Predigten
Verzeichnis ausgewählter Predigten zu Katharina Kasper aus der Weltkirche
16. April 1978 – Päpstliche Basilika Sankt Peter
Papst Paul VI.
Verehrte Mitbrüder, liebe Söhne und Töchter im Herrn!
Eine neue Selige wird den Gläubigen zur Verehrung vorgestellt: Mutter Maria Katharina Kasper. Ihr habt eben ihre Lebensgeschichte und die Darstellung ihrer Tugenden gehört. Wir wollen uns daher nicht damit aufhalten, ein biographisches Charakterbild zu zeichnen, sondern uns darauf beschränken, einige Worte zur Botschaft dieser Seligsprechung zu sagen, die gerade in dieser liturgischen Zeit, gekennzeichnet von der geistlichen Strahlkraft der Osterfreude, die ganze Kirche erfreut. Diese Seligsprechung löst in einer nicht kleinen Ordensfamilie, nämlich der »Armen Dienstmägde Jesu Christi«, Jubel und Zustimmung aus, denn sie stellt das Beispiel einer Frau zur gemeinsamen Erbauung hin, die ihrer deutschen Heimat dadurch Ehre erwiesen hat, dass sie der Welt das tätige Zeugnis eines Katholizismus gab, der sich zur Ehre Gottes in den Dienst des Nächsten stellt. Bereits das Erdenleben dieser Frauengestalt, ihr fester Glaube, ihre Seelenstärke sind für uns wahrhaft eine Lektion echten Lebens nach dem Evangelium, weil sie sich ganz auf den Spuren des göttlichen Meisters bewegte. Als einfache, arme Bauerntochter lebte Katharina (die später den Namen Maria Katharina annahm) wie Jesus selbst in Arbeit und Entbehrungen und nahm die Demütigungen und Widerwärtigkeiten, denen sie auf ihrem Weg begegnete, als Willen des himmlischen Vaters an. Vor allem widmete sie sich wie er mit unermüdlicher Sorge der Linderung der vielfältigen Formen körperlichen und geistigen Elends: sie widmete sich armen und verlassenen Kindern, eröffnete Schulen, spendete den Kranken Hilfe und Trost, stand den Alten bei, und das alles immer mit einem Herzen, das von großer Liebe zu den bedürftigen Brüdern und Schwestern brannte. Diese Liebe wurde durch einen ständigen, gleichsam angeborenen Dialog mit jenem »Gott des Trostes« (2Kor 1,3) genährt, der sich eher durch die Liebe als durch ängstliche Spekulation erkennen lässt. Eben dieser schlichten Frau, der alle Mittel des technischen Fortschritts fehlten, die weder über Bildung noch über Geld verfügte, gelang es, ein großes kulturelles und soziales Werk ins Leben zu rufen, womit sich die tiefe Wahrheit der Worte des hl. Paulus bestätigte, wonach »Gott das Schwache in der Welt erwählt hat, um das Starke zuschanden zu machen« (1Kor 1,27).
So sind auch die freiwillige Armut und bewundernswürdige Nächstenliebe der Mutter Maria Katharina, die in einen hochherzigen Dienst an den Ärmsten und Verlassenen übersetzt wurden, eine ernste und dringende Mahnung an unsere heutige Generation, die sich nur zu oft um jeden Preis dem privaten und egoistischen Besitz und der Genusssucht hingibt. Die neue Selige stellt dem aufdringlichen Materialismus und der Konsumsucht der heutigen Gesellschaft die selbstlose Hingabe an alle Leidenden entgegen, so dass Solidarität und Mitmenschlichkeit - von denen man heute soviel spricht - keine bloßen Worte mehr bleiben, sondern zur konkreten, täglichen Pflichtübung werden, die das Christentum zu seinen strahlendsten Gipfeln führt. Für Mutter Katharina war Gott alles. Ihre kindliche Liebe zu ihm hat in einer unbegrenzten Liebe zum Nächsten ihren authentischen Ausdruck gefunden. Diese unvergleichliche Lehre von der Liebe zu Gott, die sich in der Liebe zu den Brüdern und Schwestern verwirklicht, ist die eigentliche Botschaft, die die neue Selige der Kirche und der Welt hinterlassen hat.
Das segensreiche Lebenswerk der seligen Maria Katharina Kasper ist ebenso wie ihre persönliche Heiligkeit vor allem ein Geschenk der göttlichen Vorsehung und Gnade. »Ich konnte und wollte das nicht«, pflegte sie zu sagen, »Gatt hat es gewollt«. Sie selbst wünschte nur, gefügiges Werkzeug in den Händen des göttlichen Meisters, eine arme und demütige Dienstmagd Jesu Christi zu sein.
Der Name »Arme Dienstmägde Jesu Christi«, den Mutter Maria Katharina in gnadenhafter Fügung ihrer Ordensgemeinschaft gegeben hat, offenbart uns die innere Persönlichkeit und die Spiritualität der Gründerin selbst. Persönliche Armut und Liebe zu den Armen, Einfachheit und Demut und dienende Hingabe an die Mitmenschen um Christi willen sind die wesentlichen Merkmale, die die Frömmigkeit und das Apostolat unserer neuen Seligen auszeichnen. Es werden uns von ihr keine großartigen Eigenschaften und außergewöhnlichen Taten berichtet. Sie selber hat schlicht und dennoch eindrucksvoll vorgelebt, was sie von ihren Mitschwestern fordert: »Alle unsere Schwestern müssen Heilige werden - aber verborgene Heilige!«. Mutter Maria Katharina ist uns Vorbild besonders durch ihre Treue und Gewissenhaftigkeit in den kleinen, unscheinbaren Pflichten des Alltags und in ihrem Verlangen, in allen Lebenssituationen den Willen Gottes zu erfüllen. Ein klarer Blick für das Notwendige und stets hilfsbereite Liebe zum Nächsten verbinden sich bei ihr mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit, wenn es gilt, Gottes Gebot und Fügungen anzuerkennen und zu verwirklichen. Der Leitsatz ihres Handelns lautet: »Der heilige Wille Gottes soll und muss geschehen in mir, durch mich und für mich«. Aus dieser innersten Verbundenheit und Übereinstimmung mit Gottes Wollen und Handeln wird ihr eigenes Wirken und ihr ganzes Leben zu einem immerwährenden Gebet und Lobpreis Gottes. Auch der soziale Dienst ist letztlich für sie Gottesdienst und Mittel zur Heiligung der Welt.
Zu der hohen Ehre und Auszeichnung, die die Kirche Mutter Maria Katharina Kasper durch die heutige Seligsprechung erweist, beglückwünschen wir von Herzen insbesondere alle Schwestern der Ordensgemeinschaft der »Armen Dienstmägde Jesu Christi«. Die Kirche lädt sie von nun an noch nachdrücklicher dazu ein, dem leuchtenden Vorbild ihrer seligen Stifterin nachzueifern und ihr geistliches Vermächtnis treu zu wahren. Ebenso herzlich grüssen wir alle anderen anwesenden Pilger aus Dernbach, dem Geburtsort der neuen Seligen, und aus deren Heimatdiözese Limburg zusammen mit ihrem Oberhirten Monsignor Kempf. Wir danken zugleich den Vertretern der staatlichen Behörden für ihre Teilnahme an dieser denkwürdigen Feier, durch die die Kirche das Andenken einer großen Tochter ihrer deutschen Heimat ehrt. In inniger Mitfreude empfehlen wir Sie alle der mütterlichen Fürsprache der neuen Seligen.
13. Oktober 2018 – Päpstliche Basilika Sankt Peter
Angelo Cardinal Comastri
Generalvikar Seiner Heiligkeit für die Vatikanstadt
Erzpriester der päpstlichen Basilika St. Peter
1) Im Leben von Mutter Maria Katharina Kasper, geboren in der Diözese Limburg, zeigt sich deutlich der Stil, in dem sich Gott in unseren menschlichen, verschlungenen Angelegenheiten bewegt: Um Großes zu tun, gebraucht Gott immer demütige und einfache Menschen, denn nur die Demütigen sind in Einklang mit dem Herzen Gottes und treiben die Geschichte in die Richtung, die Gott will.
Don Agostino Roscelli, ein heiliger Zeitgenosse der Mutter Maria Katharina, bemerkte:
„Im Himmel waren sicherlich nicht alle Märtyrer, nicht alle waren Missionare in fernen Ländern, nicht alle waren Theologen …, aber es gibt nicht eine einzige Person, die nicht demütig war.“
Die Demut ist der Paß, um ins Paradies einzutreten …, weil das Paradies Gott ist …. und Gott demütig ist! Jesus war deutlich:
„Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29).
2) Die Gottesmutter ist der sensationellste Fall: Gott hat sie wegen ihrer Demut erwählt. Und die Gottesmutter hat dies im Magnifikat deutlich erklärt, als sie sagte:
„Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (Lk 1,46-48).
Und die Geschichte der Heiligen (vom hl. Petrus bis hin zum hl. Franziskus und Mutter Teresa von Kalkutta) bestätigt diesen Stil Gottes.
3) Mutter Maria Katharina Kasper ist eine weitere Bestätigung. Sie war die Tochter demütiger Eltern (so wie Bernadette Soubirous die Tochter eines gescheiterten Müllers war). Mutter Maria Katharina kannte in ihrer Jugend viele Opfer: Um der Familie zu helfen, brach sie sogar Steine. Und sie beschwerte sich nie: Sie blieb immer ruhig und lächelnd.
Das Leiden ließ sie reifen (Opfer sind in der Tat die beste Medizin, um aus Egoismus und Stolz herauszukommen).
Sie spürte die Berufung, die Armen zu suchen und ihnen zu helfen, vor allem mit der Liebe, die die Manifestation Gottes durch unser Leben ist.
In diesem Zusammenhang ist eine Episode aus dem Leben von Mutter Teresa von Kalkutta exemplarisch, die in vollkommener Übereinstimmung mit dem Leben von Maria Katharina Kasper steht.
Eines Tages wurde eine Leprakranke, aus einer offenen Kanalisation aufgesammelt, in das „Haus des Unbefleckten Herzens“ in Kalkutta gebracht … mit Füßen, die von Ratten angenagt waren: der Anblick war ekelhaft. Mutter Teresa wollte dieser beeindruckenden Inkarnation des Schmerzes persönlich beistehen und zog aus ihrem Herzen alle Zärtlichkeit, die sie besaß.
Die Leprakranke ließ sie gewähren, während aus ihrem Mund Worte der Verzweiflung und des Fluches kamen.
Im Folgenden der Dialog, der zwischen der armen Aussätzigen und Mutter Teresa stattfand.
Die Aussätzige sagte:
- Es waren meine Kinder, die mich wie einen Müllsack wegwarfen. Sie seien verflucht!
* Verflucht sie nicht! Eine Mutter muss immer segnen!
- Wer bist denn du? Warum tust du das? Warum behandelst du mich mit so viel Liebe?
* Ich tue das, weil ich dich liebe.
- Du liebst mich? Aber du kennst mich doch nicht. Wer hat dich gelehrt, so zu handeln?
* Das hat mich mein Gott gelehrt.
- Dein Gott? Und wie heißt er?
* Mein Gott heißt Liebe!
- Ich bitte dich, lass mich ihn kennenlernen!
* Du kennst ihn bereits. In meinen Händen ist Er es, der dich streichelt, in meinen Augen ist Er es, der dich anschaut, in meinem Lächeln ist Er es, der dich anlächelt, in meinem Herzen ist Er es, der dich liebt.
- Was für eine wunderbare Nachricht hast du mir gegeben! Gott ist Liebe, und ich wusste es nicht. Danke! Gott ist Liebe, und ich wusste es nicht.
Die aussätzige Frau, die auch von ihren Kindern verworfen worden war, starb mit diesem Ausruf auf den Lippen: Mutter Teresa hatte ihr in den letzten Augenblicken ihres sehr ärmlichen Daseins Hoffnung gegeben …, und so ist sie auf Gott zugegangen, der die Liebe ist.
Unser christliches Leben muss ein Zeichen der Liebe sein, um in anderen die gleiche Frage zu wecken wie bei der armen Frau von Kalkutta: „Lass mich deinen Gott kennenlernen!
Mutter Maria Katharina Kasper hat sich in diese Richtung bewegt und schickte denjenigen, die ihr begegneten, einen Strahl des Lichts Gottes. Wie? In dem sie Demut und Liebe in vorbildlicher Weise, heroisch und still lebte.
Es ist das, was auch wir tun sollten.
Und das ist der richtige Weg, die neue Heilige zu ehren, die im fruchtbaren Boden des deutschen Katholizismus erblüht ist.
14. Oktober 2018 – Petersplatz
Papst Franziskus
Die zweite Lesung sagte uns: »lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und scharf« (vgl. Hebr. 4,12). Genauso ist es. Das Wort Gottes ist nicht nur eine Sammlung von Wahrheiten oder eine erbauliche spirituelle Erzählung, nein, es ist lebendiges Wort, das das Leben berührt, das es verwandelt. Dort spricht Jesus in Person zu unseren Herzen, derjenige, der das lebendige Wort Gottes ist.
Insbesondere das Evangelium lädt uns zu einer Begegnung mit dem Herrn ein, nach dem Beispiel jenes Mannes, der »auf ihn zulief« (vgl. Mk 10,17). Wir können uns in diesem Mann wiederfinden, dessen Name im Text nicht erwähnt wird, was ein Hinweis dafür sein könnte, dass er für einen jeden von uns steht. Er fragt Jesus, was er tun müsse, um »das ewige Leben zu erben« (V. 17). Er erbittet immerwährendes Leben, Leben in Fülle: wer von uns wollte das nicht? Aber, wir merken, er bittet darum wie um ein Erbe, das er haben möchte, wie um ein erhältliches Gut, das er aus eigener Kraft erlangen kann. Denn um dieses Gut zu besitzen, hält er seit seiner Kindheit die Gebote, und um dieses Ziel zu erreichen, ist er bereit, noch weitere Gebote zu halten; deshalb fragt er: »Was muss ich tun, um zu haben?«
Die Antwort Jesu bringt ihn in Schwierigkeiten. Der Herr blickt ihn liebevoll an (vgl. V. 21). Jesus ändert die Blickrichtung: von den Geboten, die er befolgt, um einen Lohn zu erhalten, hin zu einer unentgeltlichen und totalen Liebe. Dieser Mann sprach in der Begrifflichkeit von Angebot und Nachfrage, Jesus hingegen bietet ihm eine Liebensgeschichte. Er verlangt von ihn, von der Einhaltung der Gesetze zur Hingabe überzugehen, von einem selbstbezogenen Handeln zu einem Sein mit ihm. Und er macht ihm einen für sein Leben „einschneidenden“ Vorschlag: »Verkaufe, was du hast, gib es den Armen […], dann komm und folge mir nach!« (v. 21). Auch zu dir sagt Jesus: „Komm, folge mir nach!“ Komm: steh nicht still, denn um zu Jesus zu gehören reicht es nicht aus, dass man nichts Schlechtes tut. Folge mir nach: lauf Jesus nicht nur dann hinterher, wenn es dir passt, sondern suche ihn jeden Tag; begnüge dich nicht damit, Gebote zu befolgen, Almosen zu geben und Gebete zu sprechen; finde in ihm den Gott, der dich immer liebt, den Sinn deines Lebens, die Kraft zur Hingabe.
Jesus sagt dann weiter: »Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen«. Der Herr spricht nicht theoretisch über Armut und Reichtum, sondern es geht ihm direkt um das Leben. Er verlangt von dir, das loszulassen, was dein Herz belastet, dich von Gütern zu befreien, um Platz zu schaffen für ihn, der allein gut ist. Man kann Jesus nicht wirklich folgen, wenn man von etwas in Beschlag genommen ist. Denn wenn das Herz mit Dingen übersättigt ist, wird für den Herrn kein Platz mehr sein, der dann zu einem Gegenstand unter vielen wird. Deshalb ist Reichtum gefährlich und – so sagt Jesus – macht es schwer, sich zu retten. Nicht, weil Gott streng ist, nein! Das Problem liegt auf unserer Seite: unser Zuviel-Haben, unser Zuviel-Wollen erstickt uns, erstickt unsere Herzen und macht uns unfähig zu lieben. Deshalb erinnert der heilige Paulus daran, dass die Habsucht »die Wurzel aller Übel ist« (1 Tim 6,10). Wir sehen das: wo das Geld im Mittelpunkt steht, gibt es keinen Platz für Gott und auch keinen Platz für den Menschen.
Jesus ist radikal. Er gibt alles und verlangt alles: er gibt totale Liebe und verlangt ein ungeteiltes Herz. Noch heute schenkt er sich uns als lebendiges Brot; können wir ihm dafür ein paar Krümel geben? Ihm, der sich zu unserem Diener machte, so sehr, dass er für uns das Kreuz auf sich nahm, können wir nicht einfach antworten, indem wir einige Gebote befolgen. Es ist nicht damit getan, ihm, der uns das ewige Leben bietet, ein bisschen Zeit zu schenken. Jesus gibt sich mit einem „Prozentsatz an Liebe“ nicht zufrieden: wir können ihn nicht mit zwanzig, fünfzig oder sechzig Prozent lieben. Entweder alles oder nichts.
Liebe Brüder und Schwestern, unser Herz ist wie ein Magnet: es lässt sich von der Liebe anziehen, aber es kann nur auf einer Seite andocken und es muss wählen: entweder es wird Gott lieben, oder es wird den Reichtum der Welt lieben (vgl. Mt 6,24); es wird leben, um zu lieben, oder es wird für sich selbst leben (vgl. Mk 8,35). Fragen wir uns, auf welcher Seite wir stehen. Fragen wir uns, wo wir in unserer Liebesgeschichte mit Gott stehen. Begnügen wir uns mit einigen Geboten oder folgen wir Jesus als Verliebte, die wirklich bereit sind, für ihn etwas aufzugeben? Jesus stellt einem jeden von uns und uns allen als einer „Kirche auf dem Weg“ die Frage: sind wir eine Kirche, die nur gute Gebote predigt, oder eine bräutliche Kirche, die sich ihrem Herrn in Liebe hingibt? Werden wir ihm wirklich folgen, oder wenden wir uns wie dieser Mann wieder der Welt zu? Also: genügt uns Jesus, oder suchen wir viele weltliche Sicherheiten? Bitten wir um die Gnade, dass wir fähig werden, aus Liebe zum Herrn loszulassen: den Reichtum, die Sehnsucht nach Status und Macht, die Strukturen, die der Verkündigung des Evangeliums nicht mehr angemessen sind, den Ballast, der unsere missionarische Sendung bremst, die Bindungen an die Welt. Ohne einen Fortschritt in der Liebe erkrankt unser Leben und unsere Kirche an »egozentrischer Selbstgefälligkeit« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 95): man sucht die Freude in kurzfristigen Vergnügungen, man verschließt sich in sterilem Geschwätz, man gibt sich der Monotonie eines christlichen Lebens ohne Schwung hin, wo ein wenig Narzissmus die Tristesse des Unvollendet-Bleibens überdeckt.
So war es bei diesem Mann, der – wie das Evangelium sagt – »traurig wegging« (vgl. V. 22). Er hatte alles an den Geboten und an seinen vielen Gütern festgemacht, aber er verschenkte nicht sein Herz. Und obwohl er Jesus getroffen und seinen liebevollen Blick erfahren hatte, ging er traurig weg. Traurigkeit ist ein Beweis für unerfüllte Liebe, ein Zeichen für ein laues Herz. Ein um so manches erleichtertes Herz hingegen, das frei ist, den Herrn zu lieben, verbreitet immer Freude, jene Freude, die heute so dringend gebraucht wird. Der Heilige Papst Paul VI. schrieb: »Gerade inmitten all ihrer Not müssen die Menschen von heute die Freude entdecken und deren frohen Klang vernehmen (Apostolisches Schreiben Gaudete in Domino, I). Heute lädt uns Jesus ein, zu den Quellen der Freude zurückzukehren: zur Begegnung mit ihm, zu einer mutigen und risikofreudigen Entscheidung, um ihm nachzufolgen, zum Gefallen daran, etwas aufzugeben, um seinen Weg einzuschlagen. Die Heiligen sind diesen Weg gegangen.
Paul VI. tat dies nach dem Beispiel des Apostels, dessen Namen er annahm. Wie dieser lebte er ganz für das Evangelium Christi, indem er Grenzen überwand und Neuland betrat sowie durch Verkündigung und Dialog sein Zeuge wurde, Prophet einer hinausgehenden Kirche, die Weitblick hat und sich um die Armen kümmert. Paul VI. hat, manchmal unter Mühen und von Unverständnis umgeben, ein leidenschaftliches Zeugnis von der Schönheit und Freude einer totalen Nachfolge Jesu abgelegt. Noch heute mahnt er uns, zusammen mit dem Konzil, dessen weiser Steuermann er war, unsere gemeinsame Berufung zu leben: die universale Berufung zur Heiligkeit. Nicht zum Mittelmaß, sondern zur Heiligkeit. Es ist schön, dass mit ihm unter den neuen Heiligen auch Bischof Romero ist, der auf weltliche Absicherungen, ja auf seine eigene Sicherheit verzichtete, um evangeliumsgemäß sein Leben hinzugeben. Er war den Armen und seinem Volk nahe. Sein Herz war hingezogen zu Jesus und seinen Brüdern und Schwestern. Dasselbe gilt für Francesco Spinelli, Vincenzo Romano, Maria Katharina Kasper, Nazaria Ignacia de Santa Teresa und auch für unseren abruzzisch-neapolitanischen Jungen Nunzio Sulprizio: ein junger, mutiger, demütiger Heiliger, der Jesus im Leiden, in der Stille und in der Hingabe seiner selbst zu begegnen wusste. Alle diese Heiligen haben in unterschiedlichen Situationen mit ihrem Leben das heutige Schriftwort deutlich gemacht, ohne Lauheit, ohne Berechnung, mit der Leidenschaft, etwas zu riskieren und loszulassen. Brüder und Schwestern, möge der Herr uns helfen, ihr Beispiel nachzuahmen.
15. Oktober 2018 – Sant‘ Ignazio
Dr. Georg Bätzing
Bischof von Limburg
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt, Schwestern und Brüder im Glauben, das war gestern wirklich ein bewegender Augenblick: Als Papst Franziskus den Namen von Maria Katharina Kasper aussprach und ihr Bild zusammen mit den Bildern der anderen Heiligen hoch über dem Petersplatz gezeigt wurde, da hat die ganze Welt zugesehen. Leben, Bild, Beispiel und Namen dieser Frau aus dem Westerwald, unserer Schwester im Glauben, ist nun allen bekannt und zur Verehrung empfohlen.
Vielleicht waren Sie aber auch überrascht, an der Balustrade des Petersdoms das Bild einer jungen Ordensfrau zu sehen. So, wie die Künstlerin Beate Heinen Mutter Katharina Kasper darstellt, haben wir sie zuvor nie gesehen. Die zeitgenössischen Fotografien zeigen eine alt gewordene Frau; das Leben und ihr Werk haben schon an den Kräften gezehrt. Die Künstlerin aber hat sich dafür entschieden, die heilige Katharina in jungen Jahren darzustellen. Und tatsächlich: Als die Schwesterngemeinschaft im Jahr 1851 die bischöfliche Anerkennung bekam und die ersten Schwestern ihre Gelübde ablegten, da war Katharina Kasper gerade 31 Jahre alt. Aber mit ihrer Idee war sie bereits jahrelang kraftvoll unterwegs. Längst hatte sie den Mut bewiesen, etwas ganz Neues anzufangen. Wenn wir Christen von Freiheit sprechen, das wird mir immer klarer, liebe Schwestern und Brüder, dann meinen wir vor allem die Freiheit, etwas Gutes anzufangen in dieser Welt. So nehmen wir den Impuls des Schöpfers auf, dessen Geist „im Anfang“ unsere wunderbare Welt angestoßen und geformt hat – nicht ohne Risiko, wie wir heute selbstkritisch im Blick auf unseren Umgang mit der menschlichen Freiheit und mit den kostbaren Ressourcen unserer Erde eingestehen müssen. Und es war Gottes Geist, der wiederum einen guten Anfang setzte, als er Maria dazu bewog, die Mutter Gottes zu werden. Was für ein Risiko ist Gott mit der Menschwerdung seines Sohnes eingegangen! Aber dadurch hat er sein Volk und alle Menschen guten Willens auf die Spur des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit (vgl. Mt 6,33) gesetzt. „Anfangen im Heiligen Geist“, das hat Katharina Kasper sozusagen Gott selbst „von den Händen“ abgelesen. Kein Wunder also, dass dem Heiligen Geist im gläubigen Selbstverständnis Katharinas eine besondere Stellung zukommt.
Anfängerin sein, das ist nicht leicht. „Aller Anfang ist schwer“, das kann man auch über das geistliche Lebenswerk Katharina Kaspers sagen. Hürden, Widerstände und Blockaden gab es zu Hauf. Die Strukturen der Armenhilfe, der Krankenfürsorge und der Schulbildung der Kinder lagen in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts am Boden, nachdem die alten, mit dem feudalen System der Kirche und der Klöster verbundenen Formen in den Wirren der französischen Revolution und ihren Nachwirkungen untergegangen waren. Die aufkommende industrielle Revolution brachte drängend neue soziale Fragen hervor. Es gab keine Vorbilder. Darum bewundere ich den Mut und die Weitsicht der heiligen Katharina Kasper, mit der sie ans Werk gegangen ist. Und ich bewundere die Entschlossenheit des großen Limburger Bischofs Peter Joseph Blum, dieses kleine Pflänzchen beharrlich zu unterstützen. Beide haben sich vom Geist Gottes führen lassen. Sie haben ihre Freiheit genutzt. Sie haben einen Anfang gesetzt, der bis heute Gutes wirkt. Kann es eine größere Ermutigung für uns in unserer Kirchenstunde geben, liebe Schwestern und Brüder?
Aber lassen Sie uns das Bild von Beate Heinen weiter anschauen. Die Farben leuchten: Das Blau der Vollendung in himmlischer Herrlichkeit, das feurig lebendige Rot des Heiligen Geistes und das Grün-Türkis der westerwälder Erdhaftung der heiligen Katharina. Der Psychologe Erich Fromm hat einmal darauf aufmerksam gemacht, dass eine Farbe ja nicht durch das entsteht, was vom hellen Licht festgehalten wird, sondern durch das, was ausgestrahlt wird. Ein blaues Glas erscheint blau, weil es alle Farben außer blau schluckt. Nur das Blau wird nicht festgehalten, sondern durchgelassen. Für mich ist es ein Bild unserer menschlichen gläubigen Existenz: Wer ich im tiefsten und vor Gott bin, das hängt nicht an dem, was ich habe, besitze und mein eigen nenne, sondern an dem, was ich schenke, was ich teile, was ich ausstrahle. Das Licht der Liebe Gottes ist die Quelle. Was ich davon für mich verwende und was ich weitergebe, das liegt in meiner Hand. Wie dankbar dürfen wir heute sein, dass Katharina Kasper so großzügig geben und ausstrahlen wollte. Dabei war ihr sehr bewusst, dass es nicht darum geht, sich einfach grenzenlos zu verausgaben. Es braucht die Balance, die Liebe Gottes erst in sich selbst wirken zu lassen, um dann in der Kraft dieser Liebe für andere tätig zu sein. In einem ihrer Briefe schreibt sie: „Ich möchte so gerne sehen, dass man so ruhig, demütig und schlicht in Ruhe wirkt und arbeitet im heiligen Berufe, in Frieden und Eintracht zuerst an unserer Heiligung, weil man erst dann befähigt wird, am Heil des Nächsten Mitarbeiterin sein zu können, am Wohl und Wehe des Mitmenschen“ (Schriften Band I, Brief 114). Kein Zweifel, liebe Schwestern und Brüder, Katharina war eine sehr kluge Frau.
Das zeigt ihr Blick. Ob in der Fotografie aus ihrer Zeit oder im modernen Bildnis: Der Blick ist gerichtet. Sie hat ein Ziel vor Augen. „Der Himmel ist alles wert“ (Schriften Band I, Brief 80), schreibt sie einmal, und an anderer Stelle: „unser hohes Ziel, die Seligkeit“ (Schriften Band I, Brief 23). Ob wir das so sagen würden? Ist das nicht auch ein Stück Weltflucht? Doch das wird man Katharina Kasper nun wirklich nicht vorwerfen können. Sie war sehr praktisch veranlagt; hat die Nöte der Menschen damals gesehen und konnte sie einfach nicht auf sich beruhen lassen. Sie hatte Führungsqualitäten und hat die Leitung ihrer jungen Gemeinschaft bis zum Lebensende nicht aus der Hand gegeben. Alles, was sie tat und anpackte, orientierte sie aber an ihrem „hohen Ziel“, dem Himmel. Erst so schlägt man den Bogen nämlich weit genug. Erst dadurch werden in uns die Fähigkeiten zum Guten wirklich entbunden. Nur so kann hier auf Erden wahrhaft Großes entstehen. Das Evangelium von den klugen Jungfrauen ist deshalb gut gewählt. Im ganzen Gleichnis ist der Bräutigam, obwohl die längste Zeit abwesend, immer die eigentliche Kraft hinter den Ereignissen. Um seinetwillen kommt hier alles in Bewegung. Weil er im Kommen ist, darum sind die Menschen gefordert, umsichtig das Licht des Glaubens zu hegen, dass Öl der Wachsamkeit zu bevorraten, den Willen Gottes in der Gegenwart zu tun und für die Zukunft zu erspüren. „Wir wollen ruhig, demütig, aber mit großem Gottvertrauen der Zukunft entgegen gehen“, schreibt Katharina, „nichts suchen noch wünschen, als den heiligen Willen Gottes erfüllen“ (Schriften Band I, Brief 23). Diese klare Ausrichtung kann uns Vorbild sein, liebe Schwestern und Brüder, wenn wir heute danach fragen, wozu und für wen denn die Kirche da ist, und wie wir selbstlos an der Seite von Menschen den Himmel nicht aus den Augen verlieren.
Noch ein letzter Blick auf das Bild der neuen Heiligen. Immer nur gibt sie unter dem strengen Ordenskleid nur ihr Gesicht und ihre Hände unserem Blick frei. Das mag eng wirken und wie die Beschneidung von Freiheit – so wie wir es heute manchmal bei muslimischen Frauen vermuten. Bei Katharina jedenfalls ist es Ausdruck eines in frei gewählter Bescheidenheit geformten Lebens. Warum wählen die Frauen und Männern in den Ordensgemeinschaften bis heute die Lebensweise persönlicher Armut, Keuschheit und des Gehorsams? Mir kommt dafür das Bild eines Weinstocks in den Sinn. Von Natur aus hat er die Tendenz, wild zu wuchern, immer größer und höher und breiter zu werden; aber dann bringt er nur mickrige saure Trauben hervor. Solchen Wildwuchs gibt es auch bei uns Menschen; und auch unter uns Gläubigen führt er letztlich in sterile Fruchtlosigkeit. Gute, süße Früchte reifen nur dort, wo ein Mensch sich formen, bescheiden und ausrichten lässt. Armut hat für Katharina und ihre Schwestern keinen Selbstzweck. Es ist die Lebensweise Jesu, des „heruntergekommenen Gottes“, der ganz und gar solidarisch mit uns Menschen in unserer Armut sein wollte. Armut – als Solidarität gelebt – ist heute so überzeugend wie zu allen Zeiten. Keuschheit ist keine Leibfeindlichkeit. Für Katharina und ihre Schwestern ist sie die Art und Weise Jesu, der ganz und gar offen war für die Sehnsucht der Menschen; der sich berühren ließ von aller Not; der so intensiv mit Gott und den Menschen in Beziehung stand, dass er uns wieder mit Gott verbunden hat. Keuschheit ist kein Vorbehalt, sondern vorbehaltloser Einsatz des ganzen Lebens. Und Gehorsam? Katharina und ihre Schwestern suchen den Willen Gottes in allem, weil sie überzeugt sind, dass es zum Besten führt, Gott zu folgen. Dazu aber muss man hören und hören und hören – auf Gottes Wort in der Heiligen Schrift und im Leben der Kirche, wie auf die Schwestern und Brüder, die ihr Leben und ihren Glauben mit mir teilen. Solcher Gehorsam macht frei, wirklich frei.
Liebe Schwestern und Brüder, das Lebensbild der neuen Heiligen, unserer Katharina, ist wirklich anregend mit seinen vielen Facetten. Wozu es uns bewegen will, das hat Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute „Gaudete et exsultate“ (vom 19. März 2018) wunderbar ins Wort gehoben: „Das ist ein starker Aufruf an uns alle. Auch du musst dein Leben im Ganzen als eine Sendung begreifen. Versuche dies, indem du Gott im Gebet zuhörst und die Zeichen recht deutest, die er dir gibt. Frage immer den Heiligen Geist, was Jesus von dir in jedem Moment deiner Existenz und bei jeder Entscheidung, die du treffen musst, erwartet, um herauszufinden, welchen Stellenwert es für deine Sendung hat. Und erlaube dem Geist, in dir jenes persönliche Geheimnis zu formen, das Jesus Christus in der Welt von heute widerscheinen lässt“ (Nr. 23). Heilige Katharina Kasper, hab Dank für dein Leben und Beispiel und stärke uns als Einzelne und als Bistum Limburg, den Willen Gottes für heute zu erkennen und zu tun. Amen.