Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Stausberg: Die Heilsbringer

Im Zusammenhang der Weltausstellung 1893 in Chicago fand das erste Weltparlament der Religionen statt. Es dauerte 16 Tage, insgesamt wurden 216 Vorträge gehalten. Der Religionswissenschaftler Michel Strausberg nimmt dieses Ereignis, dem er eine globale Bedeutung beimisst, zum Anlass und zeitlichen Ausgang seiner Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert. Sein 20. Jahrhundert endet mit den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001. Was beim Weltparlament der Religionen in Chicago zum ersten Mal in die Weltöffentlichkeit trat, war, Strausberg zufolge, Religion als Kategorie neben anderen Kategorien der Wirtschaft, Politik, Geschichte, Wissenschaft usw. Erstmals traten (nur sehr wenige) Vertreterinnen und (sehr viele) Vertreter unterschiedlichster Religionen zusammen und begriffen sich eben als solche – Vertreter oder Vertreterinnen von Religion. Eingeladen war die religiöse Elite der jeweiligen Denominationen, Menschen also, die ihre jeweiligen Glaubenswahrheiten kommunikativ zum Ausdruck bringen konnten. Alle anderen religiösen Denominationen, die diesen rationalen Aspekt nicht erfüllen konnten, wurden nicht berücksichtigt. Zu Recht vermerkt Strausberg, dass aus diesem Grund dem Weltparlament der Religionen ein stark westlicher Zuschnitt unterstellt werden muss. Sowohl die Jesidenverfolgungen, wie auch der Völkermord an den Armeniern, der bereits im 19. Jahrhundert begann, waren, neben antijüdischen Pogromen im russischen Zarenreich, Anlässe zur globalen religiösen Zusammenkunft in Chicago.

Dem unübersichtlichen, weiten Feld des Religiösen im 20. Jahrhundert nähert sich Strausberg an, indem er religiöse oder religionsrelevante Persönlichkeiten mit „transnationalen Lebensläufen“ in den Mittelpunkt stellt. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis löst dabei durchaus Irritation aus. Für Strausberg sind nämlich neben Lew Tolstoy, Mutter Teresa, Mahatma Gandhi oder Theodor Herzl auch Adolf Hitler oder der Gründer der Scientology Kirche L.R. Hubbard und Mao Zedong religionsrelevante Persönlichkeiten. Dies hängt mit Strausbergs weitem Religionsbegriff zusammen. Schon allein der Titel seines Buches „Die Heilsbringer“ muss deshalb zwischen ernst gemeinter Beschreibung und ironischer Persiflage oszillieren. Es ist mehr als gewagt, Adolf Hitler in einer Reihe mit Johannes Paul II. oder Lew Tolstoy zu nennen. Insofern Strausberg Religion jedoch unter rein formalen Gesichtspunkten betrachtet, kann er etwa Hitlers pseudoreligiöses Erlösungsdenken als ein Aspekt religiösen Denkens begreifen.

Den Leser erwartet somit ein inhaltsreiches Panorama, das einem religiösen Wikipedia des 20. Jahrhunderts gleichkommt. Strausbergs reichhaltiges Nachschlagewerk zeigt die globalen Verzahnungen unterschiedlichster religiöser Persönlichkeiten. Das Buch macht insbesondere klar, dass religiöse Persönlichkeiten vielschichtig und schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Viele religiöse Phänomene, die uns heute selbstverständlich erscheinen, gehen auf Persönlichkeiten zurück, die im 20. Jahrhundert starke Wirkung entfaltet haben. Denken wir an die Weltjugendtage, die auf Papst Johannes Paul II. zurückgehen, denken wir an den Yoga-Boom, der bis heute anhält und in erster Linie auf den populären Guru Swami Vivekananda zurückgeht, oder denken wir an die fatalen Einflüsse, die Sayyid Qutb, der Vordenker des Islamismus, auf das arabische Amerika-Bild hatte, nachdem er seine Reportagen vor dem Hintergrund seiner Amerikareise Mitte des 20. Jahrhunderts in Ägypten publizierte.

Die große Stärke dieser religionswissenschaftlichen Perspektive ist gleichzeitig ihre Schwäche. Qua Definition ist sie nicht in der Lage, inhaltliche Bewertungen unterschiedlicher religiöser Ansprüche vorzunehmen. Sie stellt nicht die berühmte Wahrheitsfrage, was ihr großer Vorteil ist. Dass diese Wahrheitsfrage aber auch heute noch von Relevanz ist, zeugt die Zusammenstellung der religiösen oder religionsrelevanten Persönlichkeiten von Strausberg. Wer wirklich – aus der Sicht einer dezidiert religiösen oder ethischen Sicht – ein Heilsbringer ist und wer wirklich kein Heilsbringer ist, kann nur eine theologisch-normative bzw. ethisch-normative Perspektive entscheiden. Das weiß auch Strausberg, weshalb ihm kein Vorwurf zu machen ist. Aus einer neutralen Warte zeigt er gerade die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit ebensolcher religiöser Geltungsansprüche, über die es gilt, inhaltlich im Dialog zu bleiben. Nur so kann der andere oder die andere in ihrem weltanschaulich-religiösen Anspruch ernst genommen werden.

Michael Strausbergs „Die Heilsbringer“ gehört in jede Bibliothek kritischer Zeitgenossen, ob nun selbst religiös oder nicht. Denn ohne die Einflüsse religiöser oder religionsrelevanter Personen lebten wir heute unter anderen Einflussbedingungen, unsere Gegenwart wäre definitiv eine andere.

Eine Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert
München: Verlag C.H.Beck. 2020
783 Seiten m. s-w Abb.
34,00 €
ISBN 978-3406-75527-9

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