Please select a page template in page properties. Patrick Roth - Die Christus Trilogie | Werkbuch | EULENFISCH - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Patrick Roth

Die Christus Trilogie

Patrick Roth

Die Christus Trilogie

Herausgegeben und kommentiert von Michaela Kopp-Marx

Erstmals erscheinen die drei Christusromane von Patrick Roth – Riverside, Johnny Shines, Corpus Christi – in einem Band, vorzüglich kommentiert von Michaela Kopp-Marx.

Seit ihrem Erscheinen 1998 steht »Die Christus Trilogie« im Ruf eines erratischen Blocks in der Landschaft der Gegenwartsliteratur. Quer zum postmodernen Zeitgeist hatte es Patrick Roth unternommen, eine Brücke zurück zu den Stoffen der Bibel zu schlagen und ihren erstarrten Bildern in ungeheuer authentischen Geschichten (»Riverside«, »Johnny Shines« und »Corpus Christi«) neue Sicht und Fassung zu geben. Die suggestiv-filmische Erzählweise, der symbolische Zugriff und die unorthodoxe Durchmischung mit popkulturellen und mythologischen Elementen lösen die christlichen Mythologeme aus ihren traditionellen theologischen Zusammenhängen – Taufe, Heilung, Wiedererweckung, Kreuzigung und Auferstehung – werden in ihrer numinosen Dimension neu erfahrbar. Gefasst in eine rhythmisierte, bildgewaltige Sprache, aufgeladen mit Suspense, Mystik und Bedeutsamkeit entfalten Roths poetische Konstellationen des christlichen Mythos überwältigende Präsenz und Provokation in unserer transzendenzfernen Zeit.

Der von Michaela Kopp-Marx erarbeitete Kommentar führt in die Struktur und Interpretation der Texte ein und gibt dem Leser einen umfangreichen Stellenkommentar an die Hand, der die zentralen Quellen, Kontexte und Subtexte der jeweiligen Werke benennt und Ansätze zur Deutung freilegt.

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Patrick Roth

Patrick Roth, geb. 1953 in Freiburg/Brsg., lebt als freier Autor in Los Angeles und Mannheim. Auf filmische und dramatische Arbeiten der achtziger Jahre folgte 1991 das Prosadebüt »Riverside«, dem sich »Johnny Shines« und »Corpus Christi« anschlossen. Die autobiographische Erzählung »Meine Reise zu Chaplin« bildete den Auftakt zu den deutsch-amerikanischen Erzählzyklen im Filmmilieu »Die Nacht der Zeitlosen« und »Starlite Terrace« und »Die amerikanische Fahrt«.

Er erhielt u. a. den Rauriser Literaturpreis, den Preis der Stiftung Bibel und Kultur, den Hugo-Ball-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sein 2012 erschienener Roman »SUNRISE« wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Weiterhin wurde er mit Poetikdozenturen an den Universitäten in Frankfurt, Heidelberg und Hildesheim ausgezeichnet.

Wikipedia Artikel

In my Life

12 Places I remember

Dokumentarfilm von Patrick Roth / 2006 / eine Produktion des ZDF
Image

Michaela Kopp-Marx, Martin W. Ramb, Holger Zaborowski (Hg.)

Die Christus Trilogie zwischen Bibel, Traum und religiöse Erfahrung

Patrick Roth im Gespräch

25 Jahre nach dem Erscheinen von Patrick Roths Christus Trilogie steht eine Neubewertung dieses Klassikers deutscher Gegenwartsliteratur an. Riverside, Johnny Shines und Corpus Christi spiegeln ein transformiertes religiöses Bewusstsein, das durch den Bruch des Gottesbildes in der Moderne hindurchgegangen ist und nach neuer Verbindung mit dem Transzendenten sucht.

Für Patrick Roth ist die Bibel daher kein abgeschlossenes Projekt, sondern ein heute noch aktueller religiöser Grundtext. Dieser Band unternimmt aus verschiedenen Perspektiven eine Relektüre der Christus Trilogie und zeigt, wie Patrick Roths filmisches Erzählen in poetisch verdichteter Sprache die alten, unsere Kultur der Immanenz immer noch tief prägenden biblischen Erzählungen verlebendigt.

Inhalt

1

Vorwort der Herausgeber

2

Michaela Kopp-Marx
„I'm here for a funeral“

Die Christus Trilogie und die postsäkulare Moderne

3

Bernhard Stricker
Geistesgegenwart oder „Geschichte-schreiben-hören“

Der Erzähler Patrick Roth im Lichte Benjamins und Hebels

4

Lothar van Laak
Auferweckung – Auferstehung – Alchemie

Patrick Roths Poetologie produktiver Traum-Semiosis

5

Michael Braun
Vom Ende des Erzählens

Totenerweckung in Patrick Roths Christus Trilogie

6

Wolf-Andreas Liebert
Eine Auseinandersetzung mit Patrick Roths Riverside

7

Ludger Verst
Ästhetik des Traum/a/s. Tiefenpsychologische

Anmerkungen zu Patrick Roths Novelle Johnny Shines

8

Rita Anna Tüpper
Seele lesen.

Patrick Roths Christus Trilogie im Licht seines Gottesquartetts

9

Georg Langenhorst
„… den Lesern eine Erfahrung, eine Erkenntnis zu ermöglichen …“

Patrick Roths literarische Verführungen – zum Glauben?

10

Thomas Schumacher
Vexierbilder.

Eine bibelwissenschaftliche Spurensuche in Patrick Roths Christus Trilogie

11

Helmut Müller
Die Christus Trilogie Patrick Roths

Eine Ausleuchtung des Bewusstseins oder Zeugnis der Menschwerdung Gottes?

12

Marie-Luise Reis
Patrick Roths Riverside. Christusnovelle

Impuls für die biblische Lektüre und bibeldidaktische Vermittlung

13

Thomas Menges
Universale Versöhnung?

Die Vision vom endzeitlichen Mahl des Messias im Kontext von Patrick Roths Roman Corpus Christi

14

Jochen Ring
„Der fremde Reiter“ als hermeneutischer Schlüssel zur Christus Trilogie.

Geschichtsphilosophische und religionspädagogische Überlegungen

15

„Nahe dem Feuer.“ Patrick Roth im Gespräch

mit Michaela Kopp-Marx, Thomas Menges, Martin W. Ramb und Holger Zaborowski über seine Christus Trilogie

16

„God is Reality itself.“ Patrick Roth im Gespräch

mit Stefan Seidel über religiöse Erfahrung und religiösen Wandel

Leseproben

„I’m here for a funeral“


Die Christus Trilogie und die postsäkulare Moderne


Michaela Kopp-Marx

Für Hubert Winkels

Wo eine ganz naiv an Wissenschaften und Technologie orientierte Rationalität vorherrscht, wo Agnostizismus, wenn nicht ein konsequenter Atheismus als Norm allgemein akzeptierten Diskurses gilt, ist es für einen Künstler ungeheuer schwierig, Worte für sein Schaffen zu finden, für die „Vibrationen des Ursprünglichen“, die sein Werk zum Leben erwecken. Durchgehend jedoch ist große Kunst in unserer umstrittenen Moderne, wie alle großen Gestaltungen zuvor, angerührt vom Feuer und vom Eis Gottes.

George Steiner, Von realer Gegenwart

1. Ein Blick zurück

Es war in den 1990er Jahren, als Patrick Roths Christus Trilogie wie ein fremder Stern in die bunte Welt der Postmoderne einbrach. Die religiöse Prosa des filmhandwerklich ausgebildeten Schriftstellers, der in Los Angeles deutsche Erzählungen, Romane und Stücke mit biblischer Thematik und spannungsgeladenen Plots in einer cineastisch bilderreichen, zugleich komplexen Erzählstruktur verfasste, passte nicht in eine deutsche Literaturlandschaft, die vom Poststrukturalismus einerseits und modischem „Pop“ andererseits fasziniert war. (1) Ein Text wie Riverside. Christusnovelle widersetzte sich den geheiligten Überzeugungen eines Barthes, Derrida und Foucault, wonach etwa „Sinn“ in einem literarischen Text nicht auszumachen und der Autor „tot“ sei, respektive nur ein „Gewebe“ aus Zitaten und widersprüchlichen Stimmen, womit die traditionelle Vorstellung von der Einheit des Werks ebenfalls erledigt schien.

Über die engen Grenzen der Literatur hinaus betrachtet, bezogen die Trilogie-Texte eine radikale Gegenposition zu der insbesondere unter deutschen Intellektuellen unter Berufung auf Max Weber verbreiteten Vorstellung, Religion und Glaube seien in der Folge der Modernisierung diffundiert, von Wissenschaft und Vernunft widerlegt. Wenn die Vorsehung durch Fortschritt und Gott durch den Menschen als Subjekt der Geschichte ersetzt ist, hat sich der Gottesglaube vermeintlich erübrigt.(2) Weber hatte das Verschwinden von religiöser Praxis und Erfahrung aus dem gesellschaftlichen Leben als Signum der Moderne beschrieben, u.a. in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ (1917):

Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit umittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander.(3)

Weber sah in dieser Lage nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Schicksal der Zeit „männlich“ zu ertragen, an die Arbeit zu gehen und ohne religiösen Trost zu leben oder das Opfer des Intellekts zu bringen und „blind“ zu glauben – schließlich stünden die Türen der alten Kirchen immer noch „erbarmend weit offen“. Im populären Diskurs der Moderne ist Religion synonym mit dem Unvernünftigen und Autoritären, schließlich beharrt sie auf dem Geheimnis und der Paradoxie und wirft die unlösbare Theodizee-Problematik auf. An übersinnliche Kräfte zu glauben, erscheint im Zeitalter des Wissenschaftsrationalismus, wo man sich auf die eigene Vernunft und die eigenen Möglichkeiten verlässt, hoffnungslos naiv. In einer Moderne, die sich als Negativ der Religion versteht, ist für das Vertikale kein Platz, alles Transzendente wird ausgeschlossen, unzugänglich gemacht, während ein Werk wie die Christus Trilogie die Leerstelle der verlorenen Gottesidee zu füllen sucht, getragen von der Überzeugung, dass die Vorstellung eines Ursprünglichen und Ewigen ebenso wie der Bezug zur religiösen Tradition ein essentielles Bedürfnis ist, das notwendig zur conditio humana gehört.

Riverside (1991), Johnny Shines oder Die Wiederweckung der Toten (1993) und Corpus Christi (1996) liegen ‚quer‘ zum Säkularisierungsnarrativ, das die Geschichte eines gewinnbringenden Wenigerwerdens von Glaube, Metaphysik und Spiritualität erzählt. Sie stehen für das Andere einer widersprüchlichen Moderne, für ihr vergessen-verleugnetes spirituelles Erbe, das in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts untergegangen ist und hier wieder sichtbar zutage tritt, in voller Gestalt: Das Unendliche, die Metaphysik, der Mythos, die Bedeutungsfülle und das Sinnhafte leben in diesen zum Zeitpunkt ihres Erscheinens vermeintlich unzeitgemäßen Texten neu auf, aber auch das handwerklich-erzählerische Potential, religiösen Erfahrungen Form zu geben, die irrationalen Hintergründe des Lebens auszuleuchten mithilfe einer unalltäglichen, poetisch verdichteten Sprache, die einem archaischen, an die Bibelübersetzungen Buber-Rosenzweigs gemahnenden Rhythmus folgt, der als Roth-Sound in die Annalen der Literaturkritik einging. Das Numinose, die Einräumung eines Unverfügbaren, das Festhalten am Geheimnis als einer zentralen Kategorie menschlicher Erfahrung und vor allem: das Anschließen moderner Lebensentwürfe an religiöses Erleben waren in die zeitgenössische Literatur zurückgekehrt. Aufsehen erregten die Werke, weil hier ein kühner Versuch zu besichtigen war, die christliche Tradition mittels suggestiv (post-)moderner Erzähltechniken und einem tiefenpsychologisch geschulten Blick für archetypische Strukturen neu für die Gegenwart zu erschließen. Existentielle, urchristliche Thematiken wie Schuld, Opfer und Erlösung werden geschichtenerzählend vergegenwärtigt und auf modern-originelle Weise auf die Mysterien des Christentums bezogen. Man könnte von einem Umgießen heiliger Bilder und kanonischer Mythologeme in moderne Erfahrungsformen sprechen, einer unverhofften Wie-derbelebung der in ehrwürdiger Tradition erstarrten Narrative der Heiligen Schrift.(4)

Sei es das Heilungswunder abseits des Wegs nach Jericho in Riverside, die Totenerweckung in der kalifornischen Mojave-Wüste in Johnny Shines oder die Auferstehung im Felsengrab am Ostermorgen in Corpus Christi – durchwebt mit biblischen Bildern, Zitaten, Gestalten und Konfigurationen, apokryphen oder fiktiven Gleichnissen und Legenden, apokalyptischen Motiven, Visionen und Träumen, arrangiert um ausschweifend ‚platonische‘ Dialoge und sophistische Dispute, unterfüttert mit sokratischer Mäuetik hatte Patrick Roth (post)moderne Bibelerzählungen geschaffen, die das längst abgeschriebene antike Genre des Evangeliums neu auf die literarische Tagesordnung setzten. Kritiker sprachen von „Bibel-Krimis“, „paradoxen Gospeln“, modernen „Höhlengleichnissen“ oder „spirituellen Western“, sie hoben die Verschränkung von Historie und zeitgenössischer Gegenwart, von Bibel und Trivialliteratur, von Fakt und Fiktion hervor und räumten zugleich ein, dass es sich weder um unverbindliche Spiele mit der Tradition oder um bizarre Collagen von hoch- und popkulturellen Elementen noch um bloße Kontrafakturen handelt. Vielmehr schien hier einer den verrückten Versuch zu unternehmen, christliche Inhalte mit vollem Ernst in die radikal säkulare Kultur der Gegenwart zu vermitteln – jenseits der Legitimationskrise des Narrativen und unter Weiterentwicklung moderner Erzählstrategien wurde dem Re-ligiösen wieder eine Stimme in der zeitgenössischen Literatur gegeben.(5) Die offene Metaphysik von Patrick Roths Erzählen stieß in der gottfer-nen Welt der Feuilletons ebenso auf Verunsicherung wie die unbekümmerte Aufkündigung eines zentralen Theorems der literarischen Avantgarde, wonach der Kontrakt zwischen Sprache, Welt und Individuum seit Mallarmé unwiderruflich gebrochen sei. Anstelle der landläufigen Reflexionen und „Versuche“ über das Erzählen à la Peter Handke und Botho Strauß begegnet der Leser Patrick Roths einem dramatischen, erfahrungs-gesättigten Erzählgestus; anstelle der landläufigen Lakonie, Indifferenz und seelischen Abgebrühtheit trifft man auf eine Intensität und Emphase, die auch das Pathos nicht scheut und auf eine filmisch anmutende Unmittelbarkeit aus ist, die ins Geschehen hineinzieht und Identifikation ermöglicht.(6) Das größte Skandalon jedoch war vielleicht, dass die Christus Trilogie in einer geradezu schmerzlichen Authentizität und völlig frei von kirchlicher Dogmatik tiefreligiöse Erfahrungen zum Gegenstand hat, dass sie Gottesbegegnungen, Wiedererkennungen, prophetische Visionen und Heilungswunder dramatisiert und damit nachdrücklich auf die transzendente Lücke, das riesige Sinndefizit der kulturellen Gegenwart, wies. Der Transzendenzverlust des säkularen Zeitalters fungiert in allen Texten Roths als Ausgangslage einer Entwicklung, die mit der religiös entleerten Wirklichkeit, einer Glaubenskrise, dem verlorenen Bezug zum Göttlichen einsetzt und eine Quest auslöst, die über Prüfung und Leiderfahrung an ein Ziel führt, das oft erst im Nachhinein erkannt wird, wie auch die charakteristischen Suchbewegungen des modernen Menschen durch die historische Einkleidung der Texte hindurchschimmern.(7) Die Kritik räumte zwar ein, dass eine Novelle wie Riverside denkbar weit von christlichen Bekenntnisliteraturen entfernt sei, auch würdigte man die Originalität des Ansatzes, verstand die Provokation im Zugriff auf theologische Gehalte und bestaunte die Präsenz religiöser Szenen – und doch musste die christ-liche Signatur heruntergespielt und in typischen Abwehrgesten ironisch unterlaufen werden, wie die Besprechung im Spiegel beispielhaft erhellt.

Mit dem Prosa-Debüt Riverside hat sich Patrick Roth, 38, vom Heiden zu einer Stimme des Herrn gewandelt: „Heilig, heilig, heilig“, kommentierte die Frankfurter Allgemeine. Der Geläuterte ist ein rastloser Missionar. Er liest, signiert und verkauft in Buchhandlungen – und besonders gern in Gemeindesälen. Auch das Frauengefängnis zu Frankfurt-Preungesheim war ihm willkommene Weide. Im Juni will Roth dem Deutschen Katholikentag erscheinen. Der Auftritt krönt die wundersame Karriere eines sonderbaren Buchs. Wider alle Propheten, auch die im Hause Suhrkamp, hat Riverside den weihnachtlichen Bücher-Kehraus überstanden und nähert sich der dritten Auflage. Angestaubt und antiquiert wirkt, auf den ersten Anschein, fast alles an dieser Fibel. Christuslegenden – durchgeleiert und ausgeschrieben in zwei Jahrtausenden. Bibelstorys – bestenfalls von archäologischem Interesse.(8)

Auch wenn der anonyme Rezensent sich beeindruckt zeigt – „Roths Erzählstil – abgehoben und fern vom Volksmund. Tatsächlich ist Riverside anspruchsvolle Lektüre, ein Traktat über Glaubensfragen voll verzwickter Argumentationslogik“ – zieht er sich, wie es dem postmodernen Zeitgeist entsprach, hinter den intellektuellen Schutzwall des Sarkasmus zurück.

Von heute aus gesehen lässt sich die Christus Trilogie als Ausdruck eines neuen religiösen Bewusstseins verstehen, sie steht für eine andere Moderne mit Option zu einer Spiritualität, die den Glaubensrahmen nicht abschließt, sondern offenhält. Im Kern plädiert sie wie die Werke eines Joyce, Eliot, Yeats oder Celan für die Versöhnung der Dichotomie zwischen Moderne und Religion. Religiöse Fragen und Themen werden auf neue, individuelle Weise und durchgehend mit explizitem Bezug auf die Bibel dramatisiert – in einem neorealistischen Stil, der vom Film und der experimentellen Literatur der Moderne inspiriert ist. Offen oder verdeckt sind die Charaktere von religiösen Bedürfnissen getrieben, wie auch in ihren Geschichten die Wirklichkeit höherer transzendenter Ordnung aufscheint, zu der sie in Krisen und Konflikten durchstoßen. Das säkulare Weltbild wird in Roths Erzählen aufgebrochen und hinterfragt, es wird jedoch nicht durch ein Glaubenszeugnis ersetzt, die Protagonisten müs-sen ihren je eigenen Individuationsweg finden, letzte Sicherheiten meta-physischer oder moralischer Art sind nicht zu gewinnen. Es scheint, als wollten die Texte Patrick Roths der Literatur etwas zurückgewinnen, was sie im langen Prozess quälender Selbstreflexion verloren hat: das nicht-ironische Sprechen, die Unmittelbarkeit des Gottesbezugs, die Einheit von Ich und Welt, wie überhaupt das Vertrauen auf die weltverwandelnde Kraft des Wortes.

(...)

(1) So auch das Urteil Gerhard Kaisers, die Christus Trilogie liege „wie ein erratischer Block in der heutigen säkularen Literaturlandschaft“, in: ders., Resurrection. Die Christus-Trilogie von Patrick Roth. Der Mörder wird der Erlöser sein, Tübingen 2008, 17.

(2) Karl Löwith hat in Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953) darauf aufmerksam gemacht, dass die „Vollendung“ des Säkularisierungsprozesses in der Moderne den paradoxen Effekt einer Verabsolutierung und Sakralisierung der Geschichte hervorbringt.

(3) Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München, Leipzig 31930, 34ff. Weber hatte die Säkularisierung bereits in seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) in den umfassenderen religionsgeschichtlichen Pro-zess der „Entzauberung der Welt“ eingeordnet.

(4) Michael Braun fasst Roths Verfahren im Umgang mit religiösen Inhalten in ein ähnliches Bild: „Von der Christus Trilogie (1991–1996) bis zu dem Roman Sunrise. Das Buch Joseph (2012) arbeitet [Patrick Roth] an einer Umcodierung religiöser Erfahrungen in ebenso tiefschichtige wie spannende ästhetische Versuchsanordnungen, in die gleichermaßen der Film, die Tiefenpsychologie und die Literatur einfließen.“, in: Daniel Weidner (Hrsg.), Handbuch Literatur und Religion, Stuttgart 2016, 201.

(5) Zu Roths Konzept des Erzählens als Vermittlung von Erfahrung in Bezug auf Walter Benjamins Erzähltheorie vgl. Michaela Kopp-Marx: „Psychogramm des postmodernen Zeitgeists. Patrick Roths deutsch-amerikanischer Erzählzyklus ‚Starlite Terrace‘“, in: Klaus Kempter / Martina Engelbrecht (Hrsg.), Krise(n) der Moderne. Über Literatur und Zeitdiagnostik, Heidelberg 2021, 411–423, sowie den Beitrag von Bernhard Stricker in vorliegendem Band.

(6) Die Unbedingtheit des Gefühls bedeutet für die deutsche Literaturkritik ein weiteres großes Irritationspotential. Besonders bezüglich der Erzählung Meine Reise zu Chaplin wurde die „feierliche“ Tonlage und die „hymnisch aufbrausende Begeisterung“ des Filmstudenten moniert (SZ, 4.11.1997); der Autor selbst wur-de als „deutscher Pathetiker“ abgekanzelt (NZZ, 30.12.1997).

(7) So sind Roths Helden bereits namentlich ausgewiesene Gespaltene, Entzweite, Auseinander-Gestellte, wie z.B. in „Diastasimos“ und „Thomas Didymos“ (Zwilling) explizit angezeigt. Zur Transformation (Wandlung) als Paradigma in Roths Erzählen vgl. Michaela Kopp-Marx, „‚Verloren und eingeholt, gesät und gestorben‘. Individuation bei Patrick Roth veranschaulicht an der ‚Christus Trilogie‘“, in: Michaela Kopp-Marx / Georg Langenhorst (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „Christus Trilogie“ bis „Sunrise. Das Buch Joseph“, Göttingen 2014, 69–101.

(8) „Liebe unter Frommen“, Der Spiegel 19/1992, vgl. https://www.spiegel.de/ kultur/liebe-unter-frommen-a-fc62b5f8-0002-0001-0000-000009277895 [07.05.2021]. Einige typische, wahllos aus den Feuilletons herausgegriffene Überschriften von Besprechungen der Werke von und über Roth lauten „Heilig, heilig, heilig“ (FAZ, 03.12.1991), „Holz aus dem Bibelschinken“ (FAZ, 20.03.2001), „In Weihwasser gebadet“ (FAZ, 24.12.2008).

„Nahe dem Feuer“



Patrick Roth im Gespräch mit Michaela Kopp-Marx,
Thomas Menges, Martin W. Ramb und Holger Zaborowski über seine Christus Trilogie

(...)

Als Sie „Riverside“ schrieben, lebten Sie bereits 15 Jahre in Los Angeles. Hatte die amerikanische Glaubenskultur, sei es die evangelikale „born again“-Bewegung oder die spezifische Spiritualität Kaliforniens – Soziologen sprechen von „seeker spirituality“ –, einer Sinnsucher-Mentalität, Einfluss auf Ihr großes Interesse an Religion und religiösen Stoffen?

Ja, sicherlich. Es gab da viele persönliche Erfahrungen. Darüber in einigem Detail zu reden... wissen Sie, das wäre der Stoff, aus dem die Bücher sind. Lassen Sie mich aber Ihr Bild vom „Seeker“ aufgreifen. Es trifft für viele zu. „Seeker“ sagt mir, dass der Suchende noch nicht genau weiß, wonach er sucht. Nur der Such-Impuls ist zunächst vorhanden, vielleicht als „Unruhe“ oder „Beunruhigung“ zunächst. Dem folgt der „Seeker“, folgt ihm fast gezwungenermaßen. Schicksalhaft, könnte man sagen. Ein „Seeker“ verlässt seinen Ort, weil er weiß: „This isn’t it“. „Hier, wo ich bin – in der Heimat – finde ich es nicht.“ – „Es?“, was wäre das denn? Er weiß es noch nicht. Das ist der „Seeker“. Der Impuls aber, der die Bewegung ansticht und ihn letztlich „aus Ur“ verpflanzen wird, hat Wirkung genug. Hat z.B. die Macht, die kollektive Ratio in Schach zu halten, die etwa behauptet: „Aber hier hast du doch alles! Warum willst du wegziehen?“ Das sind die alten Götter, die Idole der Väter, das alte Bewusstsein, in das man „natürlich“ verstrickt ist und aus dem es sich als erstes zu befreien gilt – for better or for worse. So wird man schließlich vom „Seeker“ zum „Searcher“, der – anders als jener – nun zu wissen glaubt, wonach er sucht. Sehr genau sogar.

Man denkt unmittelbar an die „Searchers“ von John Ford, aber vielleicht haben Sie noch ein anderes Beispiel für diese typische Suchbewegung des modernen Menschen?

Ich denke da ganz zurück, ans Alte Testament – an das Muster Sauls, der die verlorenen Eselinnen des Vaters sucht. Nicht seinen eigenen „verlorenen Wert“, sondern den seines Vaters. Der „Searcher“ aber, gerade weil er zu wissen glaubt, wonach er sucht – unbewusst handelt er ganz für den Vater –, wird darin durchkreuzt. Wer oder was ihn durchkreuzt, sucht nämlich ebenfalls. Sucht nach ihm! Was ihn sucht, ist sein Auftrag – von dem er noch nichts ahnt. Im biblischen Mythos wird er Saul durch Samuel zuteil, der Saul, ohne den jungen Mann zu kennen, bereits „suchend“ erwartete. Wenig später wird Sauls Auftrag bestätigt – durch numinose Erfahrung. Ein Aspekt dieses ganzen Musters – einmal von außen betrachtet – ließe sich also so formulieren: Während wir suchen, was wir zu kennen glauben, macht sich etwas auf die Suche nach uns – etwas, das uns gänzlich unbekannt ist. Wo beide Such-Wege sich kreuzen, ereignet sich der Einbruch des Neuen – des Unbewussten, würden wir heute sagen. Und der kann sich als numinose Erfahrung erweisen. Ohne die initiale Suchbewegung aber, ohne das „Seeking“, wäre nichts geschehen. Man muss schon ein wenig Vertrauen haben, die notwendige „pistis“ in den Impuls – dass er nämlich tatsächlich zu etwas führen könnte. Wenn ich von vornherein sage: „Da ist nichts, ich bleibe, wo ich bin“, kommt nichts in Bewegung. Du musst, wie der amerikanische Tiefenpsychologe Edward F. Edinger sagt, das Minimum an Vertrauen aufbringen, dass Träume etwas bedeuten könnten, um durch genau-geduldige, empirische Untersu-chung Sinn aus ihnen zu fördern. – Das war die Grundhaltung aller, die –scheinbar schon immer – mit dem „Kalifornien“, dem promised land der „Seekers & Searchers“, verbunden war.

Alle Ihre Charaktere sind solche Sinnsucher, etwa die vier Protagonisten aus „Starlite Terrace“, die einst nach Los Angeles gekommen waren, dort etwas zu finden, das sie hält. In „Riverside“ sind es Tabeas und Andreas, die zu wissen glauben, wonach sie suchen. Ebenso Thomas in „Corpus Christi“, er sucht den Leib seines Herrn, um weiterleben zu können.

Sie alle werden durchkreuzt. Die Sucher erkennen sich dadurch als Gesuchte. Die erkennen wollten, als Erkannte. Aber ich rede nicht – jedenfalls nicht nur, nicht primär – von einem intellektuellen Erkennen. Denn das ist forgettable, bleibt Stückwerk, das aufhört. Ich rede von einer Erfahrung, die dich „anfasst“, dich so ergreift, dass du ganz wirst an ihr. Auf dass du das Ganze, das „Vollkommene“ – Vollständige – wenigstens einmal berührt hast. „Berührung“, konkret erfahren, vollkommenes Angenommenwerden, das dich ganz macht – gehören ja zu den Schlüsselmotiven in „Riverside“. Lassen Sie mich – die Szene fällt mir gerade ein – daher noch mal konkret im Bild zusammenfassen, was ich meine. Während einer Reise – wir sprachen damals über Erinnerungen, die große Sehnsucht auslösen – erzählte mir der Filmregisseur Francis Coppola einmal von einer Frau, die ihm so intensiv in Erinnerung blieb, dass er lange nach ihr gesucht hatte. In irgendeinem ausländischen Hotel sei er nachts in fiebri-gem Zustand aus dem Schlaf erwacht. Schmerzen im Bauch hatten ihn geweckt. Wahrscheinlich sei food poisoning – eine Lebensmittelvergiftung – der Auslöser gewesen. Mit letzter Kraft rief er bei der Rezeption an, bat um einen Arzt. Konnte dann den Hörer nicht mehr auflegen. Wenig später fiel er in Ohnmacht. Das Nächste, an das er sich erinnert, war eine Hand, kräftige Frauenhand, die seinen Kopf – er übergab sich immer wieder – über die Schüssel hielt. Zwei Knie, die bei ihm knieten. Und immer wieder die Hand. Die ihn hielt, die ihn legte, die ihn wusch, ihn umfing, ihn stützte. Die nicht losließ. Die ganze Nacht hindurch. Ihr Gesicht hat er nie gesehen. Und als er am Morgen erwachte, war die Frau nicht mehr im Zimmer. Ihr Name war nicht zu erfahren. Er habe alles Mögliche versucht. Er wollte ihr danken. „Sie hat mir das Leben gerettet“, meinte er. Es war dieser „Griff“, dieses Gefühl am Hinterkopf – an den er sich griff, als er von ihr redete –, das er nie vergessen habe. Im Zupacken der Hand war alles enthalten: Die Sicherheit dieser Hand, die ihn am Schopf hielt, ihn vor dem Ersticken bewahrte, die war es, die ihn nie losließ, die ihn am Leben hielt. Mehr noch, meinte Coppola. Die Nacht sei wie eine Geburt gewesen. Und jene Unbekannte war die, die ihn geboren hatte.

Schaut man auf die 1990er Jahre zurück, wirkt die „Christus Trilogie“ wie Schaut man auf die 1990er Jahre zurück, wirkt die „Christus Trilogie“ wie Unterhaltung oder auf Theorie und Reflexion, manche Jungautoren verbanden auch beides. Spirituelle Themen waren dagegen eine völlige „no go“-Zone, vielleicht auch aus Sorge, in der Esoterik-Ecke zu landen. Wie ist es Ihnen in diesem Klima gelungen, ihr Prosadebüt Riverside, das den Untertitel „Christusnovelle“ trägt, bei Suhrkamp unterzubringen?

Mein Lektor, Rainer Weiss, hat sich damals, 1991, für das Manuskript sehr eingesetzt, auch Ulla Berkéwicz, wie ich später von Siegfried Unseld erfuhr. Es war ja nicht das erste Manuskript – „Die Wachsamen“ waren bereits in der „edition suhrkamp“ erschienen. Anderen behagte „Riverside“ gar nicht, sie reagierten allergisch darauf: „Das passt so überhaupt nicht in die literarische Landschaft“, hieß es. Bis Unseld ein Machtwort sprach. Viele Kritiker – auch Reich-Ranicki, kam mir zu Ohren – hielten „Riverside“ für ein „postmodernes Spiel“ und schätzten es durchaus als solches. Als sich aber herumsprach: „Der meint das ernst“, zuckten manche zurück. Die spielend-ästhetisierende Sicht auf die Welt, in der das rationale Ich sich an der Macht glauben darf, war plötzlich gestört. Man schottet sich ab gegen den Sinn, vor dem das „Spiel“ zerbricht. Es gibt ihn nicht, weil es ihn nicht geben darf – die heutige Variante von The show must go on: Nur nicht aufwachen! Seitdem hat sich einiges geändert; und doch ist eine gewisse Reserviertheit des Literaturbetriebs diesen Büchern und ihren Inhalten gegenüber immer noch spürbar.

(...)

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Thomas Menges, Martin W. Ramb (Hg.)

Patrick Roth
Die Christus Trilogie

Unterrichtsideen für die Sekundarstufe II
Religion und Deutsch

Seit ihrem Erscheinen in den 1990er Jahren irritieren die Romane der Christus Trilogie Patrick Roths. Von manchen gefeiert, lassen sie andere Interpreten ratlos zurück. Quer zum Zeitgeist versucht Roth, eine Brücke zu den Erzählungen der Bibel zu schlagen. In neuer Sprache verlebendigt er die alte, aber bleibend aktuelle Botschaft von Heil, Erlösung und Auferstehung und erkundet Erfahrungsräume, die hinter den Oberflächen des Alltäglichen liegen.

Hierin liegt die religionsdidaktische Chance der Texte für den Unterricht: sie stellen die Frage, wie auch hete authentisches Leben und Glauben möglich ist, gleichzeitig sind sie "Passagenbereiter zur Erfahrung hinter dem Buch." (Patrick Roth)

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Inhalt

1

Georg Langenhorst
Schnittstellen zwischen dem Numinosen und dem Bewusstsein

Arbeiten mit Patrick Roths "Die Christus Trilogie" im Religonsunterricht

2

Das Numinose ist eine erfahrbare Wirklichkeit

Der Schriftsteller Patrick Roth im Gespräch über seine "Die Christus Trilogie"

3

Beatrix Mählmann
Patrick Roth: Riverside. Christusnovelle (1991)

Eine Unterrichtssequenz

4

Johanna Dransmann
Patrick Roth: Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten (1993)

Zwei Unterrichtssequenzen

5

Ute Lonny-Platzbecker
Patrick Roth: Corpus Christi (1996)

Eine Unterrichtssequenz

6

Marie-Luise Reis & Thomas Menges
Freudenmahl um himmlischen Jerusalem

Der Schriftsteller Patrick Roth inspiriert die Malerin Marie-Luise Reis zu einem neuen Bildmotiv - Eine Bildbetrachtung von Thomas Menges

Auferstehung erfahren

Patrick Roths Die Christus Trilogie im Gespräch

6. und 7. Juli 2018
an der Philosophisch-theologischen Hochschule der Pallotiner in Vallendar

Vorträge als Podcast


aufgenommen von Timo Michael Kessler
"Die Christus Trilogie" und das religiöse Problem der Moderne.
Vexierbilder. Eine bibelwissenschaftliche Spurensuche in Patrick Roths "Die Christus Trilogie"
Meine Reisen in Patrick Roths Welt. Notizen einer Exegetin
Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen. Patrick Roths literarische Verführungen – zum Glauben?
Vom Unsagbaren schreiben oder: Vom unsagbaren Schreiben. Philosophische Anmerkungen zur Poetik Patrick Roths
„I'm here for a funeral”: Film und die „Endlichkeit” des Erzählens in Patrick Roths "Die Christus Trilogie"
Transzendenzerfahrung in Alltagssprache und Literatur. Eine Auseinandersetzung mit Patrick Roths Riverside
Vorstellung der Unterrichtsideen zur "Die Christus Trilogie"

„Phase einer neuen Begegnung mit Gott“


Interview mit Patrick Roth auf der Tagung

Patrick Roth gehört gegenwärtig zu den Literaten, die sich in ihrem Œuvre von der Bibel anregen lassen. Was bedeutet das konkret für das Schreiben, und welchen Zusammenhang gibt es zwischen Literatur und Religion mit all ihren Facetten? Darüber sprachen wir mit dem Schriftsteller.
Die Fragen stellte Stefan Orth.

Herr Roth, Sie sind vor allem mit Ihrer Christus-Trilogie einem breiteren Publikum bekannt geworden. Worin liegt für Sie als Schriftsteller der Reiz, sich mit biblischen Stoffen auseinanderzusetzen beziehungs- weise sich von diesen Traditionen anregen zu lassen? Was beschäftigt Sie da besonders?

Es gibt für mich eigentlich keine anderen Texte. Was mich an der Bibel fasziniert, sind ihre Bilder, die letztlich aus dem Unbewussten kommen und die sich heute in unseren Träumen, natürlich in Variation, wiederereignen. Zumindest gilt das, wenn wir aufmerksam sind, hinschauen und sie genau ver- folgen. Es ist doch von enormer Bedeutung, dass Bilder, manche bereits vor 2700 Jahren fixiert, von der Psyche aus gesehen heute noch ebenso aktuell, also „wirksam-wirklich“ sind.

Also ganz im Sinne einer anthropologischen Konstante?

Ja. Mich interessiert eigentlich nur die Beziehung des Menschen zu einem – sagen wir es ganz neutral – Unendlichen, einem Höchsten. Dieser höchste Wert, dieses Unendliche transzendiert den Menschen dann im Sinne eines Übersteigens und bezieht ihn dadurch auf ein Anderes, dem er dient. Literatur, die die Dimension eines solchen Bezogenseins nicht berührt, nicht dramatisiert, sie nicht in irgendeiner Form – über Charaktere, den Plot oder den Erzähl-Sinn – thematisiert und damit: weiter-lebt, sie spähend-forschend erweitert, lässt mich kalt. Es reicht mir letztlich nicht, momentan fasziniert zu sein – von einem wunderbaren Ereignis oder einer bestimmten Technik –, wenn diese Technik die Sicht auf den Sinn unberücksichtigt lässt.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Nehmen Sie das Filmwerk von Alfred Hitchcock. Dieser Regisseur hat alles, jene Dimension eines unendlichen Aspekts des Unbewussten visuell zu vermitteln. Und doch hat er letztlich keine Ahnung von dem, was Träume wirklich sind. Er kennt sie, ist fasziniert, aber über ihren Sinn weiß er nichts. Er benutzt sie. Für ihn sind sie Th rill, sie dienen dem emotionalen Plot, letztlich: dem Entertainment. Hitchcock wollte nie über dieses Maß hinaus, seine Inszenierungen sind ihm in dieser Hinsicht gelungen – deshalb auch mit Recht zu genießen. Aber irgendwann merkt man, möglicherweise auch erst ab einem bestimmten Alter, dass uns etwas an Hitchcocks „slices of cake“ leer und unbefriedigt zurücklässt. Nach dem wunderbaren Auff ahren seiner Technik, seiner uns perfekt beherrschenden kinematischen Mittel, bleibt etwas leer – weil der Plot sich nicht auf ein Höheres beziehen kann als den erzählerischen Gimmick, den der Meister eingebaut hat. Eine Ausnahme, großartige Sekunden lang, ist die Szene in „Der falsche Mann“, als sich uns aus dem Gebet Henry Fondas das Bild seines Doppelgängers nähert.

Im Unterschied dazu also die Bibel. Was hat Sie an der Person Jesus von Nazareth gereizt, dass Sie sich ihr gleich mit drei Romanen literarisch angenähert haben?

Es war ein Traum – ich nenne ihn den „Quelltraum“ –, der Ende der Siebzigerjahre so gewaltig einschlug, dass er alles, was ich bis dahin realiter erlebt hatte, in den Schatten stellte. Über ihn selbst darf ich nicht reden. Aber letztlich war er der Erfahrungsgrund, auf dem die Christus-Trilogie später entstand.

Offensichtlich gibt es bei Ihnen eine Resonanz auf religiöse Fragestellungen und die spezifi sche Art der Th ematisierung von Wirklichkeit. Hilft eine religiöse Disposition beim Schreiben?

Es handelt sich – das wäre meine Defi nition einer „religiösen Disposition“ – um eine Einstellung, die auf die Bilder des Unbewussten genau achtet und in ihnen den Sinn sucht. Das Ringen mit dem Engel am Jabbok ist das archetypische Bild dafür, letztlich: das Ringen um den Sinn. Denn das ist der „Name“, der gewonnen wird. Der richtungsweisende Sinn eines Bilds, das wir nicht gemacht haben, das uns aber anvertraut wurde – im Traum oder einer Vision oder einem Einfall. Entscheidend ist nun der Sinn religiöser Disposition selbst. Und der fragt: Wie handelst du nun? Wie führst du mein Bild aus dem Kopf in den Alltag gelebten Lebens? Diesen entscheidenden Schritt lassen wir oft aus, bleiben fasziniert in der Vision hängen, gar an ihrer Ästhetik! Aber Jakob realisiert ihn, am Morgen schon – mit aufgehendem Bewusstsein.

Was heißt dieser Zugang für Ihre Art zu schreiben? Wie muss man sich den Schreibprozess vorstellen?

Was das Arbeiten betrifft , geht es oft um Mikrosekunden, in denen man entscheiden muss, in welche Richtung man weitergeht, welche Bilder man weiter verfolgt. Eine religiöse Disposition schärft das Achten auf die innere Stimme, die durchaus widersprechen, in eine ganz andere Richtung gehen kann. In meinem Buch „Die amerikanische Fahrt“ gibt es einen Text dazu: „Der Stimmenbrunnen“. Wie oft möchte man über diese kleine störende Stimme im Hintergrund einfach hinweggehen – und begeht ichmächtig den Fehler, sie unerhört zu lassen. Man sollte sich aber mit ihr auseinandersetzen. Sie ist, recht betrachtet, ein Geheimnis: die „soror mystica“ des Opus: Du arbeitest nicht allein. Etwas allgemeiner betrachtet, gehe ich also davon aus, dass der Aufgabe, die mir von innen – manchmal auch von außen – gegeben wird, ein Sinn zugrunde liegt. Manchmal scheint mir: Er lag schon immer da, ungesehen nur und unerhört. Oft aber auch: dass er durch die Suche gewachsen, durch sie überhaupt erst entstanden ist. Mein Suchen und das jener Stimme-des-Unbewussten, unsere gemeinsame Suche nach Sinn wäre dann geheimnisvoll identisch mit dessen Zeugung, einer sich in der Psyche des Individuums ereignenden mikrokosmischen Schöpfung.

erschienen in der Herder Korrespondenz 10/2018

Gelebter Dialog


Eindrücke vom Symposion „Auferstehung erfahren – Patrick Roths Christus Trilogie im Gespräch“ am 6./7. Juli 2018 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar

von Rita Anna Tüpper

Vom nördlichen Rheintal kommend, erreicht man kurz vor Koblenz die Anlagen der Pallottiner und der Philosophisch Theologischen Hochschule Vallendar nach wenigen weit geschwungenen Kurven durch ansteigende Hänge mit Laubwäldern und Gärten. Am 25. Juni 2017, also genau an Patrick Roths 64. Geburtstag, war ich zum ersten Mal dort: Damals las Roth in der Pallottikirche. Hinter ihm schien die Sonne durch das Rundfenster in der rechteckigen Apsis; ein quadratischer Glasvorhang mit filigranem Kreuzmuster lässt hier die Maueröffnung wie ein leuchtendes Bild erscheinen. Auch jetzt fiel durch die Buntglasscheibe das Licht in Gelb, Orange und Rot ein und warf einen schwebenden Feuerball auf die Fläche. Darunter, vor dem Altar: Patrick Roth mit einer Passage aus seiner Christus Trilogie und einer Intonation, die direkt aus dem erzählten Geschehen zu kommen schien, Orgelmusik in den Pausen – so erinnerte ich im Sommer 2018 diese Lesung als einen magischen Moment.

Natürlich war es eine Freude, als Michaela Kopp-Marx zusammen mit Holger Zaborowski und Martin Ramb ein Jahr später erneut nach Vallendar einlud. Ohne weitere Überlegung und die Situation des Vorjahres im Gedächtnis parkte ich meinen Wagen wiederum, diesmal irrtümlich, vor der Pallottikirche. So verging Zeit, bis ich mich endlich in Richtung auf die Philosophisch-Theologische Hochschule (PTHV) – erkennbar auch an der alles beobachtenden Katzendame vor dem Haupteingang – orientiert, den Vortragssaal erreicht und am Rande einer Reihe Platz genommen hatte ; die offizielle Begrüßung war schon vorüber. Es dauerte eine Weile, bis ich gewahr wurde, dass Patrick Roth nur zwei Meter entfernt in der gleichen Stuhlreihe unter den Zuhörern saß – offenbar ganz auf den ersten Vortrag konzentriert. Ein schöner Schrecken: Der Dichter der sakralen Bühne war plötzlich unprätentiös einer der Zuhörer und Gesprächspartner zum Thema „Auferstehung erfahren“.

Die eigenwillige, drehbuchartige Dynamik der Erzählungen erzeugt Roth mit einer dramaturgischen Könnerschaft, die an den Filmproduktionen Hollywoods geschult ist – geboren in Freiburg/Brsg., lebte er ab 1976 fast vier Jahrzehnte in Los Angeles, anfänglich um Filme zu machen. Wie die Großleinwand des Kinos den Zuschauer in das Filmgeschehen hineinnimmt, so überwindet auch die Literatur Roths durch den Aufriss eindringlicher Bilderfolgen die Distanz zum Leser. Roth will weder in erster Linie unterhalten noch belehren, sondern mit den Figuren seiner Geschichten Archetypen – auch im Leser - in Bewegung setzen. Das gilt besonders für die in den 1990er Jahren erschienenen Werke der Christus Trilogie, deren Mittelteil vom Autor ausdrücklich als „Seelenrede“ gekennzeichnet wurde, sowie für das 2012 vorgelegte Opus Magnum Sunrise. Das Buch Joseph, das für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Wissenschaftlichen Analysen, wie sie nun auch auf dem Symposium anlässlich des 65. Geburtstages von Patrick Roth in und zwischen verschiedenen Disziplinen geleistet wurden, liefert ein solches beziehungsreiches Schreiben ein Füllhorn unendlicher Motive, Anknüpfungs- und Vergleichsmomente, historischer und exegetischer Tiefenschichten. So spannend diese Rückbezüge und so wesentlich sie in jedem Falle für die Erschließung, Verbreitung und Kanonisierung des Werkes sind, so begrenzt bleiben die Mittel der Analyse doch qua definitionem bei dem Versuch, die von Roth eigentlich intendierte Ebene zu erreichen: Ihm gelingt nämlich das Kunststück, seinen mit exegetischer Akribie gehobenen Fundus in der Weitererzählung tiefenpsychologisch zu gravieren und ihn so mit der gleichsam ursprünglichen Kraft eines unmittelbaren Zeugnisses wirken zu lassen. Personen und Motive, wie etwa der Eremit Diastasimos und sein von den Besuchern Andreas und Tabeas eingeforderter Bericht über eine Begegnung mit Jesus in Riverside, erscheinen auch dank der dialogischen Struktur der Novelle hoch lebendig, ihre Geschichten vielschichtig und endlos ineinander verwoben; die Präsenz der Figuren und ihrer Handlungen wird von vielen Lesern als echter Impuls erfahren, der in ihr nicht fiktionales Sein real hineinwirkt. Professor Sr. Dr. Margareta Gruber (OSF) von der PTHV legte hierfür mit ihrem Vortrag „Meine Reise in Patrick Roths Welt“ ein mutiges persönliches Zeugnis ab.

Die Aufdeckung der Vorlagen und eine Synopse der Werke mit historisch-kritisch erschlossenen Bibeltexten, Apokryphen oder literatur- und filmhistorischen Untersuchungen sowie auch die sprachlich-stilistische und motivische Analyse können jedoch verständlich machen, welcher Art das Material ist, mit dem Roth arbeitet, in welchen Kontexten diese Arbeit steht und was sie in den aktuellen Diskursen zu bewirken vermag. Dass die wissenschaftliche Ebene für Roth selbst eine eher propädeutische Rolle spielt, bewiesen seine Einlassungen im Verlauf des Symposions. Der Grenzübergang vom Bewussten ins Unbewusste, in den Roth seine Leser mitnimmt, ist reflexiv nicht vollständig einzuholen und löst emotionale und hoch persönliche Prozesse aus, die ihrerseits mehr nach individuellem Ausdruck als nach distanzierter Beschreibung verlangen und so ihre künstlerische Absicht erreichen.

Dieser in seiner Poetik zentrale Aspekt der Realisierung psychischer Inhalte, die Zielrichtung der Texte auf die emotionale Wirklichkeit (und nicht etwa nur auf eine perfekte Fiktionalität) konnte in Vallendar nicht zuletzt durch die Anwesenheit des Autors und seine Anmerkungen klar und deutlich werden. Zentral ist: Roth rezipiert nicht, er „dramatisiert“ (M. Kopp-Marx) Elemente der christlichen Auferstehungserfahrung, mit der jene Protagonisten, die zunächst Außenseiter und Abgesonderte sind, besonders heftig ringen. Die biblischen Personen treten in fiktionalen Kontexten mit fiktionalen Personen in Kontakt. So entstehen in den ‚Nischen‘ der Bibeltexte oder auch um deren Handlungen herum völlig neue Auftritte, Aktionen und Äußerungen, die dennoch der poetischen Devise „no fiction“ folgen. Denn Roth strebt ein dem griechischen Klassiker Nikos Kazantzakis verwandtes Ziel an, „alles zum Wesenhaften hinzuordnen“ und erzählend auf eine Ebene vorzustoßen, „die wahrer ist“ als das Faktische. (Vorspruch zu „Mein Franz von Assisi“, Hamburg 1959). Daher werden die biblischen Passagen – so ist die Dramatisierungsthese wohl zu verstehen - nicht etwa einfach zeitgemäß wiedergegeben; ihre Akteure und Botschaften werden vielmehr progressiv in Szene gesetzt und in Handlungsabläufe eingebunden, die die menschlichen Tragödien der Gegenwart und ihre Erlösungsperspektiven mit umfassen.

Das Symposium „Auferstehung erfahren“ eröffnete die Roth-Expertin und Herausgeberin der kommentierten Neuauflage der Christus-Trilogie Professor Dr. Michaela Kopp-Marx, Universität Heidelberg, indem sie das Werk in den weiten Kontext des religiösen Problems der Moderne stellte: Nach dem Bruch des religiösen Weltbildes sind die „Haine“ des Glaubens „abgeholzt“ (Hegel) und die Menschen einer „Transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) ausgesetzt. Schon Friedrich Schleiermacher und William James definierten das Religiöse in der Folge als innere Haltung und Erfahrung. Dies ist der Hintergrund, vor dem Patrick Roth schreibt. Er radikalisiert nun die nach Innen gewendete Auseinandersetzung mit Religion, die er an Carl Gustav Jung anknüpfend als eine Funktion der menschlichen Psyche versteht und für unverzichtbar hält.

Michael Braun, Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln und Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung, setzte in Vallendar gegen das postmoderne Diktum vom Ende der Erzählungen die Beschreibung der Auferstehungsgeschichte als „eine der mächtigsten Quellen für Weitererzählungen und Fortsetzungen von fremder Hand“. Anders gewendet: Die im Neuen Testament bezeugte Auferstehung Christi symbolisiert im Sinne Patrick Roths auch, dass es zwar ein absolutes Ende einer Handlung (plot), nicht aber das Ende eines Geschehens geben kann, und das heißt auch keiner Erzählung (story): dem Tod ist – existentiell wie narrativ - der Stachel genommen. Er bezeichnet lediglich noch den Zustand, der der Auferstehung bzw. dem erzählerischen „ent-töten“ (Volker Klotz) vorausgeht. Dass es im Werk Patrick Roths, der 2003 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, zwar immer wieder um Endlichkeit - jedoch in der Perspektive auf Erlösung und Auferstehung - geht, zeigte Braun paradigmatisch an der „Seelenrede“ Johnny Shines: Der ‚Penner‘ und Leichenschänder Johnny kann die psychische Dimension der Auferstehung lange Zeit nicht erkennen und entwickelt ein hoch gestörtes Verhältnis zu toten menschlichen Körpern. Erlösung und Auferstehung werden für ihn erst erfahrbar, als seine verdrängte Biographie und damit seine (so empfundene) Schuld am Unfalltod seiner Schwester aufgedeckt wird; in der Folge wird Johnny akzeptieren, dass es vergeblich ist, tote Körper aus ihren Gräbern zu zerren und verstehen, dass er den Tod nur auf einer andern Ebene und in einem seelischen Prozess überwinden kann.

Brauns Nachweise der überaus engen Bezüge dieser „Seelenrede“ zum Film „The Man Who Shot Liberty Valance“ von John Ford, der nicht zuletzt als ein Dokument der zu Ende gehenden Western-Ära gesehen werden kann, impliziert die spannende Frage, ob mit Johnny Shines das Ende der Ära des Abgesanges auf die Kunst des Erzählens beschrieben wurde; schon 1936 hatte Walter Benjamin ihr Ende angekündigt, „weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt“. Dieses Verdikt, so der einhellige Tenor in Vallendar, ist in der Literatur Patrick Roths aufgehoben.

Auch philosophisch war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von Sprachkritik und dem Bewusstsein der Grenzen in Sprache fassbarer Erkenntnis geprägt, die das bekannte Wittgenstein-Diktum „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“ schon während des ersten Weltkrieges markierte. Professor Dr. Georg Langenhorst, Religionspädagoge der Universität Augsburg, wandelte es in die Formulierung „Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen“ um. Die Literatur Roths stehe in dem breiten Kontext der Überwindung religiös-poetischer Sprachlosigkeit, die nach der Stummheit der 60er und 70er Jahre mit einem „religious turn“ eingesetzt habe; Krüger, Enzensberger, Lewitscharoff und Rothmann seien sprechende Beispiele, doch schon Günter Eich habe darauf hingewiesen, so Langenhorst, dass man von Gott nicht sprechen könne, ohne zu wissen, was Sprache ist.

Der Neutestamentler Professor Dr. Thomas Schumacher (Friebourg/Schweiz) setzte ebenfalls bei dem aus der Sprachkritik resultierenden Spannungsverhältnis von Text und Leben, Schrift und Erfahrung an und bezog sich dabei zunächst auf den ersten Teil der Trilogie: Diastasimos, der schon erwähnte Protagonist aus Riverside, wehrt sich gegen seine Besucher, denn sie „schreiben Dich auf, graben Dich zu“. Schrift gilt ihm als Lebloses, Totes, das Niederschreiben als Begraben. Andreas und Tabeas aber, die den zurückgezogenen Höhlenbewohner besuchen, um an seiner Jesusbegegnung teilzuhaben, arbeiten sich bei diesem Versuch, die Erfahrung des Diastasimos festzuhalten, gewissenmaßen in eine eigene intensive Erfahrung hinein und überwinden den ‚toten Punkt‘. Indem sich Diastasimos mehr und mehr öffnet, weicht die Schrift einer weniger distanzierten Ausdruckform: Der intensive Dialog zwischen den Personen offenbart schließlich die familiäre Beziehung der über lange Zeit einander fremd, ja nicht einmal mehr erkennbar geworden Menschen und bewirkt ihr Wiedererkennen. Der Text, den sie über Jesus schreiben wollten, wandelt sich zum Selbstzeugnis, das nicht nur beschreibt oder schildert, sondern die eigene Erfahrung ausspricht. Roth führt den Text damit, so Schuhmacher, zu einer evangelienartigen Aussage. Der Leser wird zum Teilnehmer und kann zu einem Teil des Textes selbst werden.

Auch in Johnny Shines und Corpus Christi geht es um die Frage wörtlicher Schriftauffassungen und körperlicher Beweisstücke, die mit der seelisch-emotionalen und spirituellen Dimension der christlichen Botschaft im Konflikt stehen. Das Kleben am Buchstaben, so eine der zentralen Motive Patrick Roths, vermag den heilsamen Impuls des Glaubens nicht zu erschließen. Lässt man sich hingegen auf die seelische Ebene der Texte ein, so offenbart sich in den Novellen der Christus Trilogie wie in den Texten der des Neuen Testamentes – Schumacher bezog sich an diesem Punkt auf das Markus-Evangelium – eine Ringstruktur, die die Übergänge vom Leben zu Tod oder Krankheit und wiederum zurück zum Leben durch Heilung (insbesondere sozialer Beziehungen) und Auferstehung beschreiben. Der Mensch des alten Lebens wird mit eingetaucht in den Tod Jesu, wird mit ihm begraben und mit Christus auferstehen. Auch Bekehrungs- und Tauferlebnisse werden in einer ähnlichen Ringstruktur beschrieben. Die frühe Ähnlichkeit von Taufbecken mit Katakomben-Gräbern führte Schumacher an, um die auch historische Relevanz dieses urchristlichen Grundgedankens zu unterstreichen.

Indem Patrick Roth das biblische Textverständnis aufgreift, überwindet er die moderne Sprachskepsis, die zwar rationale Aussagewerte und metaphysische Wahrheitsansprüche auch weiterhin in Frage zu stellen vermag, die emotional-seelische Ebene der Sprache damit jedoch nicht tangiert. Lässt man sich bei der Lektüre auf diese ein und folgt man den im Markusevangelium wie in Riverside enthaltenen Aufforderungen zur Relektüre, so können beide Texte als komplementäre Erzählungen erlebt werden, wie Schumacher an zahlreichen Details eindrucksvoll nachwies. Mit der Intensität des Nachlesens steigt die Aufmerksamkeit dafür, dass viele Elemente wie Personen, Orte und Zeiten in doppelter Bedeutung erscheinen und mehrere Lesarten zulassen. Die Schrift selbst wird so zum durchlässigen Fixierbild, das keine Behauptungen aufstellt, sondern erleben und auf vielfältige Weise durchscheinen lässt: Der irdische Jesus wird mit dem auferstandenen Christus identisch, sie können als zwei Betrachtungs- und Erlebnisweisen desselben Phänomens gesehen werden.

Patrick Roth zeigte sich von dieser exegetischen Tiefenanalyse beeindruckt und war offenbar selbst erstaunt, wie intensiv der eigene Text trotz völlig verschiedener Handlungsverläufe auf einer nicht nur spirituellen sondern auch strukturellen Ebene mit dem Markus-Evangelium verwoben ist.

Ganz anders reagierte er jedoch auf einen weiteren Vergleich, den der Sprachwissenschaftler Professor Dr. Wolf-Andreas Liebert, Universität Koblenz-Landau, in seinem Vortrag zu Transzendenzerfahrung in Alltagssprache und Literatur zog und der auch im Plenum zu heftigen und sehr kontroversen Diskussionen führte. Liebert griff zunächst die Begegnung des Diastasimos mit einem römischen Hauptmann als Beispiel literarisch gestalteter Transzendenzerfahrung auf: Dieser Hauptmann, so berichtet der Höhlenbewohner in Riverside, habe ihn auf dem Tempelberg in Jerusalem, auf den er trotz seiner ansteckenden Hautkrankheit hinaufgestiegen war, attackiert und verletzt; derselbe Mensch habe aber mitempfindend die Konsequenzen seiner Tat erkannt, als ihm viel später und in gänzlich anderem Kontext Jesus gegenüberstand, der auf der Flucht vor den römischen Verfolgern als Knecht verkleidet war; um die Identität seines Herrn zu verschleiern, sei dieser nämlich von Judas gegeißelt worden. Unter dem zerrissenen Gewand habe der Römer bei Jesus plötzlich den gleichen Aussatz und die gleichen Wunden erblickt, die er ihm, Diastasimos, auf dem Tempelberg zugefügt habe. Erst indem er die Brutalität des Judas mit ansehen muss, schockiert ihn die eigene Gewalttat, wird als solche bewusst und bereut und er umarmt Jesus. Diastasimos hatte diese Szene heimlich beobachtet und gesteht jetzt seinen Zuhörern: „Und tief fuhr da in mich wie deren Arme ineinander waren gefahren…“(P. Roth, Christustrilogie, Göttingen 2017, S. 62). Die teilnehmende Beobachtung der für ihn sozusagen stellvertretenden Umarmung ist für Diastasimos eine Offenbarung, heilt ihn von seinem Aussatz und wird nach nur zögerlicher Mitteilung dieses Erlebnisses gleichwohl zur Voraussetzung für eine grundlegende Wende in seinem Leben.

Die angebliche Erfahrung der Lösung aller Probleme durch die schlichte Teilnahme an einem inspirierenden (vielleicht auch manipulativen) Gottesdienst machte hingegen eine sehr junge Frau, die von dieser - von ihr so gedeuteten - Gotteserfahrung auf YouTube berichtet. Liebert stellte ihren Bericht neben die Erfahrung des Diastasimos. Nicht nur Patrick Roth war bestürzt: Sollte hier gewissermaßen ein Ziegelstein mit einem architektonisch gestalteten Gebäude verglichen und die Gestaltung der Offenbarungsäußerung ignoriert werden? Einige Teilnehmer unterstützten seine Abwehr mit dem Hinweis, dass sich die Offenbarung in Riverside in der mitfühlenden Begegnung von Personen mitteile, in der einer den anderen erkenne, während die Youtuberin eine als erlösend empfundene Emotion mit egozentrischer, fast exhibitionistischer Attitüde zur Schau stelle und daher keine dem literarischen Beispiel kompatible Alltagserfahrung wiedergebe. Die im Plenum ebenso stark vertretene Gegenposition beharrte darauf, dass ein thematischer linguistischer Vergleich unabhängig vom Gestaltungsniveau des Materials möglich und sinnvoll sei, gerade auch um die Differenzen in der Sache herauszustellen. Offen blieb in der Debatte, ob der Begriff der Transzendenzerfahrung überhaupt auf beide Fälle angewendet werden könne.

Einig waren sich dagegen Autor und Plenum in Lob und Begeisterung für die Vorstellung der Unterrichtsideen zur Christustrilogie, die die Lehrerinnen Ute Lonny-Platzbecker und Beatrix Mählmann anhand ihrer Praxiserfahrung mit Riverside und Corpus Christi im Religionsunterricht präsentierten. Dabei gaben sie zu, die Werke im Unterricht nicht erfassen, sondern „nutzbar machen“ zu wollen, um eine zeitgemäße Annäherung an das Thema Auferstehung bei Schülerinnen und Schülern zu bewirken. Eine besonders effektive Methode sei dabei das schauspielerische Nachstellen und freie Weiterführen von Schlüsselsituationen der Novellen. Nähere Einzelheiten hierzu finden sich in dem soeben erschienenen Werkbuch mit Unterrichtsideen für die Sekundarstufe II in Religion und Deutsch von Thomas Menges und Martin W. Ramb, Abteilungsleiter Religionspädagogik, Medien und Kultur des Bischöflichen Ordinariates Limburg, der die frisch gedruckte Publikation in Vallendar selbst vorstellte.

Die offen gestandene Instrumentalisierung ‚hehrer‘ Literatur hätte wohl auf vielen anderen Literatursymposien lauten Protest verursacht. In Vallendar aber wurde im Gegenteil das einer selbstgenügsamen Ästhetik ablehnend gegenüber stehende poetische Programm Roths konsequent umgesetzt: Die Indienstnahme des literarischen Schaffens für das höhere Ziel eines Zugangs zur Auferstehungserfahrung wurde von Patrick Roth nicht nur geduldet sondern passioniert befürwortet. Denn seine Literatur will den seelischen Analphabetismus der Gegenwart überwinden, der einerseits zu materialistischer Abstumpfung, andererseits zu religiösem Fanatismus führen kann. Das zutiefst Religiöse fällt bei Patrick Roth mit dem zutiefst Humanen in Eins; der höchste literarisch-ästhetische Anspruch leitet sich allein aus dem höchsten Anspruch auf Sinnstiftung ab – ein Anspruch der das Proprium des Christlichen in Zeiten seines rapiden Einflussverlustes auf einem heute ungewohnten Terrain und daher umso deutlicher und vorbildlicher herauszustellen vermag.

Im o.g. Werkbuch ist u.a. ein Interview mit Roth enthalten (das Thomas Menges, Martin W. Ramb und Holger Zaborowski führten); darin zitiert er Martin Buber mit dem Satz „Eine Geschichte soll man so erzählen, dass sie selber Hilfe sei!“, denn – so Roth - letzten Endes gehe es bei allem künstlerischen Schaffen „um die Auferstehung Gottes im Individuum“.

Impressionen


© Matthias Cameran

Auferstehung erfahren

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