»Nicht nur irgendein Mittel der Verkündigung«
Im Gespräch über die Ausstellung »Reliquie Mensch« mit Werken von Michael Morgner an der Philosophisch- Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main
Die Frage stellte Thomas Menges
Schülerinnen und Schüler bewegen sich heute ganz selbstverständlich in einer digitalen
Bilderwelt; ihr schulischer Unterricht ist auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet.
Beobachten Sie Auswirkungen auf die Studierfähigkeit ihrer Studentinnen und Studenten –
und wenn ja, welche?
Ein sehr weites Feld … Vielleicht knapp: Wer mit einer deutschen Schulbiographie
ins Studium kommt, bringt eine breite Vielfalt von Kompetenzen aus unterschiedlichen
Fächern mit. Der Blick auf das Ganze, das Ineinander-Gehen und Aufeinander-
Bezogensein der einzelnen Fächer könnte stärker sein. Ein Beispiel: romantische
Gedichte in Deutsch, Englisch und Spanisch verbunden mit Geschichte, Religion und
Kunst. Zudem führt die Bilderflut nicht gerade zu einer größeren Fähigkeit, mit Texten
umzugehen, sie zu strukturieren, zu analysieren und komplexe Inhalte wiedergeben
zu können.
Sankt Georgen ist für die Auseinandersetzung mit moderner Kunst bekannt, wofür der Name
Friedhelm Mennekes steht. Sie stehen in dieser Tradition. Mit welchen Absichten konfrontieren
Sie Ihre Studentinnen und Studenten mit zeitgenössischer Kunst?
Zunächst finde ich es wichtig, dass zeitgenössische Kunst an der Hochschule präsent
ist. Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, mit ihr, besser vielleicht: über
sie, mit Künstlerinnen und Künstlern ins Gespräch zu kommen, zuzuhören, zu entdecken,
was und wie sie denken, fühlen, wie sie die Welt sehen und deuten. Kunst
ist keine bloße Dekoration, die man eben an die Wand hängt – sei es zuhause oder in
der Kirche. Sie sagt etwas aus. Ihre Auswahl sagt etwas aus über die Menschen, die
sich in ihr bewegen, sich mit ihr auseinandersetzen. Es ist ungemein spannend zu
beobachten, wie Studierende miteinander über die ausgestellten Kunstwerke sprechen
und sich der Diskurs auf dem Hochschulcampus verändert – nicht nur unter
den Studierenden, sondern auch mit den Lehrenden und den Angestellten aus den
nichtakademischen Bereichen. Es geht darum, für (zeitgenössische) Kunst zu sensibilisieren
und die Scheu zu nehmen, sich über Kunst auszutauschen – auch und vor
allem mit den Künstlern.
Zwischen Ostern und Pfingsten 2024 stellen Sie Werke von
Michael Morgner an verschiedenen Orten in Sankt Georgen
aus. Wie sind Sie auf diesen Künstler gekommen – und welche
Impulse versprechen Sie sich für die Studierenden und
die Hochschule?
Michael Morgners Werke kannte ich aus verschiedenen
Orten und Sammlungen. Der Kontakt kam über Armin Nagel
vom »Freundeskreis Sankt Georgen e.V.« zustande. Ich bin
sehr dankbar, dass sich Herr Morgner auf einen intensiven Dialog
eingelassen hat, den ich sehr anregend fand! Wir haben uns am
Ende für drei großformatige Bilder aus dem letzten Drittel des Jahres
2023 entschieden, die sich mit den Katastrophen des Krieges, des Terrors
und der Vernichtung menschlichen Lebens auseinandersetzen. Zudem zeigen wir
ein Fastentuch aus japanischem Seidenpapier und ein Kreuz. Sie ergeben zusammen
ein Ganzes an mehreren Orten und aus unterschiedlichen Materialien zum Thema
»Reliquie Mensch«. Die Erfahrungen von Tod, von Verlust und Angst, von Unfreiheit
und Manipulation, von Aufstehen und Widerstand, von Neuanfang und Neuaufbruch
nach Schicksalsschlägen sind allgemeinmenschliche. Sein Schrei, sein Appell an das
Humane, an die Umkehr finde ich spannend, anders
als wir es vielleicht gewohnt sind. Hier liegt die
Chance des Gesprächs: mit dem Künstler aus seiner
ostdeutschen Biographie heraus, untereinander und
damit letztlich auch als angehende Theologinnen
und Theologen mit den Menschen, denen wir ja verantwortbare
Antworten auf ihre Fragen geben können
wollen.
»Es geht darum,
für Kunst zu
sensibilisieren und
die Scheu zu nehmen,
sich über Kunst
auszutauschen«
Das Thema des vorliegenden Eulenfischs ist »kulturelle
Diakonie«. Lassen sich damit Ihre Initiativen zur modernen
Kunst fassen?
Sicher! Als Kirche waren wir über Jahrhunderte
die Hauptauftraggeberin für Künstlerinnen und
Künstler in Musik, bildender Kunst oder Architektur.
Wir verfügen immer noch über enorme Schätze und
Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. Aber Kunst ist
nicht nur irgendein Mittel der Verkündigung oder
der Anlass, Menschen in unsere Häuser zu holen. Kunst ist nicht nur Dekoration und
irgendwie schön oder provozierend. Kunst hat einen eigenen Wert. Mit Künstlerinnen
und Künstlern über ihre Arbeiten in ein Gespräch zu kommen erweitert meinen Blick
auf diese Welt und die vielfältigen Deutungen der Gegenwart. Wenn Kirche sich dieser
Herausforderung nicht stellt, wird sie nicht nur zum Museum, sie läuft Gefahr,
selbst sprachlos zu werden.
Zur Person
Niccolo Steiner SJ , geb. 1976, ist seit 2018 Dozent für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit in Sankt Georgen.