalters und den Kreuzzügen dargelegt.

Den ersten antisemitischen Höhepunkt christlicher Judenfeindschaft sieht der Autor allerdings in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von Martin Luther (1483-1546). Um die „Dämonisierung“ und die Aufrufe zur Vernichtung von Synagogen, Wohnungen sowie kulturellen und religiösen Erbes zu verdeutlichen, bringt er viele Auszüge daraus. Dass daher das lutherische Christentum über Jahrhunderte hinweg dem Judentum gegenüber unversöhnlich blieb, demonstriert der Autor anhand einer Rede des evangelischen Bischofs Martin Sasse (1890-1942), der am 10. November 1938 sagte: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen ... In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der deutsche Prophet im 16. Jh. (galt), … aus Unkenntnis und als Freund der Juden begann ... (und) der Warner seines Volkes vor den Juden (wurde).“ Dadurch, dass immer wieder aus Quellen zitiert wird, wird das Phänomen Antisemitismus greifbarer.

Konträr dazu beginnen die Humanisten sich für die Würde eines jeden Menschen einzusetzen. In dem Kapitel „Aufklärung und Revolution“ wird insbesondere Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) hervorgehoben, der den Juden – in seiner religionsphilosophischen Schrift die „Erziehung des Menschengeschlechts“ – nicht nur Toleranz, sondern sogar Akzeptanz entgegenbrachte. Man erfährt auch, dass diese Haltung von anderen Philosophen und Dichtern wie Immanuel Kant (1724-1804), Ernst Moritz Arndt (1769-1860), Achim von Arnim (1781-1831) sowie Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) nicht geteilt wurde.

Im Kapitel „Antisemitismus: Rassistischer Judenhass“ werden die Anfänge des deutschen Frühantisemitismus beschrieben, der mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 durch Otto von Bismarck einhergeht. Für den Autor ist es eine „paranoide Verarbeitung der durch die einbrechende Moderne und der Durchsetzung des Kapitalismus verursachten gesellschaftlichen Krisen.“ Er legt dar, dass zahlreiche Schriften von Judenfeinden wie Wilhelm Marr (1819-1904), Otto Glagau (1834-1892) und Paul de Lagarde (1827-1891) dazu führten, dass Juden nicht nur über ihren Glauben, der ja veränderbar sein kann, wahrgenommen werden, sondern als sprachlich charakterisierbare Rasse zu definieren sind, was schließlich zu den rassistischen „Nürnberger Gesetzen“ (1935) führte.

Geistesgrößen wie Karl Marx (1818-1883), der ja selbst aus einer jüdischen Familie stammte, erblickt im Judentum ein antisoziales Element; Brumlik sieht im frühen Marx einen systematischen Judenfeind. Das gilt auch für Richard Wagner (1813-1883), der mit seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ Bayreuth zur Hochburg des „mit Bildungsanspruch verbundenen Antisemitismus“ machte. Dies alles war wegbereitend für den von Adolf Hitler proklamierten Antisemitismus der Vernunft, der die Auslöschung des jüdischen Volkes zum Inhalt haben sollte. Exemplarisch dafür, wie der Keim der bösen Saat sich vermehrt, werden die „Protokolle der Weisen von Zion“ angeführt, ein Pamphlet, das 1903 in Russland erdichtet wurde und bis heute in der Charta der palästinensischen Hamas zitiert wird.

Das Kapitel „Heutige Formen des Antisemitismus“ erläutert die verschiedenen Facetten, die heute auftreten, nämlich: Islamistischer Judenhass, israelbezogener Antisemitismus und Rechtspopulismus. Der Autor warnt davor, den Antisemitismus in der muslimischen Gemeinschaft Westeuropas zu tabuisieren, denn diese Menschen wachsen mit einem Judenbild auf, das dem des Stürmers in nichts nachsteht. Dies ist nicht verwunderlich, wenn im staatlich kontrollierten Fernsehen politische Soaps über die Protokolle der Weisen von Zion und Berichte über jüdische Ritualmorde verbreitet werden. Israelbezogener Antisemitismus mischt sich mit judenfeindlichen Bildern, die als Relikte aus der Zeit des Nationalsozialismus transportiert wurden.

„Was können wir gegen den Antisemitismus tun?“, lautet das letzte Kapitel. Brumlik, von Hause aus Erziehungswissenschaftler, stellt die Frage, ob sich in dieser Welt „universalistische Werte“ pädagogisch umsetzen lassen: Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um antisemitischen Denkstrukturen entgegenzuwirken? Die Geschichtsvermittlung im Bereich des Nahostkonfliktes muss intensiviert werden. Hinsichtlich der einseitigen Sichtweisen und Bewertungen in Bezug auf Israel fordert der Autor von den Berichterstattern mehr Hintergrundwissen, um sich objektiv mit dem Israel-/ Palästina-Konflikt auseinanderzusetzen. Am Ende des Buches plädiert er für ein „Demütigungsverbot“. Dieses sollte es geben, egal welcher Herkunft, Kultur und Religion ein Mensch ist.

Dieses Buch leistet einen großen Beitrag zur politischen Urteilsbildung. Es sollte eine Pflichtlektüre sein für alle, die sich eine größere Toleranz in der Gesellschaft wünschen.

100 Seiten
Stuttgart: Reclam Verlag. 2020
102 Seiten m. s-w Abb.
10,00 €
ISBN 978-3-15-020533-4

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