Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Blume: Verschwörungsmythen

In dem Film „Fletchers Visionen“ von 1997 deckt Jerry Fletcher (Mel Gibson) zusammen mit der Staatsanwältin Alice Sutton (Julia Roberts) eine ungeheure Verschwörung auf: Die CIA hat Menschen mit Hilfe von illegalen Experimenten zur Bewusstseinskontrolle gezielt zu Mördern ausgebildet, die in ihrem Auftrag unliebsame Zeitgenossen töten. Jerry Fletcher ist einer dieser Killer. Was den Film sehr spannend macht, ist nicht nur seine rasante Handlung, sondern auch, dass Jerry Fletcher in dem Film glaubhaft weiteren Verschwörungstheorien einen hohen Wahrheitsgehalt verleihen kann, die als moderne Sagen oder Legenden im kollektiven Bewusstsein gespeichert sind, wie z.B. die Versetzung des Trinkwassers mit Drogen durch die Regierung oder die Chemtrails.

Was dem Film „Fletchers Visionen“ einen unterhaltsamen Rahmen bietet, ist ein Thema, das in den letzten zwei bis drei Jahren verstärkt in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit geraten ist. Verschwörungstheorien sind vor allem in der Zeit der Präsidentschaft von Donald Trump und durch die Corona-Pandemie stark befeuert worden. In vielen Medien gab es eine starke Resonanz auf die Thematik, die sich in einer vermehrten Berichterstattung sowie in einer differenzierten Auseinandersetzung zeigte. Dass die Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungen keine harmlosen Spinner sind, zeigte sich beim Sturm auf den Bundestag am 29. August 2020 oder auf das Kapitol am 6. Januar 2021.

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg und von Hause aus Religions- und Politikwissenschaftler, hat dazu ein Buch mit dem Titel „Verschwörungsmythen“ geschrieben. Der Titel ist schon eine Anzeige: Blume verwahrt sich dagegen, den Begriff „Verschwörungstheorien“ zu benutzen, da Theorien auf wissenschaftlichen Grundannahmen und Diskursen beruhen. Anhänger von Verschwörungsmythen wollen Vieles, aber auf keinen Fall eine differenzierte und ausgewogene Auseinandersetzung über ihre Annahmen.

Der Verfasser sieht – ähnlich wie Karl Popper – den Ursprung der Verschwörungsmythen in Platons Höhlengleichnis, das er in seinem Werk „Politeia“ (Der Staat) als Beispiel für den Verblendungszusammenhang heranzieht, in dem Menschen unter diesen irdischen Bedingungen leben und gefangen sind. Schließlich kann sich einer aus der Höhle befreien und die Gefangenen zum wahren Licht der Erkenntnis führen, die in der Höhle nur schattenhaft vorhanden war. Für Blume zeigt dieses Gleichnis zwei Dimensionen von Verschwörungsmythen: 1. Es braucht eine/n starke/n Führer/in, der sich aus dem Verblendungszusammenhang befreien kann und die Menschen zur Wahrheit führt. 2. Ebenfalls beruhen Verschwörungsmythen auf einem dualistischen Weltbild, in dem alles binär kodiert wird: hier das Falsche, Schlechte und Unwahre, dort das Richtige, Gute und Wahre, hier der Feind, dort der Freund (Carl Schmitt).

Blume kann anhand der Beispiele von Hitler und Stalin zeigen, die gezielt Verschwörungsmythen einsetzten, dass die beiden Dimensionen – Führerprinzip und Dualität – in der Geschichte furchtbare Realität wurden und das Leben unzähliger Menschen kosteten. Der Autor zeigt aber auch eine dritte Dimension auf, die mit dem evolutionären Erben des Menschen zu tun hat und sich tief in die neurophysiologischen Strukturen des Gehirns eingegraben hat: Für das Überleben war es wichtig, überall Gefahren wahrzunehmen, auch wenn real keine vorhanden waren. Dieses paranoide Erbe nutzen Verschwörungsideologen aus, um gezielt Ängste zu schüren. Diese werden dann von ihnen aufgegriffen und in einen Mythos gegossen.

Verschwörungsmythen sind aber alles andere als harmlos. Sie beruhen oft auf historischen Vorbildern (z.B. Hexenverfolgung oder antijudaistische Ritualmordlegenden), die heute antifeministische und antisemitische Wiedergänger haben. Zugleich beinhalten sie den perfiden Mechanismus der Schuldumkehr: Den Opfern wird auf Grund bestimmter Verhaltensweisen und äußerlicher Merkmale die Schuld gegeben, dass sie Verfolgungen, Schmähungen und Angriffen ausgesetzt sind. Zugleich sind sie zutiefst autoritär, antidemokratisch und wissenschaftsfeindlich, weil Demokratie und Wissenschaft vom Austausch, von Kritik und differenzierter Auseinandersetzung leben. Dies alles scheuen Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsmythen wie der Teufel das Weihwasser. Im letzten Kapitel zeigt der Verfasser auf, wie angemessen auf Verschwörungsmythen und deren Anhänger reagiert werden kann. Dafür erzählt er anschaulich aus seiner Praxis als Antisemitismusbeauftragter und als Dozent und macht Mut, es ihm gleichzutun.

Michael Blumes Buch ist für einen ersten Einstieg in die Thematik sehr gut geeignet. Man merkt, dass es aus der Praxis für die Praxis geschrieben ist. Es ist gut lesbar und regt dazu an, sich weiter mit Verschwörungsmythen auseinanderzusetzen, auch durch die Literatur, die im Anmerkungsapparat erwähnt wird. Von daher kann das Buch zur Lektüre sehr empfohlen werden. Kritisch zu vermerken ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses, was schade ist, weil die verwendete Literatur sehr interessant ist, aber mühsam aus dem Anmerkungsapparat herausgefiltert werden muss. Ebenfalls wäre ein gründlicheres Lektorat hilfreich gewesen, das die doch recht vielen grammatikalischen Fehler hätte eliminieren können. Weiterhin wäre noch zu fragen, ob das platonische Höhlengleichnis wirklich nur im Sinne des Urtyps aller Verschwörungsmythen gedeutet werden kann. Ist in ihm nicht auch ein aufklärerischer Impetus zu finden?

Woher sie kommen, was sie anrichten
Ostfildern: Patmos Verlag. 2. Aufl. 2020
160 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-8436-1286-9

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