"Die Christus Trilogie" und das religiöse Problem der Moderne.
- Prof. Dr. Michaela Kopp-Marx
Universität Heidelberg
Vexierbilder. Eine bibelwissenschaftliche Spurensuche in Patrick Roths "Die Christus Trilogie"
- Prof. Dr. Thomas Schumacher
Universität Fribourg/Schweiz
Meine Reisen in Patrick Roths Welt. Notizen einer Exegetin
- Prof. Sr. Dr. Margareta Gruber OSF
Philosophisch-theologische Hochschule Vallendar
Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen. Patrick Roths literarische Verführungen – zum Glauben?
- Prof. Dr. Georg Langenhorst
Universität Augsburg
Vom Unsagbaren schreiben oder: Vom unsagbaren Schreiben. Philosophische Anmerkungen zur Poetik Patrick Roths
- Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski
Philosophisch-theologische Hochschule Vallendar
„I'm here for a funeral”: Film und die „Endlichkeit” des Erzählens in Patrick Roths "Die Christus Trilogie"
- Prof. Dr. Michael Braun
Universität Köln
Transzendenzerfahrung in Alltagssprache und Literatur. Eine Auseinandersetzung mit Patrick Roths Riverside
- Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert
Universität Koblenz-Landau
Vorstellung der Unterrichtsideen zur "Die Christus Trilogie"
- Beatrix Mählmann (Bischöfl. Cusanus Gymnasium Koblenz)
Ute Lonny-Platzbecker (Nikolaus Ehlen Gymnasium Velbert)
Vom nördlichen Rheintal kommend, erreicht man kurz vor Koblenz die Anlagen der Pallottiner und der Philosophisch Theologischen Hochschule Vallendar nach wenigen weit geschwungenen Kurven durch ansteigende Hänge mit Laubwäldern und Gärten. Am 25. Juni 2017, also genau an Patrick Roths 64. Geburtstag, war ich zum ersten Mal dort: Damals las Roth in der Pallottikirche. Hinter ihm schien die Sonne durch das Rundfenster in der rechteckigen Apsis; ein quadratischer Glasvorhang mit filigranem Kreuzmuster lässt hier die Maueröffnung wie ein leuchtendes Bild erscheinen. Auch jetzt fiel durch die Buntglasscheibe das Licht in Gelb, Orange und Rot ein und warf einen schwebenden Feuerball auf die Fläche. Darunter, vor dem Altar: Patrick Roth mit einer Passage aus seiner Christus Trilogie und einer Intonation, die direkt aus dem erzählten Geschehen zu kommen schien, Orgelmusik in den Pausen – so erinnerte ich im Sommer 2018 diese Lesung als einen magischen Moment.
Natürlich war es eine Freude, als Michaela Kopp-Marx zusammen mit Holger Zaborowski und Martin Ramb ein Jahr später erneut nach Vallendar einlud. Ohne weitere Überlegung und die Situation des Vorjahres im Gedächtnis parkte ich meinen Wagen wiederum, diesmal irrtümlich, vor der Pallottikirche. So verging Zeit, bis ich mich endlich in Richtung auf die Philosophisch-Theologische Hochschule (PTHV) – erkennbar auch an der alles beobachtenden Katzendame vor dem Haupteingang – orientiert, den Vortragssaal erreicht und am Rande einer Reihe Platz genommen hatte ; die offizielle Begrüßung war schon vorüber. Es dauerte eine Weile, bis ich gewahr wurde, dass Patrick Roth nur zwei Meter entfernt in der gleichen Stuhlreihe unter den Zuhörern saß – offenbar ganz auf den ersten Vortrag konzentriert. Ein schöner Schrecken: Der Dichter der sakralen Bühne war plötzlich unprätentiös einer der Zuhörer und Gesprächspartner zum Thema „Auferstehung erfahren“.
Die eigenwillige, drehbuchartige Dynamik der Erzählungen erzeugt Roth mit einer dramaturgischen Könnerschaft, die an den Filmproduktionen Hollywoods geschult ist – geboren in Freiburg/Brsg., lebte er ab 1976 fast vier Jahrzehnte in Los Angeles, anfänglich um Filme zu machen. Wie die Großleinwand des Kinos den Zuschauer in das Filmgeschehen hineinnimmt, so überwindet auch die Literatur Roths durch den Aufriss eindringlicher Bilderfolgen die Distanz zum Leser. Roth will weder in erster Linie unterhalten noch belehren, sondern mit den Figuren seiner Geschichten Archetypen – auch im Leser - in Bewegung setzen. Das gilt besonders für die in den 1990er Jahren erschienenen Werke der Christus Trilogie, deren Mittelteil vom Autor ausdrücklich als „Seelenrede“ gekennzeichnet wurde, sowie für das 2012 vorgelegte Opus Magnum Sunrise. Das Buch Joseph, das für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Wissenschaftlichen Analysen, wie sie nun auch auf dem Symposium anlässlich des 65. Geburtstages von Patrick Roth in und zwischen verschiedenen Disziplinen geleistet wurden, liefert ein solches beziehungsreiches Schreiben ein Füllhorn unendlicher Motive, Anknüpfungs- und Vergleichsmomente, historischer und exegetischer Tiefenschichten. So spannend diese Rückbezüge und so wesentlich sie in jedem Falle für die Erschließung, Verbreitung und Kanonisierung des Werkes sind, so begrenzt bleiben die Mittel der Analyse doch qua definitionem bei dem Versuch, die von Roth eigentlich intendierte Ebene zu erreichen: Ihm gelingt nämlich das Kunststück, seinen mit exegetischer Akribie gehobenen Fundus in der Weitererzählung tiefenpsychologisch zu gravieren und ihn so mit der gleichsam ursprünglichen Kraft eines unmittelbaren Zeugnisses wirken zu lassen. Personen und Motive, wie etwa der Eremit Diastasimos und sein von den Besuchern Andreas und Tabeas eingeforderter Bericht über eine Begegnung mit Jesus in Riverside, erscheinen auch dank der dialogischen Struktur der Novelle hoch lebendig, ihre Geschichten vielschichtig und endlos ineinander verwoben; die Präsenz der Figuren und ihrer Handlungen wird von vielen Lesern als echter Impuls erfahren, der in ihr nicht fiktionales Sein real hineinwirkt. Professor Sr. Dr. Margareta Gruber (OSF) von der PTHV legte hierfür mit ihrem Vortrag „Meine Reise in Patrick Roths Welt“ ein mutiges persönliches Zeugnis ab.
Die Aufdeckung der Vorlagen und eine Synopse der Werke mit historisch-kritisch erschlossenen Bibeltexten, Apokryphen oder literatur- und filmhistorischen Untersuchungen sowie auch die sprachlich-stilistische und motivische Analyse können jedoch verständlich machen, welcher Art das Material ist, mit dem Roth arbeitet, in welchen Kontexten diese Arbeit steht und was sie in den aktuellen Diskursen zu bewirken vermag. Dass die wissenschaftliche Ebene für Roth selbst eine eher propädeutische Rolle spielt, bewiesen seine Einlassungen im Verlauf des Symposions. Der Grenzübergang vom Bewussten ins Unbewusste, in den Roth seine Leser mitnimmt, ist reflexiv nicht vollständig einzuholen und löst emotionale und hoch persönliche Prozesse aus, die ihrerseits mehr nach individuellem Ausdruck als nach distanzierter Beschreibung verlangen und so ihre künstlerische Absicht erreichen.
Dieser in seiner Poetik zentrale Aspekt der Realisierung psychischer Inhalte, die Zielrichtung der Texte auf die emotionale Wirklichkeit (und nicht etwa nur auf eine perfekte Fiktionalität) konnte in Vallendar nicht zuletzt durch die Anwesenheit des Autors und seine Anmerkungen klar und deutlich werden. Zentral ist: Roth rezipiert nicht, er „dramatisiert“ (M. Kopp-Marx) Elemente der christlichen Auferstehungserfahrung, mit der jene Protagonisten, die zunächst Außenseiter und Abgesonderte sind, besonders heftig ringen. Die biblischen Personen treten in fiktionalen Kontexten mit fiktionalen Personen in Kontakt. So entstehen in den ‚Nischen‘ der Bibeltexte oder auch um deren Handlungen herum völlig neue Auftritte, Aktionen und Äußerungen, die dennoch der poetischen Devise „no fiction“ folgen. Denn Roth strebt ein dem griechischen Klassiker Nikos Kazantzakis verwandtes Ziel an, „alles zum Wesenhaften hinzuordnen“ und erzählend auf eine Ebene vorzustoßen, „die wahrer ist“ als das Faktische. (Vorspruch zu „Mein Franz von Assisi“, Hamburg 1959). Daher werden die biblischen Passagen – so ist die Dramatisierungsthese wohl zu verstehen - nicht etwa einfach zeitgemäß wiedergegeben; ihre Akteure und Botschaften werden vielmehr progressiv in Szene gesetzt und in Handlungsabläufe eingebunden, die die menschlichen Tragödien der Gegenwart und ihre Erlösungsperspektiven mit umfassen.
Das Symposium „Auferstehung erfahren“ eröffnete die Roth-Expertin und Herausgeberin der kommentierten Neuauflage der Christus-Trilogie Professor Dr. Michaela Kopp-Marx, Universität Heidelberg, indem sie das Werk in den weiten Kontext des religiösen Problems der Moderne stellte: Nach dem Bruch des religiösen Weltbildes sind die „Haine“ des Glaubens „abgeholzt“ (Hegel) und die Menschen einer „Transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) ausgesetzt. Schon Friedrich Schleiermacher und William James definierten das Religiöse in der Folge als innere Haltung und Erfahrung. Dies ist der Hintergrund, vor dem Patrick Roth schreibt. Er radikalisiert nun die nach Innen gewendete Auseinandersetzung mit Religion, die er an Carl Gustav Jung anknüpfend als eine Funktion der menschlichen Psyche versteht und für unverzichtbar hält.
Michael Braun, Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln und Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung, setzte in Vallendar gegen das postmoderne Diktum vom Ende der Erzählungen die Beschreibung der Auferstehungsgeschichte als „eine der mächtigsten Quellen für Weitererzählungen und Fortsetzungen von fremder Hand“. Anders gewendet: Die im Neuen Testament bezeugte Auferstehung Christi symbolisiert im Sinne Patrick Roths auch, dass es zwar ein absolutes Ende einer Handlung (plot), nicht aber das Ende eines Geschehens geben kann, und das heißt auch keiner Erzählung (story): dem Tod ist – existentiell wie narrativ - der Stachel genommen. Er bezeichnet lediglich noch den Zustand, der der Auferstehung bzw. dem erzählerischen „ent-töten“ (Volker Klotz) vorausgeht. Dass es im Werk Patrick Roths, der 2003 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, zwar immer wieder um Endlichkeit - jedoch in der Perspektive auf Erlösung und Auferstehung - geht, zeigte Braun paradigmatisch an der „Seelenrede“ Johnny Shines: Der ‚Penner‘ und Leichenschänder Johnny kann die psychische Dimension der Auferstehung lange Zeit nicht erkennen und entwickelt ein hoch gestörtes Verhältnis zu toten menschlichen Körpern. Erlösung und Auferstehung werden für ihn erst erfahrbar, als seine verdrängte Biographie und damit seine (so empfundene) Schuld am Unfalltod seiner Schwester aufgedeckt wird; in der Folge wird Johnny akzeptieren, dass es vergeblich ist, tote Körper aus ihren Gräbern zu zerren und verstehen, dass er den Tod nur auf einer andern Ebene und in einem seelischen Prozess überwinden kann.
Brauns Nachweise der überaus engen Bezüge dieser „Seelenrede“ zum Film „The Man Who Shot Liberty Valance“ von John Ford, der nicht zuletzt als ein Dokument der zu Ende gehenden Western-Ära gesehen werden kann, impliziert die spannende Frage, ob mit Johnny Shines das Ende der Ära des Abgesanges auf die Kunst des Erzählens beschrieben wurde; schon 1936 hatte Walter Benjamin ihr Ende angekündigt, „weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt“. Dieses Verdikt, so der einhellige Tenor in Vallendar, ist in der Literatur Patrick Roths aufgehoben.
Auch philosophisch war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von Sprachkritik und dem Bewusstsein der Grenzen in Sprache fassbarer Erkenntnis geprägt, die das bekannte Wittgenstein-Diktum „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“ schon während des ersten Weltkrieges markierte. Professor Dr. Georg Langenhorst, Religionspädagoge der Universität Augsburg, wandelte es in die Formulierung „Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen“ um. Die Literatur Roths stehe in dem breiten Kontext der Überwindung religiös-poetischer Sprachlosigkeit, die nach der Stummheit der 60er und 70er Jahre mit einem „religious turn“ eingesetzt habe; Krüger, Enzensberger, Lewitscharoff und Rothmann seien sprechende Beispiele, doch schon Günter Eich habe darauf hingewiesen, so Langenhorst, dass man von Gott nicht sprechen könne, ohne zu wissen, was Sprache ist.
Der Neutestamentler Professor Dr. Thomas Schumacher (Friebourg/Schweiz) setzte ebenfalls bei dem aus der Sprachkritik resultierenden Spannungsverhältnis von Text und Leben, Schrift und Erfahrung an und bezog sich dabei zunächst auf den ersten Teil der Trilogie: Diastasimos, der schon erwähnte Protagonist aus Riverside, wehrt sich gegen seine Besucher, denn sie „schreiben Dich auf, graben Dich zu“. Schrift gilt ihm als Lebloses, Totes, das Niederschreiben als Begraben. Andreas und Tabeas aber, die den zurückgezogenen Höhlenbewohner besuchen, um an seiner Jesusbegegnung teilzuhaben, arbeiten sich bei diesem Versuch, die Erfahrung des Diastasimos festzuhalten, gewissenmaßen in eine eigene intensive Erfahrung hinein und überwinden den ‚toten Punkt‘. Indem sich Diastasimos mehr und mehr öffnet, weicht die Schrift einer weniger distanzierten Ausdruckform: Der intensive Dialog zwischen den Personen offenbart schließlich die familiäre Beziehung der über lange Zeit einander fremd, ja nicht einmal mehr erkennbar geworden Menschen und bewirkt ihr Wiedererkennen. Der Text, den sie über Jesus schreiben wollten, wandelt sich zum Selbstzeugnis, das nicht nur beschreibt oder schildert, sondern die eigene Erfahrung ausspricht. Roth führt den Text damit, so Schuhmacher, zu einer evangelienartigen Aussage. Der Leser wird zum Teilnehmer und kann zu einem Teil des Textes selbst werden.
Auch in Johnny Shines und Corpus Christi geht es um die Frage wörtlicher Schriftauffassungen und körperlicher Beweisstücke, die mit der seelisch-emotionalen und spirituellen Dimension der christlichen Botschaft im Konflikt stehen. Das Kleben am Buchstaben, so eine der zentralen Motive Patrick Roths, vermag den heilsamen Impuls des Glaubens nicht zu erschließen. Lässt man sich hingegen auf die seelische Ebene der Texte ein, so offenbart sich in den Novellen der Christus Trilogie wie in den Texten der des Neuen Testamentes – Schumacher bezog sich an diesem Punkt auf das Markus-Evangelium – eine Ringstruktur, die die Übergänge vom Leben zu Tod oder Krankheit und wiederum zurück zum Leben durch Heilung (insbesondere sozialer Beziehungen) und Auferstehung beschreiben. Der Mensch des alten Lebens wird mit eingetaucht in den Tod Jesu, wird mit ihm begraben und mit Christus auferstehen. Auch Bekehrungs- und Tauferlebnisse werden in einer ähnlichen Ringstruktur beschrieben. Die frühe Ähnlichkeit von Taufbecken mit Katakomben-Gräbern führte Schumacher an, um die auch historische Relevanz dieses urchristlichen Grundgedankens zu unterstreichen.
Indem Patrick Roth das biblische Textverständnis aufgreift, überwindet er die moderne Sprachskepsis, die zwar rationale Aussagewerte und metaphysische Wahrheitsansprüche auch weiterhin in Frage zu stellen vermag, die emotional-seelische Ebene der Sprache damit jedoch nicht tangiert. Lässt man sich bei der Lektüre auf diese ein und folgt man den im Markusevangelium wie in Riverside enthaltenen Aufforderungen zur Relektüre, so können beide Texte als komplementäre Erzählungen erlebt werden, wie Schumacher an zahlreichen Details eindrucksvoll nachwies. Mit der Intensität des Nachlesens steigt die Aufmerksamkeit dafür, dass viele Elemente wie Personen, Orte und Zeiten in doppelter Bedeutung erscheinen und mehrere Lesarten zulassen. Die Schrift selbst wird so zum durchlässigen Fixierbild, das keine Behauptungen aufstellt, sondern erleben und auf vielfältige Weise durchscheinen lässt: Der irdische Jesus wird mit dem auferstandenen Christus identisch, sie können als zwei Betrachtungs- und Erlebnisweisen desselben Phänomens gesehen werden.
Patrick Roth zeigte sich von dieser exegetischen Tiefenanalyse beeindruckt und war offenbar selbst erstaunt, wie intensiv der eigene Text trotz völlig verschiedener Handlungsverläufe auf einer nicht nur spirituellen sondern auch strukturellen Ebene mit dem Markus-Evangelium verwoben ist.
Ganz anders reagierte er jedoch auf einen weiteren Vergleich, den der Sprachwissenschaftler Professor Dr. Wolf-Andreas Liebert, Universität Koblenz-Landau, in seinem Vortrag zu Transzendenzerfahrung in Alltagssprache und Literatur zog und der auch im Plenum zu heftigen und sehr kontroversen Diskussionen führte. Liebert griff zunächst die Begegnung des Diastasimos mit einem römischen Hauptmann als Beispiel literarisch gestalteter Transzendenzerfahrung auf: Dieser Hauptmann, so berichtet der Höhlenbewohner in Riverside, habe ihn auf dem Tempelberg in Jerusalem, auf den er trotz seiner ansteckenden Hautkrankheit hinaufgestiegen war, attackiert und verletzt; derselbe Mensch habe aber mitempfindend die Konsequenzen seiner Tat erkannt, als ihm viel später und in gänzlich anderem Kontext Jesus gegenüberstand, der auf der Flucht vor den römischen Verfolgern als Knecht verkleidet war; um die Identität seines Herrn zu verschleiern, sei dieser nämlich von Judas gegeißelt worden. Unter dem zerrissenen Gewand habe der Römer bei Jesus plötzlich den gleichen Aussatz und die gleichen Wunden erblickt, die er ihm, Diastasimos, auf dem Tempelberg zugefügt habe. Erst indem er die Brutalität des Judas mit ansehen muss, schockiert ihn die eigene Gewalttat, wird als solche bewusst und bereut und er umarmt Jesus. Diastasimos hatte diese Szene heimlich beobachtet und gesteht jetzt seinen Zuhörern: „Und tief fuhr da in mich wie deren Arme ineinander waren gefahren…“(P. Roth, Christustrilogie, Göttingen 2017, S. 62). Die teilnehmende Beobachtung der für ihn sozusagen stellvertretenden Umarmung ist für Diastasimos eine Offenbarung, heilt ihn von seinem Aussatz und wird nach nur zögerlicher Mitteilung dieses Erlebnisses gleichwohl zur Voraussetzung für eine grundlegende Wende in seinem Leben.
Die angebliche Erfahrung der Lösung aller Probleme durch die schlichte Teilnahme an einem inspirierenden (vielleicht auch manipulativen) Gottesdienst machte hingegen eine sehr junge Frau, die von dieser - von ihr so gedeuteten - Gotteserfahrung auf YouTube berichtet. Liebert stellte ihren Bericht neben die Erfahrung des Diastasimos. Nicht nur Patrick Roth war bestürzt: Sollte hier gewissermaßen ein Ziegelstein mit einem architektonisch gestalteten Gebäude verglichen und die Gestaltung der Offenbarungsäußerung ignoriert werden? Einige Teilnehmer unterstützten seine Abwehr mit dem Hinweis, dass sich die Offenbarung in Riverside in der mitfühlenden Begegnung von Personen mitteile, in der einer den anderen erkenne, während die Youtuberin eine als erlösend empfundene Emotion mit egozentrischer, fast exhibitionistischer Attitüde zur Schau stelle und daher keine dem literarischen Beispiel kompatible Alltagserfahrung wiedergebe. Die im Plenum ebenso stark vertretene Gegenposition beharrte darauf, dass ein thematischer linguistischer Vergleich unabhängig vom Gestaltungsniveau des Materials möglich und sinnvoll sei, gerade auch um die Differenzen in der Sache herauszustellen. Offen blieb in der Debatte, ob der Begriff der Transzendenzerfahrung überhaupt auf beide Fälle angewendet werden könne.
Einig waren sich dagegen Autor und Plenum in Lob und Begeisterung für die Vorstellung der Unterrichtsideen zur Christustrilogie, die die Lehrerinnen Ute Lonny-Platzbecker und Beatrix Mählmann anhand ihrer Praxiserfahrung mit Riverside und Corpus Christi im Religionsunterricht präsentierten. Dabei gaben sie zu, die Werke im Unterricht nicht erfassen, sondern „nutzbar machen“ zu wollen, um eine zeitgemäße Annäherung an das Thema Auferstehung bei Schülerinnen und Schülern zu bewirken. Eine besonders effektive Methode sei dabei das schauspielerische Nachstellen und freie Weiterführen von Schlüsselsituationen der Novellen. Nähere Einzelheiten hierzu finden sich in dem soeben erschienenen Werkbuch mit Unterrichtsideen für die Sekundarstufe II in Religion und Deutsch von Thomas Menges und Martin W. Ramb, Abteilungsleiter Religionspädagogik, Medien und Kultur des Bischöflichen Ordinariates Limburg, der die frisch gedruckte Publikation in Vallendar selbst vorstellte.
Die offen gestandene Instrumentalisierung ‚hehrer‘ Literatur hätte wohl auf vielen anderen Literatursymposien lauten Protest verursacht. In Vallendar aber wurde im Gegenteil das einer selbstgenügsamen Ästhetik ablehnend gegenüber stehende poetische Programm Roths konsequent umgesetzt: Die Indienstnahme des literarischen Schaffens für das höhere Ziel eines Zugangs zur Auferstehungserfahrung wurde von Patrick Roth nicht nur geduldet sondern passioniert befürwortet. Denn seine Literatur will den seelischen Analphabetismus der Gegenwart überwinden, der einerseits zu materialistischer Abstumpfung, andererseits zu religiösem Fanatismus führen kann. Das zutiefst Religiöse fällt bei Patrick Roth mit dem zutiefst Humanen in Eins; der höchste literarisch-ästhetische Anspruch leitet sich allein aus dem höchsten Anspruch auf Sinnstiftung ab – ein Anspruch der das Proprium des Christlichen in Zeiten seines rapiden Einflussverlustes auf einem heute ungewohnten Terrain und daher umso deutlicher und vorbildlicher herauszustellen vermag.
Im o.g. Werkbuch ist u.a. ein Interview mit Roth enthalten (das Thomas Menges, Martin W. Ramb und Holger Zaborowski führten); darin zitiert er Martin Buber mit dem Satz „Eine Geschichte soll man so erzählen, dass sie selber Hilfe sei!“, denn – so Roth - letzten Endes gehe es bei allem künstlerischen Schaffen „um die Auferstehung Gottes im Individuum“.