Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Notger Slenczka: Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften

Evangelische Theologie reserviert das Wort „Dogma“ in der Regel für die großen altkirchlichen Lehrentscheidungen und fasst die normativen und konfessionsgründenden Texte des 16. und ggf. späterer Jahrhunderte als „Bekenntnisse“. Lutheraner folgen dabei dem Ideal des einheitlichen Bekenntnisstandes („una doctrina“), die reformierte Bekenntnisbildung betont, dass Bekenntnis situativ erfolgt und unter Änderungsvorbehalt steht („ecclesia semper reformanda“). Eine Theologie der Bekenntnisschriften gehört in beiden Traditionen zu den Großwerken konfessioneller Selbstverortung und -vergewisserung, weil sie nie nur Historisches zu den Bekenntnistexten liefert, sondern Angebote zu ihrem Verständnis und zu ihrem Stellenwert in der jeweils gegenwärtigen Debatte unterbreitet.

Von diesem Buch gilt das in pointierter Weise. Zunächst die Hermeneutik: Sie bricht entschlossen mit der Idee, die Bekenntnisschriften enthielten wahre Sätze, die von allen Gläubigen zu glauben seien. Vielmehr: Der Mensch vor und mit Gott ist das eigentlich interessierende Thema. Gegenständliche Rede über Gott ist demgegenüber und daraufhin grundsätzlich relativiert. Die Bekenntnisse sind freilich voll davon. Ihr Sinn erschließt sich, wenn man fragt, woraufhin sie ihre Theorie entfalten: auf „eine Situation der menschlichen Selbsterfahrung“ (44), „ein bestimmtes Selbstverständnis“ (60), nämlich auf eines, das von Kreuz und Auferstehung Christi bestimmt ist und das mit einem Wort Schleiermachers das „Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (564) ist.

Das Buch enthält ausführliche historische Informationen zu den lutherischen und reformierten Bekenntnissen, sortiert diese aber systematisch. Es geht um den Begriff der Kirche, um das Schriftverständnis, um Sünde, Evangelium, Glaube und das neue Leben in Christus, schließlich um Sakramentenlehre und Christologie. Leitend bleibt in diesen Berichten und Diskussionen die Idee, dass all dies gesagt werden kann und vielleicht gesagt werden muss, um etwas zu formulieren, was mit den objektsprachlichen Sätzen nicht identisch ist: Glaube als Selbstverhältnis, das sich in Christus begründet weiß. (390) Hier ist der Mensch ganz bei sich und zugleich sind Gott und Mensch eins. (611)

Diese Denkfigur wird im Neuprotestantismus oft entschieden gegen die Orientierung an den reformatorischen Bekenntnisschriften vorgebracht, die sich dann dem Vorwurf des traditionsverhafteten Objektivismus ausgesetzt sehen. Slenczkas Anspruch, gerade aus den Bekenntnisschriften zum mit sich selbst übereinstimmenden Subjekt als Ort der Gemeinschaft mit Gott zu gelangen, ist eine originelle und gelehrt vorgetragene Pointe: Die existentiale Wahrheit theologischer Aussagen ist stets wichtiger als ihr objektiver Gehalt, der gar gegen Null gehen kann. (608) Weil sie aber zu dieser existentialen Wahrheit führen, sind sie unverzichtbar.

Diese Pointe ist mit einer weiteren Sonderstellung des Buches verbunden: Slenczka bespricht lutherische und reformierte Bekenntnisse und er rekurriert ausführlich auf die Barmer Theologische Erklärung (BTE) der Bekennenden Kirche (1934) und auf die Leuenberger Konkordie (1973), in der Reformierte und Lutheraner Kirchengemeinschaft erklärten. Die BTE wird von lutherischer Seite in der Regel zwar gewürdigt, aber nicht unter die Bekenntnisse gezählt, was Slenczka geändert sehen will: Evangelische Bekenntnisse überhaupt – mit stärkerer Betonung des lutherischen Corpus doctrinae, begründet in seiner systematischen Geschlossenheit – konvergieren in der Unterscheidung von Lehre und der ihr vorausliegenden Wirklichkeit des Glaubens. (695) Kritisch fällt dabei das Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie und Kirche aus: Die altkirchlichen Dogmen/Bekenntnisse zur Trinität und zur Gottessohnschaft Christi bilden nicht den größeren Rahmen des übergreifend Christlichen, in den sich die Reformation als Kirche unter Kirchen einzeichnet. Vielmehr wird von den reformatorischen Kirchen präzise die anderweitig verdeckte Wahrheit der alten Bekenntnisse freigelegt. (412) Offen bleibt daher die Frage, ob die wechselseitigen katholisch-evangelischen Verwerfungen wirklich gegenstandslos sind, wie die jüngere Ökumene es behauptet. Auch können die beiden Konfessionen einander nicht als Kirche anerkennen. (71-73) Die differenzierte Einheit der reformatorischen Konfessionsfamilie geht also mit einer harten Abgrenzung von der Kirche Roms einher.

Dies Ergebnis ist sprechend für ein betont neuzeitliches und in der Tradition der liberalen Theologie angelegtes evangelisches Selbstverständnis. Es wäre ausnehmend interessant, eine Antwort aus der Perspektive katholischer Dogmenhermeneutik zu vernehmen.

Einheit und Anspruch
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2020
735 Seiten
48,00 €
ISBN 978-3-374-06531-8

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