Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michel de Certeau: Täglich aufbrechen zu den anderen …

Wer in Gott eintaucht, taucht beim Nächsten auf – und wer sich wirklich auf den Anderen und Fremden als Nächsten einlässt, ist schon von Gott ergriffen. Diese mystisch-politische Grunddynamik des biblischen Hauptgebotes spiegelt sich vielfarbig in Glaubensbiografien, bisweilen gar abbildlich in deren Lebenshälften. Dass z.B. der jetzige Papst sich derart politisch und ökologisch äußert, dass es die verbürgerlichten Kirchen Deutschlands eher verschreckt als ermutigt, hat tiefe Quellen in seiner ignatianischen Prägung und jesuitischen Geschichte: Die stets höhere Ehrung Gottes und das Wohl der Erde gehören zusammen. Auch im Leben und Wirken seines Ordensbruders Michel de Certeau (1925-1986), einem der Lieblingstheologen von Papst Franziskus, zeigt sich diese Spannung von Gottes- und Fernstenliebe, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit desselben Engagements. Ab den berühmten 68er Jahren wird Certeau sich immer mehr und bis zum Äußersten dem säkularen Denken und Leben aussetzen, heraus aus der gelernten Gestalt von Kirche und Theologie und hinein in das interdisziplinäre und interkulturelle Spiel der globalen Weltkräfte. Aber dieser mutige Aufbruch an die Peripherien und hinein in die vermeintlichen Brennpunkte postmodernen Lebens lebt zutiefst von dem Kraftfeld christlicher Innerlichkeit, das mit Gebet und Christusverbundenheit markiert ist: Gott in allen (!) Dingen finden und kontemplativ sein mitten in der höchst aktiven und ganz solidarischen Auseinandersetzung mit „den“ Menschen von heute, gerade auch fern aller Christlichkeit oder gar Kirchlichkeit (vgl. zum Ganzen Christian Bauer, Marco Sorace: Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019).

Die hier gebündelten Aufsätze des frühen Certeau (von 1958, also zwei Jahre nach seiner Priesterweihe und acht nach dem Eintritt bei den Jesuiten bis 1967) offenbaren, höchst folgenreich auch für später, die tief christliche Prägung und Bindung in Orden und Kirche. Das frühe Porträt von Peter Faber, dessen Schriften er ediert, liest sich wie das Sehnsuchtsbild seiner selbst, das er später wirklich realisiert; Vergleichbares gilt von dem Aufsatz zu Jean-Joseph Surin, Jesuiten-Mystiker der zweiten Generation, dessen Werke er erschließt und als eine Art Double begreift. Immer geht es um den ständigen Aufbruch zu Gott und zum Nächsten als einer unendlichen Pilgergeschichte. Das Exerzitienbuch des Ignatius wird dafür als eine Art Wanderkarte und Wegbeschreibung erschlossen – das stets für den unverwechselbar eigenen Weg hier und heute und in wissender Hoffnung, dass Gott uns in allem schon entgegenkommt und Mitgehende sucht. Alle Dinge „rufen uns auf, von innen und außen uns der Arbeit Gottes zu öffnen“ (162). Alles kommt darauf an, dieser (wechselseitigen!) „Sehnsucht Raum zu geben“ – der Sehnsucht des Menschen nach Gott und der Sehnsucht Gottes nach uns Menschen (wie der zeitlich letzte Aufsatz von 1967 entfaltet). Und das nicht primär in den gewohnten innerkirchlichen Bahnen und Sprachspielen, sondern in der Anonymität der vermeintlich gottlosen Welt und mit ihr. Ebenso bewegend wie bezeichnend dafür ist der Aufsatz über „Das Gebet von Arbeitern“. Certeaus Theologie im Ganzen ließe sich als Gebetslehre und -praxis buchstabieren: Existenz, Alltag und Welt ins Gebet nehmen. Trefflich hat man Certeaus Aufsatz „Ignatianischer Universalismus“ von 1966 ans Ende der reichhaltigen Dokumentation gestellt. Ganz im Sinne der Konzilszeit wird hier die ignatianisch-christliche Spannung von „Mystik und Sendung“ entfaltet.

Ähnlich lehrreich sind die Meditationen zu Bibeltexten wie Emmausgang oder Himmelfahrt, in die der jüngst verstorbene Übersetzer aller Texte, Andreas Falkner SJ, selbst einführt. Seine Überschrift „Geschichte verspüren“ trifft genau, weil sie ganz antiidealistisch auf der konkreten Lebenspraxis besteht und die geistliche Intuition und Glaubensphantasie betont. Nie werden die neutestamentlichen Texte bloß museal oder archäologisch gelesen, immer „als wär‘s ein Stück von mir“ und im Kon-Text des Hier und Jetzt. Der exegetisch Geschulte und Gebildete wird bisweilen schlucken ob der angewandten Hermeneutik unmittelbarer Aneignung und Übersetzung, aber mit Zielrichtung und Lernergebnis kann er nur zustimmend sich mit auf den Weg machen: die Bibel insgesamt ist ja Exilliteratur und will genau in dem Geist gelebt und verstanden werden, in dem sie geschrieben ist: als Aufbruchs- und Weggeschichte.

Die 14 Beiträge sind nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet und untereinander nicht weiter verknüpft. Die sensible Hinführung hilft zur Vernetzung. Eine stärkere Verbindung mit den gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen damals hätte nahe gelegen, lesen sich Certeaus Meditationen doch auch als Brunnenstube und Begleitmusik des konziliaren Aufbruchs. Papst Franziskus hat Recht: Certeau gehört mit der hier mehr „spirituellen“ und dann mehr „politischen“ Lungenhälfte seiner Mystik zu den wichtigsten Theologen heute. „Pater Schmetterling“ war einer von Certeaus Spitznamen zu Lebzeiten, und solch sensible Seismografen des Klimas werden heutzutage schmerzlich vermisst. Aber mit dem Gott-Vermissen fängt alles an, und dann braucht es die Wahl und dann die Entscheidung: „nicht ohne die Anderen“ – und „den“ Anderen.

Reflexionen zur christlichen Spiritualität
Herausgegeben von Andreas Falkner SJ
Unter Mitarbeit von Christoph Benke
Mit einer Hinführung von Sr. Anna Elisabeth Rifeser
Würzburg: Echter Verlag. 2020
172 Seiten
14,90 €
ISBN 978-3-429-05510-3

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