
von Holger Zaborowski
In jeder Messe, im »Kyrie« oder im »Agnus Dei«, wird Gott um sein Erbarmen gebeten. Menschen bedürfen nämlich immer wieder des göttlichen Erbarmens. Ihr Leben ist fehlbar und von Schuld und Sünde durchzogen. Immer wieder geraten sie unverschuldet in Not. Die Barmherzigkeit, das Sich-Erbarmen ist (das hat jüngst auch Papst Franziskus in Erinnerung gerufen) eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes. Dies glauben nicht nur Christen, sondern auch Juden und Muslime.
Erbarmen ist allerdings nicht einfach mit Mitleid gleichzusetzen. Wer mitleidet, ist solidarisch mit jenen, die leiden. Er wird auch versuchen, ihr Leid zu lindern. Erbarmen ist mehr als dies. Denn wer sich erbarmen kann, verfügt über eine eigenartige Macht. Diese Macht erlaubt es, von Unfrieden, Not und Schuld zu befreien. Sie erlaubt, einen neuen Anfang zu setzen. Wer darum bittet, dass Gott sich erbarmt, hofft genau dies: Dass an die Stelle der Trauer neue Hoffnung trete und dass, wo Verzweiflung und Schuld alles verdunkelt, das Licht der Erlösung scheine. Daher endet das »Agnus Dei« mit der Bitte um die Gabe des Friedens. Einen Anspruch darauf gibt es freilich nicht. Das Sich-Erbarmen bleibt – Geschenk.
Wo Menschen sich erbarmen, klingt dies schnell sentimental. Oft wird dieses Wort nur noch in ironischer Gebrochenheit verwendet. So erbarmt man sich des letzten Stückchens Kuchens auf einer Kaffeetafel. Vielleicht fürchtet man das »Machtgefälle«, das sich zeigt, wo barmherzig gehandelt wird. Möglicherweise will man auch nicht auf eine freie Gabe, etwas, das der Logik der Wirtschaft entgeht, angewiesen sein. Die Notwendigkeit des Sich-Erbarmens wird aber dort deutlich, wo die Barmherzigkeit fehlt. Dort, wo jemand unbarmherzig oder erbarmungslos vorgeht. Oder wo es einem Menschen erbärmlich geht. Hier ist nicht nur Gottes Erbarmen gefragt. Auch Menschen können und müssen sich einander erbarmen.
Dies muss nicht von oben herab geschehen. Sich-Erbarmen, das ist letztlich keine Geste überlegener Großzügigkeit, sondern der elementaren Menschlichkeit. Denn des Erbarmens und seines Friedens bedürfen alle Menschen – immer wieder. Daran erinnern nicht nur die »Werke der Barmherzigkeit«, sondern auch der Weiße Sonntag, der seit einigen Jahren auch »Barmherzigkeitssonntag« heißt.
von Susanne Krahe
Die Barmherzigkeit Gottes ist ein zentrales Thema des alten und neuen Testaments. Steht sie nicht für einen unzuverlässigen Gott, der Gerechtigkeit nicht walten lässt und Neid provoziert?
„Misericordia“ heißt das lateinische Original von „Barmherzigkeit“. Die deutsche Übersetzung schillert vielfach und setzt jeden, der sich zu dieser Regung bekennt, dem Verdacht der Rührseligkeit aus. Wörter wie „Erbarmen“ und „erbärmlich“, „erbarmungswürdig“, „erbarmungslos“ oder auch „herzig“ und „herzergreifend“ bringen eine Menge zweideutiger Gefühle ins Spiel. Einerseits gilt ein Handeln aus barmherzigen Motiven in allen Religionen und fast allen Kulturen als tugendhaft – und dass Jesus in der Bergpredigt die Barmherzigen seligpreist (Mt 5,7), bestätigt diese Wertschätzung: „… denn sie werden Erbarmen finden“: Dieses Versprechen hätte Jesus nicht gegeben, wenn der Mensch nicht auf das Erbarmen angewiesen wäre wie auf Nahrung für seinen Hunger (nach Gerechtigkeit, vgl. Mt 5,6).
Andererseits haftet allen gnädigen und barmherzigen Reaktionen auch eine Spur von Verächtlichkeit an. Sind es nicht meistens Gesten von oben herab, die eine ohnehin niedrige Empfängerin noch weiter erniedrigen? Helden kämpfen ohne solche sentimentalen Anwandlungen, Richter dürfen sich ihnen ebenso wenig beugen und Gutmenschen haben sie gar nicht erst nötig. Und Gott?
Wo der jüdisch-christliche Gott zum Subjekt von Barmherzigkeit wird, muss sein Charakter irgendwo zwischen einer laxen Nachlässigkeit bzw. Nachgiebigkeit und einer Souveränität verortet werden, die es sich leisten kann, vom hohen Ross der eigenen Heiligkeit zu steigen. Oder gehören Heiligkeit, Zorn und Gerechtigkeit zu Gottes Barmherzigkeit? Auf den ersten Blick scheinen sie sich zu widersprechen.
Unsere (Sprach-)Logik ist anders als die der biblischen Überlieferer. Wo moderne Köpfe Eigenschaften nur als Entweder - Oder in Beziehung setzen können, denken antike Menschen sie nebeneinander, komplementär oder überlappend. Im Hebräischen werden Erbarmen und Barmherzigkeit im Wesentlichen durch die Wurzeln rhm und hnn abgedeckt, wobei zahlreiche Parallelausdrücke die jeweilige Stoßrichtung der Begriffe präzisieren. Im Griechischen kommen Stellen mit dem Verb „eléein“ und dem Substantiv „eleos“ in Betracht.
hn und hnn kommen aus dem höfischen Sprachgebrauch. Ihre Richtung ist eindeutig: „Huld“ oder „Gnade“ kann nur der König einem Untertan gewähren, nicht umgekehrt. Mit diesem Akt eines Vorgesetzten oder in anderer Weise Überlegenen ist jedoch nicht unbedingt Demütigung verbunden, denn durch die Huldigung wird der Begünstigte persönlich und mit Zuneigung angesprochen, aus der namenlosen Menge hervorgehoben und auf diese Weise privilegiert. Entsprechend partnerschaftlich begegnet auch Gott einem derart begünstigten Menschen: Mose tritt zwar als Bittsteller vor Jahwe, erinnert ihn jedoch ohne Skrupel daran, dass er, Jahwe, gesagt habe, er kenne seinen Namen (vgl. Ex 33,12-17). Jahwe hat sich selbst als der „Ich bin für Euch da!“ bekannt gemacht. Dieser Name, diese Zusage seiner Anwesenheit, wird als Vertrauensbasis für weitere Erweise seiner Gnade in die Diskussion eingebracht und hat für Israels Gott etwas Zwingendes. So definiert hnn zwar eindeutig Geber und Nehmer, bindet jedoch gerade den Höheren, den Geber, an die Verpflichtungen, die er einem Nehmenden gegenüber eingegangen ist. Deshalb kann Mose zwar auf den Knien und mit erhobenen Händen um Zuwendung bitten, weiß aber von Gott, dass er seinen „Knecht“ in Wirklichkeit als Partner „auf Augenhöhe“ akzeptiert.
Während die Wurzel hnn mit Gottes Huld und Gnädigkeit Eigenschaften seines Wesens beschreibt, bringt rhm seine Gefühle ins Spiel. Die Wurzel steckt auch im hebräischen Wort für den „Mutterschoß“, bezeichnet die Eingeweide des Menschen, sein Inneres, und damit die weiche, verletzliche Stelle im Menschen. So bringt sie den aufgewühlten Zustand Josephs beim ersten Wiedersehen mit seinen Brüdern in Ägypten zum Ausdruck. Er kann sich vor lauter „Rührung“ kaum halten und weint (Gen 43,30). Kein Zweifel: Mit solchem „Erbarmen“ wird eine tiefe, emotionale Bewegung angesprochen. Gemeint ist ein Gefühl, das wir heute flapsig als „Angefasstsein“ bezeichnen würden, ohne damit ein Übermaß an Sentimentalität zu behaupten. Plötzlich verwandeln sich Über- und Unterordnungen in eine unbedeutende Formalität; alte Verletzungen zählen nicht mehr. Nicht, dass Joseph vergessen hätte, was seine Brüder ihm vor Jahren angetan haben! Er und sie wissen, dass sie ihm etwas schuldig sind. Sie hätten Strafe verdient. Doch beim Anblick ihrer Hilflosigkeit brechen solche Vorsätze wie Kartenhäuser zusammen.
Auch Gott kann seine Prinzipien über den Haufen werfen. Im Buch Hosea fühlt, leidet und handelt Jahwe wie ein eifersüchtiger Ehemann an seiner untreuen Frau, dem umworbenen, geretteten und dennoch seinen Zorn provozierenden, betrügerischen Israel. In seiner Enttäuschung nimmt Jahwe sich vor, diese „Hure“ zu verstoßen und die Bindung zwischen Gott und Volk zu lösen. Gott gibt Hosea den Befehl, seine Kinder „Nicht mein Volk“ und „Kein Erbarmen“ zu nennen (Hos 1,6.9). Aber Liebe lässt sich nicht auf Knopfdruck ausschalten. Das Herz Jahwes dreht sich in seinem Inneren um. „Nennt eure Brüder: Ammi (Mein Volk), und eure Schwestern: „Ruhama (Erbarmen).“ (Hos 2,3)
Rhm beschreibt demnach die Restitution eines zerbrochenen Kindschafts-, Ehe- und Gottesverhältnisses. Mit dieser Bestimmung kommt das Wort dem Begriff der haesed nahe, das häufig parallel zu rhm auftaucht und die sogenannte „Bundestreue“ Gottes meint. Meist hat der andere Partner des Bundes, Israel, den Vertrag mit Jahwe gebrochen und dessen Bedingungen nicht erfüllt. Er ist in seinem politischen, sozialen und religiösen Verhalten „untreu“ geworden wie ein ehebrecherischer Mensch. Dennoch erweist Gott sich als großzügig und solidarisch, zum Beispiel durch sein Erbarmen gegenüber dem zerstörten Jerusalem oder durch die Rückführung seines Volks aus dem Exil (vgl. Jer 12,15). Er will Israel ein „Ich bin (für Euch) da“, ein solidarischer Gott, bleiben und mit dieser Barmherzigkeit eines Tages das verführbare Herz Israels ganz für sich zurückgewinnen. „…sie alle, Klein und Groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr.“(Jer 31,34).
Auf diese Aufhebung der Schuld durch Gott selbst läuft seine Barmherzigkeit hinaus. Sie ist „Norm, Vorbild und Beweggrund“ (Biblisch-historisches Handwörterbuch: Barmherzigkeit, Göttingen 2004, 793) für menschliches Verhalten gegenüber Mitmensch und Mitgeschöpf. Konkret bedeutet das, das eigene Brot mit den Hungrigen zu teilen, Obdachlose ins Haus aufzunehmen oder Nackte zu kleiden (Jes 58,7 u.v.a.).
Gegen Ende der alttestamentlichen Zeit wurde das Gottesverständnis Israels um den Gedanken bereichert, dass der barmherzige und gnädige Jahwe sogar über die Regung der Reue verfüge (vgl. Joel 2,13). Sein Zorn und seine Straflust, mögen sie noch so „gerecht“ erscheinen, werden gemindert oder können ganz versiegen, wenn die Bestraften Buße üben. Die reuige Umkehr der Niniviten im Buch Jona bewirkt, dass Gott seinerseits es sich anders überlegt und die Stadt nicht zerstört. Jona, der 40 Tage lang Ninives Untergang gepredigt hat, ärgert sich über Gottes Wankelmut. Zwar weiß er, „dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen“ (Jona 4,2). Doch statt sich an diesem Gott zu freuen, wünscht sich der verbitterte Mann den Tod!
In herrlich ironischer Weise dokumentiert das Buch Jona eine absurde Reaktion auf Gottes Barmherzigkeit. Sie kann alle religiösen und nationalen Schranken überspringen – wahrlich kein Grund, die beleidigte Leberwurst zu spielen, nur weil das weite Herz Gottes nicht ins eigene Konzept passt! Die Überlieferer geben ein witziges Lehrstück über eine Seite Gottes ab, die Jona sich nicht vorstellen und die auch seine Landsleute womöglich nicht ohne Groll akzeptieren wollten: Gottes Barmherzigkeit beschränkt sich nicht mehr auf sein erwähltes Volk, sondern umfasst auch bußfertige „Heiden“, ja selbst Tiere (Jona 4,11).
Diese Linie in Richtung Toleranz gegenüber Fremden und Ungläubigen wird im Neuen Testament weitergezogen. Der Messias ist nicht nur für die Kinder des erwählten Volks zuständig, sondern auch für die griechischstämmigen Menschen aus der Nachbarschaft, die um sein Erbarmen bitten wie die Frau aus Syrophönizien bzw. Kanaan (vgl. Mt 15,22par).
Es ist allzu voreilig, über einen grollenden Jona die Nase zu rümpfen und sich über einen Propheten lustig zu machen, der seinen Auftrag missverstanden hat. Steckt hinter seiner Haltung nicht eine berechtigte Kritik? Malt die Geschichte der „bösen“ Stadt Ninive nicht das Bild eines unzuverlässigen, inkonsequenten Gottes aus, der mir nichts, dir nichts und von jetzt auf gleich seine eigenen Maßstäbe in den Wind schießt?
Das Neue Testament präsentiert Gottes Inkonsequenz nicht als Schwäche, sondern als seine eigentliche Stärke. Allerdings findet das nicht jeder sympathisch. Wenn Gott jemanden verschont, der nach den Maßstäben der Welt zu den „Sündern“ gehört und Strafe verdient, wirkt seine barmherzige Inkonsequenz ungerecht. In mehreren Gleichnissen Jesu wird das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit aufgegriffen. Die Überlieferer geben dabei ihre Beispiele nicht anhand von Szenen, in der Strafe nicht erteilt wird, sondern an solchen, in denen Menschen unverhoffte Gnaden- und Gunsterweise empfangen. Auch solche Wohltaten für Andere schmecken nicht ausschließlich süß.
„Bist du neidisch, weil ich gütig bin?“ fragt der Verwalter des Weinbergs in Mt 20,15 seine Kritiker. Sie empfinden es als unangemessen, dass diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, denselben Lohn erhalten wie die, die den ganzen Tag lang schuften mussten. Ganz ähnlich geht es im Gleichnis vom barmherzigen Vater Lk 15 zu: Im Schatten des Freudenfestes, das der Vater für den verlorenen, jetzt aber wiedergefundenen Sohn veranstalten lässt, fühlt der zweite, der „brave“ Sohn sich und seine eigenen Bemühungen zu wenig gewürdigt. „Er erwiderte dem Vater: So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet“ (Lk 15,29f).
Barmherzigkeit kann Neid provozieren. Gottes Herzensweite wird nicht nur mit Applaus, sondern auch mit menschlicher Engherzigkeit beantwortet. Aber Vorsicht! Die Empörung hat durchaus auch sachliche Gründe: Sie durchbricht den Zusammenhang von Tun und Ergehen, von bösen Taten und schlimmen Folgen, von Wohlverhalten und Lohn. Lohnt es sich unter diesen Umständen überhaupt, brav und angepasst zu leben, wenn am Ende den Aussteigern das Mastkalb geschlachtet wird? Lohnt sich der Fleiß, wenn jemand, der kaum seine Finger gerührt hat, genauso gut entlohnt wird wie ich?
Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg findet der Erzähler eine nahezu geniale Lösung dieses Konfliktes. Der Arbeitsherr rechtfertigt sein Verhalten mit seiner Freiheit. „Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?“ (Mt 20,15) Diese Freiheit ist eben nicht mit Willkür zu verwechseln – solange der Arbeitgeber nicht vertragsbrüchig handelt. Der großzügige Dienstherr hält sich trotz aller Großzügigkeit an die Abmachungen. Seine Barmherzigkeit verschafft dem Benachteiligten Vorteile, ohne jemand anderen zu benachteiligen. „Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart?“ (Mt 20,13)
Auch das Gleichnis vom barmherzigen Vater rehabilitiert den „ungerechten“ Gott. Es wurde ausdrücklich den Gegnern Jesu erzählt, die dessen herzlichen Umgang mit sogenannten Zöllnern und Sündern kritisierten. Die Geschichte inszeniert nun einen zur Umkehr bereiten Menschen, der mehr an Gnade und Vergebung erfährt als er zu hoffen gewagt hat. Der barmherzige Vater stellt keine Bedingungen. Alles, was der verlorene Sohn tun muss, ist nach Hause zurückzuwandern. Sein Vater geht ihm persönlich entgegen und empfängt ihn mit offenen Armen.
Ist das nicht eine Einladung, eine Ermutigung für alle, die Gott irgendwann den Rücken gekehrt haben? Selbst die Neider, selbst die Verbitterten werden eingeladen, sich zu besinnen und an einem solchen Gott Freude zu finden. Hatte nicht bereits die Hebräische Bibel Gottes Vaterschaft als unkündbar festgelegt? Bei Jahwe bleibt auch das gestrauchelte Israel Kind, bleibt die zur Hure degenerierte Ehefrau Ehefrau, erfahren selbst die „Heiden“ von Ninive, dass ihre Buße den hebräischen Gott berührt. In den Gleichnissen Lk 15 werden alle Sünder und Zöllner, alle neidischen, verlorenen Söhne und Töchter, ja selbst die schwarzen unter den verlorenen Schafen in eine Gemeinschaft aufgenommen, die auf Barmherzigkeit so elementar angewiesen ist wie auf Brot.
Die Gleichnisse von den Arbeitern im Weinberg und vom barmherzigen Vater machen anschaulich, dass es beim Thema der Barmherzigkeit in der Bibel nicht nur um ethische Fragen geht. Die Episoden berühren, dogmatisch gesprochen, die Problematik von Theodizee der Erwählung bzw. der Freiheit Gottes. Das heißt natürlich nicht, dass die Barmherzigkeit nicht auch eine ethische Impulsgeberin wäre! Im christlichen Umfeld drängt sich unter dem Stichwort sofort die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samaritaner auf (Lk 10,30ff). Dieser Mann, der aus jüdischem Blickwinkel eben nicht „rechtgläubig“ ist, behandelt einen halb toten, bedürftigen Fremden als seinen Nächsten. Er lässt dem Elenden zukommen, was der zum Überleben braucht, während ein frommer Priester und ein Levit einfach weitergehen. Auch dieses Gleichnis lebt, wie so oft bei den Texten des Evangelisten Lukas, von diesem Gegensatz zwischen dem nominell Frommen und Guten, und dem, der trotz seiner angeblichen Gottesferne das ethisch Gebotene tut. Einmal mehr bestätigt die Geschichte, dass Barmherzigkeit über allen Regeln steht, auch wenn diese Regeln an sich ihren Sinn haben. So begründet sie eine Ethik der Ausnahmen, des Augenzwinkerns, der geistig-geistlichen Flexibilität.
von Mouhanad Khorchide
Barmherzigkeit ist nicht nur ein Attribut, sondern eine Wesenseigenschaft Gottes, die er allen in Freiheit geschaffenen Menschen offenbart.
Muslime glauben daran, dass Gott den Menschen im Laufe der Geschichte verschiedene Schriften offenbart hat, in denen er sich mitteilt, also Aussagen über sich selbst macht. Und so können Menschen auch Aussagen über ihn machen. Gott hat nach islamischem Verständnis Interesse daran, sich selbst dem Menschen vorzustellen, sich ihm mitzuteilen, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Dadurch, dass Gott sich dem Menschen selbst mitteilt, macht er den ersten Schritt auf ihn zu und will ihm nahekommen. Gott sucht die Nähe zum Menschen, weil er im Grunde Mitliebende sucht: „Er liebt sie und sie lieben ihn.“ (Koran 5:54) Nicht, weil er darauf angewiesen wäre und Mitliebende bräuchte. Nein, ihm geht es einfach darum, seine Liebe und Barmherzigkeit nicht sich selbst vorzubehalten, er will vielmehr aus seiner endlosen Barmherzigkeit heraus andere in sie aufnehmen. Deshalb hat er den Menschen erschaffen und bietet ihm seine Liebe und Barmherzigkeit an. In Bezug auf die Erschaffung des Menschen heißt es im Koran: „Ich habe dem Menschen von meinem Geist eingehaucht.“ (Koran 15:29) Gott erschuf den Menschen als ein Wesen, das in der Lage ist, mit ihm in Kontakt zu treten, indem er ihm von seinem Geist einhauchte. Es ist etwas Göttliches in uns Menschen, das uns nicht nur erlaubt, nach dem Göttlichen zu suchen und es wahrzunehmen, sondern auch Sehnsucht danach zu haben, das eigene Leben auf Gott hin auszurichten.
Die Eigenschaft Gottes, mit der Gott sich im Koran am häufigsten beschreibt, ist die Barmherzigkeit. Das arabische Wort rahma (Barmherzigkeit) leitet sich von rahim (Mutterleib) ab. Die Bedeutung von Barmherzigkeit gewinnt dadurch eine physische und emotionale Konnotation mütterlicher Liebe. Der Koran verwendet zwei Begriffe, um die Barmherzigkeit Gottes auszudrücken: ar-Rahman (wird in der Regel mit „der Allbarmherzige“ übersetzt) und ar-Rahim (meist mit „der Allerbarmer“ wiedergegeben). Es besteht ein wichtiger qualitativer Unterschied zwischen beiden Begriffen: Während ar-Rahim (Allerbarmer) im Koran im Zusammenhang mit Gnade und Vergebung verwendet wird und damit die erbarmende Liebe Gottes zum Ausdruck bringt, ist ar-Rahman (Allbarmherziger) Ausdruck seiner ewigen, bedingungslosen Zuwendung seinem Willen gegenüber, den Menschen auszuerwählen, mit ihm in Dialog zu treten, ihm Angebote zu machen, sich selbst zu vervollkommnen, ihn zur ewigen Glückseligkeit einzuladen und schließlich, ihn in diese ewige Glückseligkeit aufzunehmen.
Barmherzigkeit kennt keinen Gegensatz, sodass sie als eine Wesenseigenschaft Gottes gilt; sie gehört zum Sein Gottes unabhängig von menschlichem Handeln. Die Formulierung „Gott ist die Barmherzigkeit“ ist daher zutreffender, als „barmherziger Gott“ zu formulieren.
Gott offenbart seine Barmherzigkeit in der vom Menschen gelebten und erfahrbaren Geschichte, also hier und jetzt auf der Erde. Sie ist eine Form der wirkenden Liebe Gottes, die sich dem Menschen zuwendet. Gott ist nicht nur der Schöpfer und Erhalter der Welt, sondern verbindet sich mit dem Menschen in Liebe, um ihn in seine Gemeinschaft aufzunehmen. Die Barmherzigkeit Gottes zum Menschen gründet in seinem ewigen Plan, den Menschen nicht nur zu erschaffen, sondern darüber hinaus sich selbst ihm zu offenbaren und ihn zu seiner Gemeinschaft einzuladen. Der Mensch muss dies aber auch erst annehmen, denn es erfordert von ihm die freie Hingabe an Gott. Und genau das will der Begriff „Islam“ ausdrücken: Die Hingabe an Gott, im Sinne der Zusage an Gottes Liebe und Barmherzigkeit.
Seine Entscheidungen trifft Gott nicht in der Zeit, sondern er ist immer entschieden für das, was er will. Die Erwählung des Menschen geht also auf den ewigen Entschluss Gottes zurück. Gott ist der Urheber seines Plans der Barmherzigkeit, der die ewige Erwählung des Menschen als Geschöpf Gottes umfasst. Zugleich schließt dieser Plan die geschichtliche Verwirklichung dieser Erwählung sowie ihre endzeitliche Vollendung ein. Im Rahmen dieses Plans schließt Gott durch die Schöpfung einen Bund mit allen Menschen. Barmherzigkeit ist die am häufigsten erwähnte Eigenschaft, die Gott sich selbst zuschreibt.
113 der 114 koranischen Suren beginnen mit der Formel „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“. Seine Barmherzigkeit beschreibt Gott im Koran als absolut. Das Einzige, zu dem sich Gott im Koran verpflichtet hat, ist Barmherzigkeit. In Sure 6, Vers 12 heißt es: „Er hat sich selbst der Barmherzigkeit verpflichtet.“ Diese Aussage wiederholt sich in derselben Sure im Vers 54. Der Koran geht sogar noch einen Schritt weiter: Er stellt die Barmherzigkeit nicht nur als Attribut Gottes, sondern als Wesenseigenschaft Gottes dar, die von Gott nicht getrennt werden kann, ja er setzt sie Gott gleich. So heißt es in Sure 17, Vers 110: „Ruft Allah, oder ruft ar-Rahman [den absolut Barmherzigen], egal was ihr ruft, ihm gehören die edelsten Namen.“; hier wird „Allah“ mit ar-Rahman gleichgesetzt. Auch der Koran selbst wird als Barmherzigkeit beschrieben: In Sure 7, Vers 52 heißt es: „Wir haben eine Schrift verkündet (…) als Rechtleitung und Barmherzigkeit für diejenigen, die daran glauben.“ Mit den Worten „Wir [Gott] haben dich [Mohammed] lediglich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt.“ (Koran 21:107), unterstreicht der Koran die Barmherzigkeit als Hauptanliegen und Hauptaspekt der Botschaft des Propheten Mohammeds.
Dies impliziert, dass jede Auslegung des Korans, die nicht mit dem Prinzip der Barmherzigkeit vereinbar ist, im Widerspruch zum Koran selbst und der Intention seiner Verkündigung steht und daher abzulehnen ist. Auch andere Schriften wie z.B. die Tafeln, die Moses erhalten hat, werden als Barmherzigkeit bezeichnet: „Und als sich Moses Zorn gelegt hatte, nahm er die Tafeln. In ihnen ist Rechtleitung und Barmherzigkeit enthalten.“ (Koran 7:154)
Die islamische Formel „allahu akbar“, die im islamischen Gebetsruf mehrmals wiederholt und mit der das rituelle islamische Gebet eingeleitet wird, bedeutet auf Deutsch „Gott ist größer“. Die Formel sagt jedoch nicht größer als was. Diese Formel will uns sagen, dass Gott größer ist, als gedacht werden kann. Egal wie man Gott denkt, Gott ist größer. Kann man einen Gott denken, der die Menschen mit Mitteln jenseits der Allmacht für sich gewinnen möchte? Ein Gott, der die Menschen mit Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit zu sich ruft, ist größer. Er will die Menschen nicht zu etwas zwingen, nicht manipulieren, ihnen keine Angst machen. Er will, dass die Menschen sich in Freiheit, aus einer inneren Überzeugung und mit Vertrauen auf seine Barmherzigkeit zu ihm wenden. Auch wenn der Mensch sündigt, bleibt Gott dem Menschen zugewandt, denn seine Barmherzigkeit ist bedingungslos und absolut. Deshalb sagt der Prophet Mohammed: „Gott streckt Arme der Liebe und Vergebung in der Nacht für diejenigen aus, die am Tag gesündigt haben, und er streckt Arme der Liebe und Vergebung am Tag für diejenigen aus, die in der Nacht gesündigt haben“. Gott verschließt sich dem Sündigen nicht. Er dreht ihm nicht den Rücken zu, sondern wartet mit offenen Armen auf seine Rückkehr. Der Mensch ist es, der sich Gott verschließt, der Mensch ist es, der Gott den Rücken zudreht, der Nein zu seiner Liebe sagt. In einer anderen Aussage des Propheten Mohammed wird die Freude Gottes über jeden, der sich ihm wieder zuwendet, bildhaft beschrieben: „Stellt euch vor, jemand ist alleine in der Wüste mit seinem Kamel unterwegs und plötzlich läuft das Kamel mit all seinem Essen und Trinken davon. Als der Mann es aufgibt, sein Kamel wiederz finden und sich resignierend, auf den Tod wartend, auf den Boden legt, steht plötzlich sein Kamel mit Essen und Wasser neben ihm. Stellt euch die Freude dieses Menschen vor! So freut Gott sich über jeden, der sich von ihm ab- und wieder zugewandt hat, mehr als dieser Mensch in der Wüste über das Kamel.“
Die Barmherzigkeit Gottes bedeutet allerdings keineswegs, dass damit grünes Licht für Sünde gegeben werden soll, im Sinne, „Ich gestalte mein Leben wie ich will, denn auch wenn ich Unrecht tue, Gott ist ja barmherzig“. Wie schon erwähnt, der Wille zur Integration des Menschen in seine Gemeinschaft gehört zum ewigen Plan Gottes. Voraussetzung dafür ist jedoch die Vervollkommnung des Menschen, die sich in der Annahme göttlicher Liebe und Barmherzigkeit ausdrückt. Dazu muss sich der Mensch in Freiheit entscheiden.
Die Sünde wirft den Menschen jedoch jedes Mal ein Stück auf dem Weg der Vollkommenheit zurück. Die Sünde steht daher im Gegensatz zur Vollendung der Barmherzigkeit Gottes und wird keineswegs durch sie bedeutungslos. Die Barmherzigkeit Gottes drückt sich darin aus, dass er um den Menschen bekümmert ist. Es lässt ihn nicht kalt, wenn Unrecht geschieht. So sagte der Prophet Mohammed: „Gott ist betroffen, wenn jemand sündigt.“ Der Mensch ist Gott eben nicht gleichgültig, Gott ist sowohl vom Leid dessen betroffen, dem Unrecht geschieht, als auch dadurch, dass der Sünder sich mit seinem unrechten Handeln von ihm abwendet. Es ist jedoch ein großer qualitativer Unterschied, ob man nicht sündigt, weil man Angst vor der Hölle hat, oder weil man Vollkommenheit und damit die Gemeinschaft Gottes anstrebt.
Die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, die Offenbarung Gottes selbst, seine Selbstmitteilung, bedarf eines Gegenübers, das in der Lage ist, sie in der Zeitlichkeit zu erfahren, damit sich die göttliche Intention, Mitliebende zu gewinnen, verwirklichen kann. Die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes kann sich nur in Beziehung zur Schöpfung verwirklichen. Gott greift allerdings nicht unmittelbar in der Welt ein, um sein Ziel – Liebe und Barmherzigkeit – zu erreichen, sondern er nimmt den Willen und das Handeln des Menschen in Anspruch, indem er ihn mit seinem Willen inspiriert. Es liegt letztendlich in der Entscheidung des Menschen, ob er mit Gott kooperiert oder nicht. Die göttliche Liebe und Barmherzigkeit als Ziel der Schöpfung auf der einen Seite und deren Verwirklichung hier auf der Erde auf der anderen Seite sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Mensch ist ein Medium der Verwirklichung göttlicher Liebe und Barmherzigkeit durch sein freies Handeln. Gott und Mensch arbeiten Seite an Seite, um Liebe und Barmherzigkeit als gelebte Wirklichkeit zu gestalten. Je vollkommener der Mensch ist, desto stärker wirkt Gott durch ihn, denn je vollkommener er ist, desto mehr ist er bereit, die göttlichen Absichten durch sich hindurch zu verwirklichen. Und je mehr er ein Medium der Verwirklichung göttlicher Intentionen ist, desto mehr Liebe und Barmherzigkeit verbreitet er (und umgekehrt). Die Vervollkommnung des Menschen darf also keineswegs auf eine ethisch-abstrakte Dimension reduziert werden; sie betrifft alle Bereiche des Lebens. Gottes Liebe und Barmherzigkeit werden Wirklichkeit durch Ärzte, Ingenieure, Anwälte, Richter, Soziologen, Politologen, Psychologen, Mütter, Väter, Kinder, Geschwister, Arbeiter usw. in all ihrem verantwortungsvollen Schaffen. Gott handelt zusammen mit all diesen Menschen, er wirkt durch uns alle. In dieser Perspektive lässt sich in jedem unserer Lebensumstände ein Ruf Gottes an uns Menschen entdecken, durch den er uns auf die uns angemessene Weise in seinen Plan integrieren möchte. Der Mensch ist also ein Medium göttlichen Wirkens, wenn er sich dafür zur Verfügung stellt. Das heißt jedoch nicht, dass Gott ihn wie ein Werkzeug nur benutzt. Denn nicht nur die Intention Gottes verwirklicht sich durch den Menschen, sondern auch der Mensch selbst. Er kommt seinem Ziel, seiner Vervollkommnung einen Schritt näher. Zwei Begriffe drücken im Koran dieses Menschenbild aus: der Begriff „Abd“ (Diener Gottes) und der Begriff „Kalif“ (Verwalter). Beide beziehen sich auf die Erwählung des Menschen. Damit der Mensch dieser Erwählung gerecht wird und in die Gemeinschaft Gottes zurückkehrt, muss er Gottes Liebe annehmen. Man dient Gott in dem Sinne, dass man sich als Medium für Gottes Wirken zur Verfügung stellt. Da Gott in der Welt hauptsächlich durch den Menschen eingreift, könnte man zugespitzt sagen: Gott braucht den Menschen, um seine Absicht von Liebe und Barmherzigkeit Realität werden zu lassen. Der Prophet Mohammed erzählte:
Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ‚Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben, und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‘ Der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ‚Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder hungrig sein?!‘ Da wird ihm Gott antworten: ‚Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig und du hast ihm nichts zum Essen gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‘
Diese Erzählung erinnert an das Matthäus-Evangelium, Kapitel 25, das eine ähnliche Erzählung anführt und anschließend betont: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
von Daniel Krochmalnik
Im Hauptattribut Barmherzigkeit überwindet der Bundesgott die Tauromorphismen der antiken Welt und fordert bis heute zum inneren Bildersturm heraus.
Muslime glauben daran, dass Gott den Menschen im Laufe der Geschichte verschiedene Schriften offenbart hat, in denen er sich mitteilt, also Aussagen über sich selbst macht. Und so können Menschen auch Aussagen über ihn machen. Gott hat nach islamischem Verständnis Interesse daran, sich selbst dem Menschen vorzustellen, sich ihm mitzuteilen, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Dadurch, dass Gott sich dem Menschen selbst mitteilt, macht er den ersten Schritt auf ihn zu und will ihm nahekommen. Gott sucht die Nähe zum Menschen, weil er im Grunde Mitliebende sucht: „Er liebt sie und sie lieben ihn.“ (Koran 5:54) Nicht, weil er darauf angewiesen wäre und Mitliebende bräuchte. Nein, ihm geht es einfach darum, seine Liebe und Barmherzigkeit nicht sich selbst vorzubehalten, er will vielmehr aus seiner endlosen Barmherzigkeit heraus andere in sie aufnehmen. Deshalb hat er den Menschen erschaffen und bietet ihm seine Liebe und Barmherzigkeit an. In Bezug auf die Erschaffung des Menschen heißt es im Koran: „Ich habe dem Menschen von meinem Geist eingehaucht.“ (Koran 15:29) Gott erschuf den Menschen als ein Wesen, das in der Lage ist, mit ihm in Kontakt zu treten, indem er ihm von seinem Geist einhauchte. Es ist etwas Göttliches in uns Menschen, das uns nicht nur erlaubt, nach dem Göttlichen zu suchen und es wahrzunehmen, sondern auch Sehnsucht danach zu haben, das eigene Leben auf Gott hin auszurichten.
Die Eigenschaft Gottes, mit der Gott sich im Koran am häufigsten beschreibt, ist die Barmherzigkeit. Das arabische Wort rahma (Barmherzigkeit) leitet sich von rahim (Mutterleib) ab. Die Bedeutung von Barmherzigkeit gewinnt dadurch eine physische und emotionale Konnotation mütterlicher Liebe. Der Koran verwendet zwei Begriffe, um die Barmherzigkeit Gottes auszudrücken: ar-Rahman (wird in der Regel mit „der Allbarmherzige“ übersetzt) und ar-Rahim (meist mit „der Allerbarmer“ wiedergegeben). Es besteht ein wichtiger qualitativer Unterschied zwischen beiden Begriffen: Während ar-Rahim (Allerbarmer) im Koran im Zusammenhang mit Gnade und Vergebung verwendet wird und damit die erbarmende Liebe Gottes zum Ausdruck bringt, ist ar-Rahman (Allbarmherziger) Ausdruck seiner ewigen, bedingungslosen Zuwendung seinem Willen gegenüber, den Menschen auszuerwählen, mit ihm in Dialog zu treten, ihm Angebote zu machen, sich selbst zu vervollkommnen, ihn zur ewigen Glückseligkeit einzuladen und schließlich, ihn in diese ewige Glückseligkeit aufzunehmen.
Barmherzigkeit kennt keinen Gegensatz, sodass sie als eine Wesenseigenschaft Gottes gilt; sie gehört zum Sein Gottes unabhängig von menschlichem Handeln. Die Formulierung „Gott ist die Barmherzigkeit“ ist daher zutreffender, als „barmherziger Gott“ zu formulieren.
Gott offenbart seine Barmherzigkeit in der vom Menschen gelebten und erfahrbaren Geschichte, also hier und jetzt auf der Erde. Sie ist eine Form der wirkenden Liebe Gottes, die sich dem Menschen zuwendet. Gott ist nicht nur der Schöpfer und Erhalter der Welt, sondern verbindet sich mit dem Menschen in Liebe, um ihn in seine Gemeinschaft aufzunehmen. Die Barmherzigkeit Gottes zum Menschen gründet in seinem ewigen Plan, den Menschen nicht nur zu erschaffen, sondern darüber hinaus sich selbst ihm zu offenbaren und ihn zu seiner Gemeinschaft einzuladen. Der Mensch muss dies aber auch erst annehmen, denn es erfordert von ihm die freie Hingabe an Gott. Und genau das will der Begriff „Islam“ ausdrücken: Die Hingabe an Gott, im Sinne der Zusage an Gottes Liebe und Barmherzigkeit.
Seine Entscheidungen trifft Gott nicht in der Zeit, sondern er ist immer entschieden für das, was er will. Die Erwählung des Menschen geht also auf den ewigen Entschluss Gottes zurück. Gott ist der Urheber seines Plans der Barmherzigkeit, der die ewige Erwählung des Menschen als Geschöpf Gottes umfasst. Zugleich schließt dieser Plan die geschichtliche Verwirklichung dieser Erwählung sowie ihre endzeitliche Vollendung ein. Im Rahmen dieses Plans schließt Gott durch die Schöpfung einen Bund mit allen Menschen. Barmherzigkeit ist die am häufigsten erwähnte Eigenschaft, die Gott sich selbst zuschreibt.
113 der 114 koranischen Suren beginnen mit der Formel „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“. Seine Barmherzigkeit beschreibt Gott im Koran als absolut. Das Einzige, zu dem sich Gott im Koran verpflichtet hat, ist Barmherzigkeit. In Sure 6, Vers 12 heißt es: „Er hat sich selbst der Barmherzigkeit verpflichtet.“ Diese Aussage wiederholt sich in derselben Sure im Vers 54. Der Koran geht sogar noch einen Schritt weiter: Er stellt die Barmherzigkeit nicht nur als Attribut Gottes, sondern als Wesenseigenschaft Gottes dar, die von Gott nicht getrennt werden kann, ja er setzt sie Gott gleich. So heißt es in Sure 17, Vers 110: „Ruft Allah, oder ruft ar-Rahman [den absolut Barmherzigen], egal was ihr ruft, ihm gehören die edelsten Namen.“; hier wird „Allah“ mit ar-Rahman gleichgesetzt. Auch der Koran selbst wird als Barmherzigkeit beschrieben: In Sure 7, Vers 52 heißt es: „Wir haben eine Schrift verkündet (…) als Rechtleitung und Barmherzigkeit für diejenigen, die daran glauben.“ Mit den Worten „Wir [Gott] haben dich [Mohammed] lediglich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt.“ (Koran 21:107), unterstreicht der Koran die Barmherzigkeit als Hauptanliegen und Hauptaspekt der Botschaft des Propheten Mohammeds.
Dies impliziert, dass jede Auslegung des Korans, die nicht mit dem Prinzip der Barmherzigkeit vereinbar ist, im Widerspruch zum Koran selbst und der Intention seiner Verkündigung steht und daher abzulehnen ist. Auch andere Schriften wie z.B. die Tafeln, die Moses erhalten hat, werden als Barmherzigkeit bezeichnet: „Und als sich Moses Zorn gelegt hatte, nahm er die Tafeln. In ihnen ist Rechtleitung und Barmherzigkeit enthalten.“ (Koran 7:154)
Die islamische Formel „allahu akbar“, die im islamischen Gebetsruf mehrmals wiederholt und mit der das rituelle islamische Gebet eingeleitet wird, bedeutet auf Deutsch „Gott ist größer“. Die Formel sagt jedoch nicht größer als was. Diese Formel will uns sagen, dass Gott größer ist, als gedacht werden kann. Egal wie man Gott denkt, Gott ist größer. Kann man einen Gott denken, der die Menschen mit Mitteln jenseits der Allmacht für sich gewinnen möchte? Ein Gott, der die Menschen mit Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit zu sich ruft, ist größer. Er will die Menschen nicht zu etwas zwingen, nicht manipulieren, ihnen keine Angst machen. Er will, dass die Menschen sich in Freiheit, aus einer inneren Überzeugung und mit Vertrauen auf seine Barmherzigkeit zu ihm wenden. Auch wenn der Mensch sündigt, bleibt Gott dem Menschen zugewandt, denn seine Barmherzigkeit ist bedingungslos und absolut. Deshalb sagt der Prophet Mohammed: „Gott streckt Arme der Liebe und Vergebung in der Nacht für diejenigen aus, die am Tag gesündigt haben, und er streckt Arme der Liebe und Vergebung am Tag für diejenigen aus, die in der Nacht gesündigt haben“. Gott verschließt sich dem Sündigen nicht. Er dreht ihm nicht den Rücken zu, sondern wartet mit offenen Armen auf seine Rückkehr. Der Mensch ist es, der sich Gott verschließt, der Mensch ist es, der Gott den Rücken zudreht, der Nein zu seiner Liebe sagt. In einer anderen Aussage des Propheten Mohammed wird die Freude Gottes über jeden, der sich ihm wieder zuwendet, bildhaft beschrieben: „Stellt euch vor, jemand ist alleine in der Wüste mit seinem Kamel unterwegs und plötzlich läuft das Kamel mit all seinem Essen und Trinken davon. Als der Mann es aufgibt, sein Kamel wiederz finden und sich resignierend, auf den Tod wartend, auf den Boden legt, steht plötzlich sein Kamel mit Essen und Wasser neben ihm. Stellt euch die Freude dieses Menschen vor! So freut Gott sich über jeden, der sich von ihm ab- und wieder zugewandt hat, mehr als dieser Mensch in der Wüste über das Kamel.“
Die Barmherzigkeit Gottes bedeutet allerdings keineswegs, dass damit grünes Licht für Sünde gegeben werden soll, im Sinne, „Ich gestalte mein Leben wie ich will, denn auch wenn ich Unrecht tue, Gott ist ja barmherzig“. Wie schon erwähnt, der Wille zur Integration des Menschen in seine Gemeinschaft gehört zum ewigen Plan Gottes. Voraussetzung dafür ist jedoch die Vervollkommnung des Menschen, die sich in der Annahme göttlicher Liebe und Barmherzigkeit ausdrückt. Dazu muss sich der Mensch in Freiheit entscheiden.
Die Sünde wirft den Menschen jedoch jedes Mal ein Stück auf dem Weg der Vollkommenheit zurück. Die Sünde steht daher im Gegensatz zur Vollendung der Barmherzigkeit Gottes und wird keineswegs durch sie bedeutungslos. Die Barmherzigkeit Gottes drückt sich darin aus, dass er um den Menschen bekümmert ist. Es lässt ihn nicht kalt, wenn Unrecht geschieht. So sagte der Prophet Mohammed: „Gott ist betroffen, wenn jemand sündigt.“ Der Mensch ist Gott eben nicht gleichgültig, Gott ist sowohl vom Leid dessen betroffen, dem Unrecht geschieht, als auch dadurch, dass der Sünder sich mit seinem unrechten Handeln von ihm abwendet. Es ist jedoch ein großer qualitativer Unterschied, ob man nicht sündigt, weil man Angst vor der Hölle hat, oder weil man Vollkommenheit und damit die Gemeinschaft Gottes anstrebt.
Die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, die Offenbarung Gottes selbst, seine Selbstmitteilung, bedarf eines Gegenübers, das in der Lage ist, sie in der Zeitlichkeit zu erfahren, damit sich die göttliche Intention, Mitliebende zu gewinnen, verwirklichen kann. Die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes kann sich nur in Beziehung zur Schöpfung verwirklichen. Gott greift allerdings nicht unmittelbar in der Welt ein, um sein Ziel – Liebe und Barmherzigkeit – zu erreichen, sondern er nimmt den Willen und das Handeln des Menschen in Anspruch, indem er ihn mit seinem Willen inspiriert. Es liegt letztendlich in der Entscheidung des Menschen, ob er mit Gott kooperiert oder nicht. Die göttliche Liebe und Barmherzigkeit als Ziel der Schöpfung auf der einen Seite und deren Verwirklichung hier auf der Erde auf der anderen Seite sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Mensch ist ein Medium der Verwirklichung göttlicher Liebe und Barmherzigkeit durch sein freies Handeln. Gott und Mensch arbeiten Seite an Seite, um Liebe und Barmherzigkeit als gelebte Wirklichkeit zu gestalten. Je vollkommener der Mensch ist, desto stärker wirkt Gott durch ihn, denn je vollkommener er ist, desto mehr ist er bereit, die göttlichen Absichten durch sich hindurch zu verwirklichen. Und je mehr er ein Medium der Verwirklichung göttlicher Intentionen ist, desto mehr Liebe und Barmherzigkeit verbreitet er (und umgekehrt). Die Vervollkommnung des Menschen darf also keineswegs auf eine ethisch-abstrakte Dimension reduziert werden; sie betrifft alle Bereiche des Lebens. Gottes Liebe und Barmherzigkeit werden Wirklichkeit durch Ärzte, Ingenieure, Anwälte, Richter, Soziologen, Politologen, Psychologen, Mütter, Väter, Kinder, Geschwister, Arbeiter usw. in all ihrem verantwortungsvollen Schaffen. Gott handelt zusammen mit all diesen Menschen, er wirkt durch uns alle. In dieser Perspektive lässt sich in jedem unserer Lebensumstände ein Ruf Gottes an uns Menschen entdecken, durch den er uns auf die uns angemessene Weise in seinen Plan integrieren möchte. Der Mensch ist also ein Medium göttlichen Wirkens, wenn er sich dafür zur Verfügung stellt. Das heißt jedoch nicht, dass Gott ihn wie ein Werkzeug nur benutzt. Denn nicht nur die Intention Gottes verwirklicht sich durch den Menschen, sondern auch der Mensch selbst. Er kommt seinem Ziel, seiner Vervollkommnung einen Schritt näher. Zwei Begriffe drücken im Koran dieses Menschenbild aus: der Begriff „Abd“ (Diener Gottes) und der Begriff „Kalif“ (Verwalter). Beide beziehen sich auf die Erwählung des Menschen. Damit der Mensch dieser Erwählung gerecht wird und in die Gemeinschaft Gottes zurückkehrt, muss er Gottes Liebe annehmen. Man dient Gott in dem Sinne, dass man sich als Medium für Gottes Wirken zur Verfügung stellt. Da Gott in der Welt hauptsächlich durch den Menschen eingreift, könnte man zugespitzt sagen: Gott braucht den Menschen, um seine Absicht von Liebe und Barmherzigkeit Realität werden zu lassen. Der Prophet Mohammed erzählte:
Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ‚Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben, und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‘ Der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ‚Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder hungrig sein?!‘ Da wird ihm Gott antworten: ‚Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig und du hast ihm nichts zum Essen gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‘
Diese Erzählung erinnert an das Matthäus-Evangelium, Kapitel 25, das eine ähnliche Erzählung anführt und anschließend betont: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
von Hermann-Josef Perrar und Esther Dreiner
Hinweise auf das biblische Verständnis
Das hebräische Wort für „erbarmen“ heißt „racham“. Dieses Wort wiederum ist wurzelverwandt mit dem hebräischen Wort „rächäm“, das „Mutterschoß“ bedeutet. Diese Wurzel liegt auch dem hebräischen Wort „rachamim“ zugrunde, das mit „Mitgefühl“, „Mitleid“, „Erbarmen“ übersetzt werden kann. Diese Zusammenhänge können uns auf ein Zweifaches verweisen: im hebräischen Wort „erbarmen“ spiegelt sich zum einen eine frauenspezifische Empfindung wider und zum anderen die Haltung der werdenden Mutter zum wachsenden Leben in ihrem Schoß.
Diese Verbindung von „Mutterschoß“ und „erbarmen“ verweist darauf, dass jedes Erbarmen ein Ausgangspunkt für neues Leben ist. Erbarmen kann bewirken, dass menschliches Leben entstehen, wachsen, sich entfalten und reifen kann. Erbarmen ist ein lebensbejahendes und lebensstiftendes Verhalten.
Auch das lateinische Wort „misericordia“ kann einen Zugang zum deutschen Wort „Erbarmen“ eröffnen: „miser – cor – dia“ = ein Herz für Arme (Schwache) haben; ein erbarmender Mensch hat ein Herz für Arme, Schwache.
In den Wörtern „erbarmen“, „Barmherzigkeit“ begegnen wir sozial-ethischem Verhalten in der Form gelebter Solidarität mit leidenden Menschen. Die zentralen Verse für die Überlieferungen der Hebräischen Bibel finden wir in Exodus 34,6 f. Nach dem Kommentar von Ch. Dohmen lauten sie:
JHWH (ist) JHWH. Ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und von großer Huld und Treue, der tausend (Generationen) Huld bewahrt, der Schuld, Frevel, und Sünde wegnimmt, aber er spricht nicht einfach frei, der die Schuld der Väter prüft bei den Söhnen und Enkeln, bei der dritten und vierten Generation.
Diese Selbstoffenbarung Gottes hat innerhalb der Hebräischen Bibel ihre Wirkungsgeschichte: innerhalb der Tora in Num 14,18, im Prophetenbuch Joel 2,13, in den Psalmen 86,15; 103,8; 145,8 und im Buch Nehemia 9,17. Im Buch Jona 4,2 ist die Barmherzigkeit Gottes Anlass dafür, dass Jona Gott wegen seiner Barmherzigkeit rechthaberisch anklagt. Jona muss begreifen lernen: Der Gott Israels ist der Gott aller Menschen.
In den neutestamentlichen Traditionen begegnet uns das Sprechen von der „Barmherzigkeit Gottes“ in den lukanischen Gleichnissen vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37) und vom „barmherzigen Vater“ (Lk 15,11 ff). Im Gleichnis vom „Weltenrichter“ (Mt 25,31-46) sind die Werke der Barmherzigkeit der Maßstab, nach dem gerichtet wird.
In dieser von Mt eingeforderten gelebten Mitmenschlichkeit begegnen wir der Fortschreibung von Traditionen der Hebräischen Bibel, die der Evangelist Matthäus hier bewusst aufgreift und weiter überliefert (vgl. Jes 58,6-8). Zwei grundlegende Traditionen sind zu beachten:
(a) Das Sprechen von Gott, der sich im Hilfsbedürftigen, Notleidenden und Ausgebeuteten nicht nur zeigt, sondern auch sich mit ihnen identifiziert (Mt 25,40).
(b) Die Menschen sind „Gesegnete des Vaters“, denen das Leben der Hilfsbedürftigen, Notleidenden und Ausgebeuteten nicht gleichgültig ist, vielmehr nehmen sie an deren Leben teil und teilen es mit ihnen.
Diesen Traditionen begegnen wir Christen in den gelebten Werken der Barmherzigkeit. Diese sind: Durstigen zu trinken geben, Hungernden zu essen geben, Fremde aufnehmen, Nackte bekleiden, Kranke besuchen, Gefangene besuchen und Tote begraben. Diese Werke der Barmherzigkeit waren und sind Motivation für soziales Verhalten vieler christlicher heiligmäßiger Frauen und Männer.
Bei Matthäus und Lukas finden wir jeweils eine Spitzenaussage zur Barmherzigkeit:
Geht doch und lernt, was es heißt: Erbarmen will ich, nicht Opfer. (Mt 9,13) Täglich müssen wir von neuem lernen, was es heißt, durch Erbarmen und Barmherzigkeit mehr Mitmenschlichkeit in diese Welt zu bringen. – In der Feldrede des Lukas heißt es: Werdet barmherzig gleichwie auch euer Vater barmherzig ist. (Lk 6,36) „Nachahmung Gottes“ kann sich in Erbarmen ereignen.
In allen drei monotheistischen Religionen kommt dem „Erbarmen“ und der Barmherzigkeit eine besondere Bedeutung zu.
Im Judentum spielt „Erbarmen“ bzw. Barmherzigkeit eine große Rolle. Bei den Werken der Barmherzigkeit unterscheidet man zwischen „Almosen geben“ und „Liebestaten erweisen“. „Almosen geben“ geschieht in einem sozialen Gefälle: Der Besitzende gibt dem Nicht-Besitzenden. Eine „Liebestat“ hingegen ist davon frei: Ein Armer kann durchaus z.B. Kranke und Gefangene besuchen, Trost und Zuwendung schenken.
Im Islam beginnen 113 der 114 Suren des Korans mit der Formulierung: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“. Barmherzigkeit ist die Eigenschaft, die Gott sich im Koran am häufigsten zuschreibt: „Vorgeschrieben hat Er sich selbst die Barmherzigkeit.“ (Sure 6,12) Wie Barmherzigkeit im Islam konkret verstanden wird, zeigt die folgende Erzählung:
Der Bagdader Mystiker Schibli starb 945. Nach seinem Tod sah ihn einer seiner Freunde im Traum und fragte: „Wie hat Gott dich behandelt?“ Er sagte: „Er hat mich vor Sich gestellt und gefragt: ,Abu Bakr, weißt du, weshalb Ich dir vergeben habe?‘ Ich sagte: ,Wegen meiner guten Werke.‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,Weil ich in meiner Anbetung aufrichtig war.‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,Wegen meiner Pilgerfahrt und meines Fastens und meiner Pflichtgebete.‘ Er sagte: ,Nein, nicht deswegen habe Ich dir vergeben.‘ Ich sagte: ,Wegen meiner Reisen, um Wissen zu erwerben, und weil ich zu den Frommen ausgewandert bin?‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,0 Herr, dies sind die Werke, die zur Rettung führen, die habe ich über alles gestellt und bei denen habe ich gedacht, dass Du mir ihretwegen vergeben würdest!‘ Er sprach: ,Doch nicht um all dieser Dinge willen habe Ich dir verziehen!‘ Ich sagte: ,0 Herr, weshalb denn?‘ Er sprach: ,Erinnerst du dich, wie du durch die Gassen von Bagdad gingest und ein Kätzchen fandest, das vor Kälte ganz schwach geworden war und von Mauer zu Mauer lief, um Schutz vor der schneidenden Kälte und vor dem Schnee zu suchen, und du hast es aus Mitleid aufgehoben und in den Pelz gesteckt, den du trugst, und hast es so vor der Qual der Kälte geschützt?‘ Ich sagte: ,Ja, ich erinnere mich.‘ Er sprach: ,Weil du mit dieser Katze Erbarmen hattest, darum habe Ich Mich deiner erbarmt.‘“
Annemarie Schimmel: Die orientalische Katze. Mystik und Poesie des Orients, Freiburg 1995 (Herder spektrum 4033), 20.
Mit offenen Augen leben
Spätestens seit Franziskus zum Bischof von Rom gewählt wurde, ist Barmherzigkeit das große Thema der Kirche. Für den Papst ist sie ein zentraler Ausdruck der christlichen Vorstellung von Gott, was auch das von ihm ausgerufene außerordentliche Heilige Jahr der Barmherzigkeit 2015–2016 unter Beweis stellt.
Dass sich hinter dem alten Begriff nichts Abstraktes verbirgt, zeigt der vorliegende Sammelband. Theologische Reflexion verbindet sich hier mit dem neugierigen Blick von Studierenden und jugendlicher Schülerinnen und Schüler, die in sozialen Projekten, durch Kunst, Musik, Literatur und eigenes Nachdenken den Begriff Barmherzigkeit zum Leben erweckt haben.
zur "Jungen Akademie Barmherzigkeit"
von Philippe Pozzo di Borgo
Ich bedauere es ebenso wie Sie, dass ich ausgerechnet beim Thema Barmherzigkeit während der Veranstaltung nicht bei Ihnen sein kann. Sie bitten mich, ein Grußwort an die Teilnehmer der Jungen Akademie zu schreiben.
Ich spüre eine gewisse Zurückhaltung angesichts einer solchen Verantwortung. Sollte ich es trotzdem wagen, dann würde ich als wesentliche Qualität der Barmherzigkeit vor allem ihre Demut anführen. Haben wir keine Angst, barmherzig zu sein, haben wir keine Angst, demütig zu sein. Noch in der größten Behinderung, im größten Unglück, in der Angst, die das Unterschiedensein und Zerbrechliche begleitet, ist die Barmherzigkeit vor allem eine Sache der Demut. Ich möchte zum Verständnis eine Passage aus dem Tagebuch von Henri-Frédéric Amiel vom 25 November 1863 zitieren: »Die Barmherzigkeit erträgt alles, sie macht noch mehr, sie streckt die Hand aus, sie bietet der Abscheu und dem Widerwillen die Stirn, sie bringt die stillen Abneigungen des Körpers und die versteckten Aversionen des Geschmacks zum Schweigen; statt sich zu verteidigen versucht sie Gutes zu tun; statt eine Barriere zu errichten, reißt sie solche nieder, die sich von selbst ergeben; statt darauf zu schauen, was trennt, sucht sie nach dem, was näher bringt; in den Massenseelen erblickt sie die Seele.«
Die Barmherzigkeit lehrt uns, die Entwaffnung, die Abrüstung; sie ruft jeden von uns dazu auf, sich nicht auf sich selbst zu konzentrieren, um den anderen in seiner unbestimmten Andersheit wahrzunehmen und endlich in der Lage zu sein, auf den Ruf der Würde des Anderen, der so weit weg und doch ein Bruder ist, mit Wohlwollen zu antworten.
Machen Sie während Ihrer Akademie ausgiebig Gebrauch von der Stille und konzentrieren Sie sich nicht auf sich; als aktive Subjekte bereiten Sie sich dann für die Aufmerksamkeit des Anderen, erkennen seinen Weg der Würde und können dazu betragen.
Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Austausch und eine wertvolle Tagung.
Mit freundschaftlichen Grüßen
Philippe Pozzo di Borgo
Die Revolution der Barmherzigkeit
von Holger Zaborowski
Man kann mit der christlichen Tradition Barmherzigkeit religiös oder theologisch verstehen. Weil Gott selbst barmherzig ist und dem Menschen gegenüber seine Barmherzigkeit gezeigt hat und immer noch zeigt, gilt für den Menschen das Gebot, barmherzig zu sein: » Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! (Lk 6,36). Doch wenn jemand nur aus dem Grund barmherzig handelt, dass Gott auch barmherzig ist oder dass er Barmherzigkeit geboten hat, gerät sein Handeln in eine Schieflage. Es kann dann zu etwas bloß Äußerlichem werden, zu einer Pflichterfüllung, ohne den inneren Kern des Menschen, sein Herz, zu betreffen. Wer sich jedoch wirklich eines anderen Menschen erbarmt, begegnet ihm von Herz zu Herz, wandelt sich, wird innerlich in der Begegnung mit dem Anderen anders, gibt daher nicht nur, sondern empfängt auch. Geht es um Barmherzigkeit, so kann, wer jemand wirklich ist, nicht von dem losgelöst werden, was er tut. Für den gläubigen Menschen dient Gottes Barmherzigkeit daher als Vorbild, dem es aus eigener Freiheit und Lebensbewegtheit heraus nachzufolgen gilt. Dies ist der Sinn eines Gebotes der Barmherzigkeit.
Manchmal scheint es so, als könne Barmherzigkeit nur religiös verstanden werden. Eine christliche Perspektive ist dabei nicht notwendig. Denn nicht nur das Christentum, sondern auch andere Religionen wie der Islam, der Hinduismus oder der Buddhismus betonen die Bedeutung der Barmherzigkeit für gelungenes Menschsein. Es scheint allerdings schwierig, von einer rein philosophischen Perspektive aus barmherziges Handeln zu verstehen, geschweige denn zu gebieten. Barmherzigkeit spielt in der Philosophie daher nur eine untergeordnete Rolle. Man spricht in der philosophischen Ethik viel von Gerechtigkeit und Solidarität, von Pflichten und Tugenden, von Freiheit und Verantwortung, jedoch nur äußerst selten und, wenn überhaupt, zumeist kritisch von Mitleid oder Barmherzigkeit. Die tieferen Gründe hierfür sind vielfältig. Wo es um die rationale Begründung von Handlungsprinzipien geht, scheint Barmherzigkeit gänzlich fehl am Platze zu ein. Barmherzigkeit erscheint nämlich oft als begrifflich diffus, als ein bloßes Gefühl oder auch als missverständliche und leicht missbrauchbare Haltung. Wie oft ist nicht im Namen der Barmherzigkeit auch Unrecht geschehen? Wie sehr werden im barmherzigen Handeln Unterschiede zwischen Menschen zementiert statt aufgehoben? Woran kann man überhaupt Barmherzigkeit feststellen? Hat sie nicht oft mehr mit einer versteckten Selbstliebe als mit der Liebe zu einem anderen Menschen zu tun? Wie sollte man eine Pflicht zur Barmherzigkeit allgemein verbindlich begründen? Wäre eine solche innere Regung des Menschen, wenn nicht allein eine religiöse Angelegenheit, nicht vielmehr Gegenstand der Psychologie als der Philosophie?
Jedoch scheint einiges gegen diese Skepsis gegenüber der Barmherzigkeit zu sprechen. Auch wenn das Wort »Barmherzigkeit« heute oft als altmodisch wahrgenommen wird, gibt es doch, was die »Sache selbst« betrifft, nicht nur unter religiösen Menschen einen breiten und oft erstaunlichen Konsens über die Bedeutung barmherzigen Handelns. Denn was mit diesem Wort gemeint ist, spielt eine große Rolle auch in einer modernen säkularen Gesellschaft. Die biblische Gestalt des barmherzigen Samariters hat sich ins Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben: als immer noch beeindruckendes Beispiel für selbstloses, einem anderen, leidenden Menschen zugewandtes Handeln. Ein Mensch, von dem man dies gar nicht erwartet hätte, wird zu einem Vorbild für einfache Menschlichkeit. Es geht ihm nicht um persönlichen Nutzen; es geht ihm noch nicht einmal darum, in der Öffentlichkeit gut da zu stehen oder eine Pflicht zu erfüllen. Er tut, in aller Bescheidenheit, was zu tun ist: nichts Besonderes, so würde er vielleicht sagen, nicht mehr als seine Pflicht, als das hier und jetzt Gebotene.
Andere Vorbilder sind auch in das allgemeine Gedächtnis eingegangen. Der heilige Martin, der seinen Mantel mit einem armen, unbekleideten Bettler geteilt hat, berührt und bewegt viele Menschen bis heute. Ähnlich faszinieren der selbstlose Einsatz von Mutter Theresa oder – ein Beispiel aus dem hinduistischen Bereich – Leben und Lehre Mahatma Gandhis. Man kann vermuten, dass vor allem in der westlichen Hemisphäre das Christentum so nachhaltig wirkt, dass auch in einer säkularen, sich weltanschaulich neutral oder pluralistisch verstehenden Gesellschaft mit der Barmherzigkeit eine, wenn nicht sogar die zentrale Botschaft des Evangeliums bewahrt bleibt. Vielleicht findet in den Erzählungen von barmherzigen Menschen aber auch etwas zutiefst und universal Menschliches Ausdruck, eine Erinnerung an eigentliches Menschsein: dass Menschen aufeinander angewiesen sind, dass sie mit-, von- und füreinander leben, dass sie nicht einander Wölfe sind, wie Thomas Hobbes vermutete, sondern ein gemeinsames und geteiltes Leben führen und füreinander Verantwortung tragen. Barmherzigkeit könnte daher auch anthropologisch gedeutet werden: als eine Tugend, eine Haltung anderen Menschen gegenüber, die wesentlich für ein menschliches, ein zusammen glückendes Leben ist. Aber auch wenn Barmherzigkeit in diesem Sinne säkular verstanden wird, also ohne vorausgehenden Bezug auf Gott und sein Handeln oder die Offenbarungsschrift und Tradition einer bestimmten Religion, kann sich im barmherzigen Handeln eine religiöse Dimension zeigen, ja, das barmherzige Handeln kann selbst einen Zugang zur Gottesfrage eröffnen. Wer barmherzig handelt, kann, auch wenn Gott für dieses Handeln zunächst keine Rolle spielt, Gott näher kommen.
Oft handelt man um seiner selbst willen, um etwas für sich selbst zu erreichen, um sich selbst zu verwirklichen – also um Möglichkeiten, die in einem selbst angelegt sind oder die auf einen selbst bezogen sind, Wirklichkeit werden zu lassen. Wer barmherzig handelt, überwindet diese Selbstbezogenheit, die menschlichem Handeln zunächst und zumeist zu eigen ist. Er ändert – oft ohne vorherige Planung und ganz plötzlich – seinen Blick, seinen Fokus; er sieht von sich selbst ab – und zum anderen Menschen hin. Dieser ist nicht einfach das Objekt des Handelns. Wer wirklich barmherzig handelt, tut nicht einfach etwas an einem anderen Menschen oder auch für einen anderen Menschen, sondern um eines anderen Menschen willen. Dieser, sein Wohl und Heil, wird zum Zweck des Handelns. Die Mitte der Welt liegt nun im Anderen, und zwar nicht in der Idee des Anderen, einem abstrakten Konzept der Menschheit oder der Menschlichkeit, sondern in diesem leiblich-geschichtlichen Menschen, dem man barmherzig begegnet. Hierin liegt der subversive und revolutionäre Charakter der Barmherzigkeit. Wer barmherzig handelt, folgt nämlich keiner allgemeinen und rational gut begründbaren Regel, sondern handelt spontan, aus eigenem Ursprung in einer konkreten und letztlich unvergleichbaren Situation. Das kann auch bedeuten, dass er sich um die Regeln des Anstands, der Moral und der Sitte oder des Rechts gar nicht kümmert oder diese sogar bewusst verletzt. Der andere Mensch in seiner Notsituation wird, wo wirklich barmherzig gehandelt wird, zur Quelle eines eigenen, nur hier und jetzt geltenden, allerdings mit einer seltsamen Unbedingtheit fordernden Gesetzes. Er selbst ist dieses Gesetz, dieser Ursprung der Verantwortung. In seinem Angesicht wird daher keine Pflicht erfahren, die sich ohne Probleme verallgemeinern ließe. Was erfahren wird, ist nicht das Beispiel für eine typische Situation, sondern ein einzigartiger Anspruch: das Ereignis eines Rufes ins Erbarmen.
Grammatisch gesehen vollzieht sich Barmherzigkeit daher nicht in der objektivierenden und oft distanzierenden dritten, sondern in der dialogischen, zur Begegnung und zum Handeln herausfordernden zweiten Person: zwischen Ich und Du. Man müsste sogar formulieren: zwischen Du und Ich, denn wer barmherzig ist und handelt, antwortet ja bereits auf den zuvor ergangenen Ruf jenes Menschen, der der Barmherzigkeit bedarf, der Not leidet, krank ist oder in anderer Weise eine anderen Menschen benötigt – aus einer tiefen Existenznot heraus. Wer dem Anderen antwortet, wer sich auf ihn, den Menschen, der ihn anspricht, hörend und zugleich handelnd frei einlässt, erfährt, dass seine Freiheit immer schon begrenzt und herausgefordert ist und überschreitet sich selbst – vom Anderen her einen Aufruf und Anspruch empfangend auf diesen Anderen hin, so sehr, dass das eigene Selbst, die eigenen Pläne und Interessen, gänzlich unwichtig, ja, unwirklich werden kann. Barmherzigkeit lässt sich ohne den Begriff des Opfers, der (Selbst-)Hingabe für den Anderen, der – recht verstandenen – »Selbsterniedrigung« um des Anderen willen daher gar nicht verstehen. Das zeigen die Vorbilder für barmherziges Handeln sehr deutlich: Man bleibt, wenn man barmherzig handelt, nicht derselbe; man macht sich dreckig, lässt sich vom Anderen berühren, wird selbst in der Zuwendung zu den Wunden eines Anderen verwundbar, zeigt sogar eigene Schwäche. Hier liegt der feine, aber wichtige Unterschied zwischen heldenhaftem und heiligem, zwischen regelhaftem und heiligmäßigem Handeln. Dieser Charakter der Barmherzigkeit lässt verstehen, wie schwierig jede Institutionalisierung und Organisation barmherzigen Handelns ist: Es gilt immer, einen Raum offen zu halten, indem sich Barmherzigkeit ursprünglich von Mensch zu Mensch ereignen kann.
Aber nicht nur jener, der barmherzig handelt, überschreitet sich auf den Anderen und seinen Ruf hin, sondern auch jener, der ruft und dem dieses Handeln zugute kommt, überschreitet sich. Er ist, wenn wirklich auf Augenhöhe leidenden Menschseins barmherzig gehandelt wird, kein passiver Empfänger von barmherzigen Taten. Das wäre ein falsches Verständnis von Barmherzigkeit: der Andere als Objekt eines wohlfeilen Mitleids. Denn des Erbarmens Bedürftige muss ja, um überhaupt empfangen zu können, dem Anderen vertrauen und sich selbst, sein Herz, ihm gegenüber öffnen. Sonst bliebe von ihm her das barmherzige Handeln etwas bloß Äußerliches. Auch das geschieht oft: dass Verengungen und Verstockungen, manches Missverständnis und Vorurteil sich dem Ereignis der Barmherzigkeit in den Weg stellen. Die oft nur verhalten sich zeigende Radikalität der Barmherzigkeit liegt jedoch darin, dass es eine Berührung von Herz zu Herz gibt, eine Nähe, in der sich etwas Neues dem Menschen zuspielt und in der eine Umkehr aus eingefahrenen Wegen, neue Blicke und Perspektiven möglich werden. In der doppelten, wechselseitigen Selbst-Überschreitung vom Du zum Ich, vom Ich zum Du wird eine Verbindung, ein zunächst sehr zartes und zerbrechliches Band zwischen dem einen und dem Anderen gestiftet. Aus zwei miteinander unverbundenen Geschichten wird, vielleicht nur sehr kurz, manchmal für einige Zeit, ein anderes Mal für ein ganzes Leben, die gemeinsame Geschichte eines Wir, in dem Ich und Du nicht bloß addiert sind. Der eine wird den Anderen letztlich nie mehr los. Auch in diesem Sinne ist Barmherzigkeit ein Geschehen der Transzendenz: die Stiftung dessen, was man das ursprünglich Soziale, eine innere, nicht bloß äußere, biologische oder mechanische Verbindung zwischen Menschen nennen kann.
Doch ist barmherziges Handeln noch in einem anderen Sinne ein Transzendenzereignis. Denn wo immer Barmherzigkeit geschieht, kann sich ein neuer Horizont eröffnen. Dies ist der Horizont des Guten. Manchmal ist es schwer, diesen Horizont überhaupt zu erfahren. Er rückt ja nie unmittelbar in den Blick; ist nie ein Gegenstand, den man beobachten oder objektivieren könnte. Denn er lässt, was immer ist, in seinem Licht erscheinen, begrenzt und definiert es – so ja die Bedeutung des griechischen horizein – als das, was es ist. Die Negativität des Bösen steht überdies vor aller Augen: in der unmittelbaren Umgebung oder in den Nachrichten erfährt man alltäglich vom Übel, das Menschen geschieht, das ihrem Leben ein Ende bereitet, das sie leiden und verzweifeln lässt. Der Gedanke, dass im Bösen der Schlüssel für das Verständnis der Wirklichkeit zu finden sei, liegt daher nicht ferne. Das Universum erscheint zumindest dem Schicksal des Menschen gleichgültig und sinnlos. Gott scheint es nicht zu geben; und wenn es ihn gibt, kümmert er sich entweder nicht um die Welt, ist unfähig, dem Guten das letzte Wort zu lassen, oder – ein abgründiger Gedanke – erfreut sich am Übel. Doch könnte dies im Lichte des Guten nicht auch ganz anders sein? Ist die Frage, woher denn das Gute komme, nicht genauso drängend wie die Frage, wo das Böse seinen Ursprung habe? Lässt das Gute, gerade wo es in seiner reinen Radikalität geschieht, wo etwa die Hingabe eines Menschen für einen anderen keinen Zweck und Sinn zu haben scheint als nur den anderen Menschen selbst, sein Heil und seine Heilung, sich so einfach als Verfallsform des Bösen oder als Hinweis auf die Indifferenz, die Gleichgültigkeit der Welt verstehen? Oder kann sich in der geheimnisvollen Mächtigkeit des Guten, in jenen Ereignissen, in denen es aufbricht und alles anders machen kann, nicht viel mehr zeigen? Wenn das Böse alles in dunklem Licht erscheinen und Menschen – oft zu Recht – verzweifeln lassen kann, so kann doch das Gute – die wirkliche Tat der Barmherzigkeit – ihnen auch die Welt ganz anders zeigen: als einen Ort – auch – der Güte.
Noch in einem vierten Sinne zeigt sich das Ereignis der Barmherzigkeit als ein Ereignis der Transzendenz. Denn wo barmherzig gehandelt wird, wird auch die unmittelbare Gegenwart überschritten auf Zukunft hin, und zwar auf eine in einem gemeinsamen Leben glückende Zukunft hin. Barmherziges Handeln wäre falsch verstanden, wenn man es als eine bloße Hilfe für einen kurzen Augenblick oder den äußersten Notfall verstünde. Ihm ist ein Mehr eingeschrieben, ein Streben, ein Aus-Sein auf gelingendes Menschsein. Daher ist Barmherzigkeit ohne Hoffnung nicht zu verstehen. Zunächst geht es um eine sehr konkrete Hoffnung: dass es dem Leidenden gut gehen möge, dass ihm wirklich und auf Dauer, nicht nur für einen Moment geholfen wird. Eng damit verbunden ist die Hoffnung, dass es gut gemeinsam weitergeht und dass in der Güte, nicht im Bösen die Wahrheit über die Welt zu finden ist. Im barmherzigen Handeln kann sich also nicht nur eine Überschreitung vom Du zum Ich und vom Ich zum Du, von getrennten Menschen zu einer Gemeinschaft oder auf den Horizont der Güte hin zeigen, sondern auch eine gemeinsame Überschreitung in der Zeit: auf eine hoffentlich gelingende und bessere Zukunft hin.
Diese vierfache Selbstüberschreitung – auf den Anderen, auf ein Wir, auf das Gute und auf die Zukunft hin – kann auf der einen Seite als Loslösung von einem Leben verstanden werden, das allein auf sich selbst – die eigenen Interessen Impulse und die unmittelbare Gegenwart – bezogen ist. Die Unbarmherzigkeit und Einsamkeit eines Lebens, das den Einzelnen absolut setzt und anderen Menschen gegenüber gleichgültig ist, kommt an ein Ende. Es zeigt sich als zutiefst unmenschlich. Sie kann auf der anderen Seite aber auch positiv als Ermöglichung oder sogar Verwirklichung eines sinnvollen Lebens verstanden werden. Sinn bedeutet nämlich auch »Richtung«. In der Selbstüberschreitung barmherzigen Handelns richten sich Menschen nämlich ein und aus – und werden auch gerichtet. Sie finden eine mögliche Richtung ihres Lebens und somit eine Quelle von jenem, was »Sinn« genannt wird. In ihrem Handeln geht es ihnen nun um etwas – und dies zeigt sich als gut. Sie können nun die Wahrheit darüber erfahren, wer sie als Menschen im allgemeinen und konkret eigentlich sind – weil sie erfahren, wer sie sein sollen. So berichten viele Menschen, die barmherzig handeln, ohne dass sie dies oft so benennen würden, dass sie – trotz aller damit verbundener Herausforderungen und Probleme – diese Tätigkeit für Andere als zutiefst sinnvoll erleben. Und auch leidende, der Barmherzigkeit bedürftige Menschen können, wenn ihnen etwas zutiefst Gutes widerfährt, wenn ein Mensch sich ihnen barmherzig zuwendet und sie ihm von Mensch zu Mensch, in der Solidarität endlichen Menschseins, begegnen können, das Leben trotz aller widrigen Umstände wieder als sinnvoll erfahren. Diese Erfahrung von Sinn kann für sich stehen. In ihr kann sich aber auch ein Echo vernehmen lassen: von jenem Zuspruch und Anspruch Gottes, der immer schon an den Menschen ergangen ist – ein leiser, oft ohnmächtiger, aber immer auch erbarmungsvoller Ruf zum Erbarmen.
Ein biblischer Roadmovie
von Martin W. Ramb
"Es gibt nur eine Gefahr, nämlich die,
dass keine Barmherzigkeit geübt wird;
selbst wenn aller Not abgeholfen würde,
ist doch deshalb nicht entschieden,
dass es durch Barmherzigkeit geschehen wäre,
und falls das nicht der Fall war, wäre dieses Elend,
dass überhaupt keine Barmherzigkeit geübt wurde,
größer als alle zeitliche Not."
Sören Kierkegaard
Von einer Begegnung auf Augenhöhe kann im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter sicher nicht die Rede sein. Die Linie ist absteigend. Die Beziehungen asymmetrisch. Macht trifft hier auf Ohnmacht: Ein Mann wird auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho Opfer eines schweren Raubüberfalls und bleibt halb tot im Staub liegen. Wir erfahren nicht viel über diesen Reisenden, nicht einmal seinen Namen, weder seine Herkunft noch seinen Beruf. Er ist ein namenloses Opfer, das nicht einmal um Hilfe schreit als ein Priester und später ein Levit des Weges kommen und an ihm vorüber gehen. Dieser Jedermann bleibt, bis das Gleichnis zu Ende erzählt ist, stumm, vollkommen passiv – er ging, fiel unter die Räuber und schwieg. Kein Wort des Dankes an seinen Retter wird uns übermittelt, kein Wort beim Abschied in der Herberge.
Warum er schwieg, wissen wir nicht. War er so schwer verletzt, dass er nicht sprechen konnte? Oder wollte er über das Erlebte mit seinem Retter aus Samarien nur nicht reden – über die Heimtücke und Brutalität der vermummten Straßenräuber, die ihr Gesicht aus Furcht, vielleicht erkannt oder wiedererkannt zu werden, vor ihm verbargen? Es kann ihm auch die Sprache genommen haben, als er – zusammengetreten, sich vor Schmerzen krümmend, den Tod fürchtend – nach Luft rang, mit seinen blutunterlaufenen Augen den Horizont nach einem Menschen, der ihm endlich die notwendende Hilfe bringen würde, absuchte und dann so bitter enttäuscht wurde. Sein sehnliches Warten, das zweifelnde Hoffen auf einen Menschen, der ihm begegnet wie ein Mensch, der ihn rettet, noch bevor sein Wille, das Erlittene mit letzter Kraftanstrengung zu überleben, gebrochen war, war zunächst vergebens. Denn das Unfassbare trat ein: Gleich zwei Männer, ein Priester und ein Levit, kamen des Weges, sahen ihn im seinen ganzen Elend und gingen einfach weiter, machten sich aus dem Staub und verschwanden rasch in der Ferne. Keine Hand, die sich nach ihm ausstreckte, die seine Wunden verband und ihn aufrichtete, nur ein flüchtiger, von oben musternder kalter Blick traf ihn und stieß ihn zurück, zurück in den Staub. Wollte er schreien, so wäre ihm der Aufschrei in der Kehle sicher stecken geblieben. Schwer verwundet an Körper und Seele blieb er zurück. Allein gelassen mit seinem zum Himmel schreienden Schmerzen. Am Nullpunkt seines Lebens angekommen. Seinem Schicksal preisgegeben.
Für Bertolt Brecht würde sich bis hierher auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho nur ein Gesetz in der Geschichte der Menschheit wiederholen und damit wieder einmal von Neuem bestätigen, das die Dreigroschenoper in ihrem lakonisch-ironischen Ton treffend auf den Punkt bringt: »Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.« Der zynischen Abgesang des Ganoven Mackie Messer auf die Menschlichkeit erfasst aber nicht die ganze Wahrheit unseres Gleichnisses. Der vermeintliche Nullpunkt wird nämlich durch den Mann aus Samarien zum Wendepunkt der Geschichte, weil er den im Dunklen Liegenden sieht, vom Schmerz des Anderen berührt und bewegt wird, sich ihm zuwendet und hilft. Er übt Barmherzigkeit und begründet damit eine Urszene ethischen Handelns, die für den Philosophen Arthur Schopenhauer letztlich nicht restlos rational erklärbar ist. Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang daher erstaunlicherweise von einer mystischen Tat:
Jede ganz lautere Wohltat, jede völlig und wahrhaft uneigennützige Hilfe, welche, als solche, ausschließlich die Not des Andern zum Motiv hat, ist, wenn wir bis auf den letzten Grund forschen, eigentlich eine mysteriöse Handlung, eine praktische Mystik, sofern sie zuletzt aus der selben Erkenntnis, die das Wesen aller eigentlichen Mystik ausmacht, entspringt und auf keine andere Weise mit Wahrheit erklärbar ist.
Helfen und Beistehen sind demnach keine selbstverständlichen Handlungsweisen, die sich von ganz alleine einstellen. Wäre das der Fall, hätte es nicht des Gleichnisses bedurft, um uns dieses »Mysterium der Ethik« (Schopenhauer) vor Augen zu stellen. Das wahre, freie, helfende Handeln gegenüber dem Schwachen und Schutzlosen, der nichts zu geben hat, ist eine sittlich hoch anspruchsvolle Tat, die uns zum Grund unseres Menschseins führt. Lassen wir nochmals Arthur Schopenhauer zu Wort kommen:
Denn dass Einer auch nur ein Almosen gebe, ohne dabei auf die entfernteste Weise etwas Anderes zu bezwecken, als dass der Mangel, welcher den Andern drückt, gemindert werde, ist nur möglich, sofern er erkennt, dass er selbst es ist, was ihm jetztunter jener traurigen Gestalt erscheint, also dass er sein eigenes Wesen an sich in der fremden Erscheinung wiedererkenne.
Die Begegnung auf Augenhöhe fängt also mit dem Sehen, genauer mit dem bewussten Hinsehen an, die dann im fremden Anderen das Zerbrechliche und Bedrohte im Eigenen erkennt und dadurch einen Raum des Mitgefühls, des Erbarmens oder eben der Barmherzigkeit eröffnet, die stets zur Not wendenden Tat drängt. In dieser Empathiezone ist das Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen dem Notwendenden und dem Noterleidenden eindeutig auf Zuwendung gestellt – jenseits einer helfenden Verzweckung, die am Notleidenden nur »etwas« demonstrieren will – und sei es am Ende die eigene Selbstlosigkeit.
Leider erfahren wir in unserem kleinen biblischen »Road-Movie« nichts von der Qualität der Beziehung der beiden Männer, die einander auf der Straße nach Jericho begegnen und eine intensive menschliche Erfahrung miteinander durchleben, die sie beide sicher am Ende der Geschichte verändert hat. Dass dem halb Totgeschlagenen durch die Hilfe des Manns aus Samarien Barmherzigkeit zuteil wurde, setzt das Gleichnis als selbstverständlich voraus. Hat aber das Opfer auch eine Chance, barmherzig zu sein, selbst wenn es augenscheinlich nicht das Mindeste zu geben hat und ganz allein und einseitig Barmherzigkeit im Gleichnis zu empfangen scheint? Oder beschreibt unser »Road-Movie« doch am Ende nur ein asymmetrisches Verhältnis in Bezug auf Barmherzigkeit?
Wenn ein barmherziges Handeln im Sinne des dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard mehr ist, als dass der »Not auf jegliche Weise abgeholfen werde« im Sinne einer ErsteHilfe-Handlung am Unglücksort, dann stellt sich die Frage, worin der Kern wahrer Barmherzigkeit denn am Ende besteht. Mit Kierkegaard können wir antworten, dass es darauf ankommt, dass sie geübt wird. Es geht also um eine Performanz der Liebe, die die Liebe zum Nächsten nicht nur glaubt, sondern tut, selbst wenn sie auf den ersten Blick »nichts zu geben hat und nichts zu tun vermag«.3 Die Liebe zu tun, erschöpft sich demnach nicht in der großen, für alle sichtbaren Tat, sondern beginnt mit der inneren Teilnahme für den Anderen in einer Öffnung und Zuwendung im Modus der Demut. Jeder Mensch, der Glückliche und Reiche wie der Elende und Arme, kann Barmherzigkeit üben. Womit dann auch die eingangs problematisierte Asymmetrie vom Geben und Empfangen nicht verschwunden, aber doch in guter Weise »aufgehoben« ist.
Eine so verstandene Barmherzigkeit verwandelt. Nicht nur den immer schon als »barmherzig« apostrophierten Mann aus Samarien, den »Helden« des Gleichnisses, sondern auch den unter die Räuber gefallenen Jedermann, das Opfer. Beide Männer sind einander zugewandt, sie bestimmen ihre vertrauten Grenzen des Gebens und Empfangens, aber auch das Maß der zugelassenen Nähe und Distanz zum Anderen neu. Der Mann aus Samarien kann versuchen, sich innerlich für die Sprache des Schmerzes seines Gegenübers aufzuschließen und durchlässig zu machen, um sich so in das Leid des Anderen einzufühlen und dem Schwerverletzten gerade auch wegen der erfahrenen körperlichen Nähe und Versehrtheit mit Respekt und Demut zu begegnen. Das schwer verletzte Opfer kann trotz seiner bedrohlichen Lage lernen, dass sich seine Opferrolle zusammensetzt aus dem, was ihm widerfahren ist, und dem, was es daraus macht. Sein Leid und sein Schmerz können ihn gegenüber anderen verschließen, aber ihm auch Kraft verleihen, sich in seiner Schwachheit dem Anderen zu öffnen und die angebotene Hilfe als echte Gabe und nicht als bloßes Almosen anzunehmen.
Wenn es den beiden Männern gelingt, sich in dieser schwierigen Situation so auf Augenhöhe zu begegnen und ihre »Köpfe herzgleich schlagen« (David Foster Wallace) zu lassen, dann hat Barmherzigkeit als Tugend ihre Wirklichkeit verwandelnde Kraft entfaltet und zugleich den Blick auf die Welt korrigiert, in der Abgrenzung und Selbstbestimmung zu Inbegriffen gesellschaftlichen Strebens geworden sind.
Die Revolution der Barmherzigkeit
von Bischof Stephan Ackermann
Wenn ich an die Arbeit in der deutschen Kommission Justitia et Pax2 denke, dann stelle ich fest, dass das Thema Barmherzigkeit nicht auf der Tagesordnung steht. Das vorherrschende Thema ist die Gerechtigkeit. Denn der Begriff Barmherzigkeit ist nicht nur ein Begriff, der vielen irgendwie antiquiert oder verstaubt klingt. Nicht selten suggeriert der Begriff auch, dass Barmherzigkeit etwas mit Gönnerhaftigkeit zu tun hat: Bestimmte Menschen sind zu anderen barmherzig. Bei der Barmherzigkeit gibt es Abhängigkeiten, die da sind und die bleiben. Wenn ich mich einem Anderen gegenüber barmherzig erweise, klingt dann darin nicht auch mit, dass der Andere das Objekt meiner Barmherzigkeit ist? Ich wende mich einem Anderen zu aus einer Position der Stärke, des Verfügens über bestimmte Ressourcen, mögen dies emotionale oder auch konkrete materielle Ressourcen sein. Besteht in der barmherzigen Zuwendung nicht die Gefahr, dass der Andere degradiert wird? Ich erweise mich barmherzig, und der Andere ist Objekt meines Tuns … Barmherzigkeit zu erfahren, ist für eine bestimmte Zeit hilfreich, aber wenn dies ein Dauerzustand wird, dann verstößt das eigentlich gegen die Menschenwürde. Deshalb sagen Menschen, dass es im Zusammenleben – national wie international – nicht um Barmherzigkeit gehen kann, sondern um Gerechtigkeit gehen muss. Wenn nur mehr Menschen Gerechtigkeit widerfahren würde, dann bräuchten wir überhaupt keine Barmherzigkeit, so die Überzeugung. Denn die Barmherzigkeit springe gewissermaßen als Lückenbüßerin dort ein, wo es an Gerechtigkeit mangelt. Deshalb solle man vor allem daran arbeiten, dass Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Das sei der eigentliche Auftrag, auch für die Christen. Also: Ich erlebe, dass das Wort »Barmherzigkeit« nicht auf der Agenda gesellschaftlicher und internationaler Entwicklungskonzepte steht, weil es nicht wenige gibt, denen dieses Wort verdächtig ist oder irgendwie zu blumig. So stellt sich die Frage: Was genau soll denn Barmherzigkeit sein?
Um die Frage zu beantworten, scheint es einfacher, die Gegenprobe zu machen. Denn wir scheuen uns nicht, von »unbarmherzigen Verhältnissen« zu sprechen. Wir beklagen die Unbarmherzigkeit unserer Welt, die so leistungsorientiert ist. Wir sehen die Unbarmherzigkeit, die es in den sozialen Medien gibt. Ich kann Fehler anderer Menschen unbarmherzig aufspießen, sie posten: Irgendjemand hat sich danebenbenommen, ich habe es mit dem Smartphone gefilmt und kann es als Clip bei YouTube einstellen … Die digitalen Medien vergessen nicht, so heißt es. Der Videoclip ist sozusagen für alle Ewigkeit im Internet abrufbar. Aufgrund dieser Erfahrungen tun wir uns leichter, zu sagen, was unbarmherzig ist, als zu sagen, was barmherzig ist.
Darüber hinaus bleibt die Frage, ob es nicht tatsächlich unser eigentliches Ziel sein muss, Barmherzigkeit überflüssig zu machen, indem wir für mehr Gerechtigkeit sorgen. Im Umfeld der Heiligsprechung von Mutter Teresa wurde diese Frage auch wieder gestellt. Mutter Teresa hat sich den Ärmsten der Armen zugewandt und ist auf ihre Weise so etwas geworden wie eine »Mutter der Barmherzigkeit« der Moderne. Doch schon zu ihren Lebzeiten hat man an Mutter Teresa kritisiert, dass sie sich eigentlich viel stärker für die Veränderung ungerechter Strukturen hätte einsetzen müssen, gerade auch als Friedensnobelpreisträgerin. Sie hätte nicht nur punktuell, wenn auch an einer ganzen Reihe von Orten auf dieser Welt mit ihren Mitschwestern Hilfe leisten sollen, sondern sie hätte stärker politisch agieren, Advocacy-Arbeit betreiben, politische Anwaltschaft übernehmen müssen. Kritiker karitativen Engagements sehen die Gefahr, dass sozialreformerische Elemente verloren gehen, wenn die Barmherzigkeit zu sehr im Vordergrund steht. Barmherzigkeit wird möglicherweise sogar verdächtig. Sie wird verdächtigt, zwar einzelnen Personen zu helfen, aber zugleich einen Mantel über die Ungerechtigkeit zu decken und ungerechte Strukturen zu verfestigen.
Ein Beispiel aus unserer gesellschaftlichen Debatte in Deutschland kann uns diese Fragestellung verdeutlichen: Ich denke an die Tafelprojekte. Bei diesen Tafeln können Menschen, die einen sehr geringen Verdienst haben und an der Armutsgrenze leben, zu sehr günstigen oder sogar symbolischen Preisen Waren, insbesondere Lebensmittel erwerben. Die Tafeln selbst sprechen bei den Menschen, die zu ihnen kommen, von »Kunden«. Denn die Tafeln sehen sich nicht einfach als eine karitative Einrichtung, die alles über die Theke verschenkt. Dass die Menschen, die zur Tafel kommen, als Kunden angesehen werden, bedeutet, ihre Würde zu achten.
Nun sind Tafeln in den letzten Jahren an vielen Stellen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Menschen engagieren sich in großartiger Weise ehrenamtlich für diese Tafelprojekte. Und sie entwickeln diese weiter, etwa zur sogenannten »Tafel Plus«, bei der es zusätzlich zum Warenangebot auch ein Gesprächs- und Beratungsangebot gibt. Ein solches Engagement kann man nur bewundern. Wie oft bin ich schon als Bischof eingeladen worden, eine neue Tafel einzuweihen oder ein fünfjähriges Tafeljubiläum zu feiern? Aber Jubiläumsfeiern von Tafelprojekten sind für mich zwiespältige Feiern: Den einerseits ist es wunderbar, dass es dieses Angebot gibt. Aber was sagt es uns andererseits über die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Verdeckt das Tafel-Engagement nicht eigentlich das, was politisch notwendig wäre? Müsste nicht viel mehr dafür getan werden, dass es eben diese Form von Bedürftigkeit überhaupt nicht gibt? Nehmen Tafeln den politisch Verantwortlichen nicht den notwendigen Druck zum Handeln? Wie schön, dass es viele Ehrenamtliche in diesem Bereich gibt. Und wie gut, dass Supermärkte den abgelaufenen Joghurt und anderes, was übrig ist, sinnvoll weitergeben können und es nicht wegzuwerfen brauchen. Aber ist das nicht eigentlich eine Situation, die die Ungleichheit und das Auseinanderdriften von Gruppen in unserer Gesellschaft verfestigt, statt zu beheben?
Es braucht also eine Verhältnisbestimmung zwischen den Begriffen Barmherzigkeit, Solidarität, tätige Hilfe und Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit. Das Zweite Vatikanische Konzil ist in der Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sehr klar, vielleicht sogar klarer als wir uns das vorstellen. Wir denken: Der Papst, das Konzil, die Kirche, das sind sozusagen die Akteure von Barmherzigkeit par excellence. Aber das Konzil3 sagt ganz klar: Damit der Dienst der Barmherzigkeit und der christlichen Liebe, der Caritas über jeden Verdacht erhaben ist und als solches auch in Erscheinung tritt, muss man im Nächsten das Bild Gottes sehen. Man muss auf die personale Freiheit und Würde dessen Rücksicht nehmen, der die Hilfe empfängt. Weder das Suchen des eigenen Vorteils noch Herrschsucht dürfen die Reinheit der Absicht beflecken. Und dann kommt das Entscheidende: Zuerst hat man den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist, so das Konzil. Man muss die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen. Die Hilfeleistung sollte so geordnet sein, dass sich die Empfänger, allmählich von äußerer Abhängigkeit befreit, auf die Dauer selbst helfen können. Ich finde in diesen Aussagen eine Kriteriologie für die Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Menschen in Abhängigkeit zu halten, ist ungerecht. Deshalb soll auch eine Hilfeleistung dazu dienen, Menschen aus der Abhängigkeit zu befreien.
Im Kontext globaler Zusammenhänge hat diese Frage in jüngster Vergangenheit an Dringlichkeit gewonnen durch die Flüchtlingsthematik. Mir ist das besonders deutlich geworden durch einen Artikel von Richard Schröder, Professor für evangelische Theologie und SPD-Politiker, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. August 2016. Der Beitrag war überschrieben: »Was wir Migranten schulden und was nicht.« Schröder vertritt die These, dass Barmherzigkeit ein humaner und höchst erfreulicher Affekt sei. Barmherzigkeit habe ihren Ort in erlebbaren Nahbeziehungen. Sie dürfe unbekümmert einseitig und parteilich sein für die Notleidenden. Gerechtigkeit dagegen sei ursprünglich eine Tugend oder Verhaltensweise, bei der es darum gehe, Gleiches gleich zu behandeln, und zwar nach allgemeinen Regeln. Probleme der Gerechtigkeit entstünden immer unter Bedingungen der Knappheit, also dort, wo ich nur begrenzte Mittel habe und sie gerecht einzusetzen versuche. Wo Knappheitsbedingungen auftreten, lassen sich nie alle Erwartungen erfüllen. Auch der barmherzige Samariter, so schreibt Schröder, wäre mit dem Gerechtigkeitsproblem konfrontiert gewesen, wenn er auf mehrere Elende gestoßen wäre und vor der Frage gestanden hätte: Welchen von ihnen lade ich auf mein Reittier? Vor diesem Hintergrund formuliert Schröder die These: »Einzelne können barmherzig sein, auch Institutionen, die sich der Barmherzigkeit verschrieben haben. Der Staat aber darf nicht barmherzig sein, weil er gerecht sein muss. Er muss nach Regeln verfahren und die Folgen bedenken. Wenn er Ausnahmen machte, wäre er korrupt. Denn Korruption ist ja nichts anderes, als die vorteilhafte Ausnahme für Wenige auf Kosten der Allgemeinheit. […] Ein Autokrat kann Gnade vor Recht ergehen lassen. Im Rechtsstaat ist das regelmäßig nicht zulässig.«
Nach Schröder korrumpiert die Anwendung von Barmherzigkeit staatliches Verhalten. Dieser These würde ich so nicht folgen. Der Staat ist nicht automatisch korrupt, wenn er zum Beispiel in Härtefällen Ausnahmen macht. Denken wir etwa an das Schicksal von Flüchtlingen. Der Staat sieht durchaus Ausnahmen der Barmherzigkeit, so würde ich es einmal bezeichnen, vor. Sie sollen dazu helfen, das Recht in seiner eigentlichen Intention anzuwenden und zu verhindern, dass es durch formalistische Verfahrensweisen zu Ungerechtigkeit kommt.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gesichtspunkt nennen, der mir im Nachdenken über die Argumentation von Richard Schröder bewusst geworden ist. Ich gehe davon aus, dass Schröder mit seiner Forderung, dass der Staat sich ausschließlich der Gerechtigkeit verpflichtet wissen müsse, die Überzeugung verbindet, dass wir in Deutschland in einem Staat leben, in dem der Gerechtigkeit tatsächlich in einem hohen Maß Geltung verschafft wird. Aber hält das, was innenpolitisch durchaus zu bejahen ist, auch einer Betrachtung im internationalen Kontext stand? Wie steht es um den Beitrag Deutschlands zur Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit in der Welt überhaupt? Wie fällt etwa unser Urteil im Hinblick auf internationale Handelsverträge aus? Oder denken wir an den Bereich der Rüstungswirtschaft: Deutschland gehört weltweit zu den fünf größten Waffenexporteuren. Da müssen wir uns die kritische Frage gefallen lassen, inwieweit diese Waffenexporte beitragen zur Ungerechtigkeit in der Welt und Menschen zur Flucht gezwungen werden. Oder denken wir an das Unglück in Rana-Plaza in Bangladesch, bei dem so viele Textilarbeiterinnen ums Leben gekommen sind, die Kleidung auch für den deutschen Markt produziert haben. Daher noch einmal die Frage: Leben wir in einem gerechten Staat? Rein national betrachtet können wir das in einem hohen Maße bejahen. Aber im globalen Kontext sieht dies ein Stück anders aus. Durch unsere Weise zu leben und zu wirtschaften, tragen wir mit bei zu ungerechten Verhältnissen.
Werfen wir einen Blick auf das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der Heiligen Schrift. Das Alte Testament hat keinen abstrakten Gerechtigkeitsbegriff, wie wir ihn kennen. Es spricht daher zunächst einmal nicht von Gerechtigkeit, sondern von dem Gerechten. Ein Mensch, der gerecht ist, lebt in der richtigen Beziehung zu Gott, das heißt nach Gottes Weisungen. »Gerecht sein« ist daher zunächst und vor allem eine Beziehungsaussage. Daraus wird dann auch ein Anspruchstitel in dem Sinn, dass die Gerechten dafür belohnt werden, dass sie so leben. Israel musste jedoch erkennen, dass die Formel »Ich lebe nach den Weisungen des Herrn, und dann ergeht es mir wohl« nicht immer aufgeht. Nein, auch Gerechte werden krank, werden übers Ohr gehauen, werden Opfer eines Krieges, verlieren ihren ganzen Besitz … Das prominenteste Beispiel dafür ist Ijob. Dieser Gerechte muss ungerechterweise leiden. Es gibt also keine Garantie dafür, dass die Gerechten auch diejenigen sind, die auf der Straße des menschlichen Erfolgs einfach geradewegs voranschreiten könnten. Aber gehen wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück: Gerechtigkeit im eigentlichen Sinn ist biblisch gesehen das rechte Verhältnis zu Gott, ist ein Leben nach Gottes Weisung. Wenn jeder einzelne und alle zusammen danach leben, dann werden auch die sozialen Verhältnisse gerecht. Leben nach dem Gesetz Gottes, das Israel so liebt und das es so schätzt, das ist der eigentliche Schatz dieses Volkes. Welche Nation gibt es, die etwas noch Schöneres hätte, etwas noch Besseres als das Wort, das wir von Gott selbst haben, so fragt sich Israel stolz (vgl. Dtn 4,6ff). Wo aber die Beziehung zu Gott gestört wird, wo jemand nicht nach dem Willen Gottes lebt, da kommen Sünde und Ungerechtigkeit in die Welt. Da verdunkelt sich das eigene Leben, aber auch das Leben anderer. Hier setzt auch die prophetische Kritik in Israel immer wieder an. Soziale Ungerechtigkeit ist auch Ausfluss eines gestörten Gottesverhältnisses.
Gott ist der absolut Gerechte. Doch Gerechtigkeit allein reicht nicht. Sie würde in einer Sackgasse enden, wenn da nicht Gottes Barmherzigkeit wäre, sein Herz, von dem im Alten Testament auch immer wieder die Rede ist und das sich in bestimmten Momenten scheinbar gegen Gott selbst wendet, indem sein Mitleid auflodert gegen Gerechtigkeit (vgl. Hos 11,8). Manchmal hat man fast den Eindruck, dass Gott sich selbst und seiner Gerechtigkeit untreu wird. Vielleicht kann man von so etwas sprechen wie von einer »glücklichen Inkonsequenz« Gottes. Denken wir nur an Abraham, der mit Gott regelrecht feilscht um die Verschonung der Stadt Sodom, sofern es dort nur zehn Gerechte unter all den Ungerechten gibt (vgl. Gen 18,22ff).
Wenn Gott sich barmherzig zeigt, dann tut er es, um Gerechtigkeit neu möglich zu machen. Bei ihm sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit keine sich ausschließenden Gegensätze. Gott lässt Barmherzigkeit walten, wo die Gerechtigkeit allein in die Sackgasse führen würde. Wenn Gott nur der Gerechte wäre und Gericht hielte über die Verfehlungen der Menschen, dann bliebe als Urteilsspruch tatsächlich nur die Sintflut. Zum Glück gibt es bei Gott Barmherzigkeit. Diese ist keine »Schwamm-Drüber-Mentalität«. Nein, Gott zeigt sich barmherzig, damit die Menschen den Weg der Gerechtigkeit wieder beschreiten können. Er vergibt die Schuld in seiner Barmherzigkeit, damit Gerechtigkeit in neuer Weise gelebt werden kann.
Ein säkularer Vergleich zu dem, was gemeint ist, stellt für mich der Schuldenerlass im Zusammenhang des Millenniums dar. Er galt Ländern des globalen Südens, die so verschuldet waren, dass sie keine Chance hatten, aus der Schuldenfalle herauszukommen und Investitionen zu tätigen, weil sie mit dem Schuldentilgungsdienst derart belastet waren, dass eine positive Entwicklung in ihrem Land kaum in Gang zu setzen war. Der Schuldenerlass wollte nicht sagen, dass es richtig ist, Schulden, die man gemacht hat, nicht zurückzuzahlen. Das wäre das falsche Signal. Aber es gibt eine Form von Schuldenerlass, die dazu dienen kann, überhaupt wieder in eine gute Spur mit Entwicklungspotenzial zu kommen. Von failed states hat die Weltgemeinschaft nichts, mögen auch alle anderen noch so sehr im Recht sein.
Die Erlassjahr-Initiative ist für mich ein säkulares Beispiel für die Weise, wie bei Gott Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zusammengehen. Kardinal Walter Kasper hat recht, wenn er sagt: »Gottes Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit und seine Barmherzigkeit ist seine Gerechtigkeit«, auch wenn dies zunächst widersprüchlich klingt5. Doch Gerechtigkeit allein ist auf Dauer kalt und grausam. Thomas von Aquin sagt: »Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. «6 Denn es gibt immer auch Situationen, die zur Sackgasse werden können. Umgekehrt muss man – ebenfalls mit Thomas – sagen: »Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Auflösung des menschlichen Miteinanders.«7 Dort, wo am Ende sozusagen alles gleichgültig ist, da gibt es keine Gerechtigkeit. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit geht also auch nicht. Beide sind aufeinander verwiesen. Jesus spricht in der Bergpredigt von der »größeren Gerechtigkeit« (vgl. Mt 5,20). Wenn ich das richtig sehe, dann gibt es diesen Begriff in den Evangelien nur an dieser einen Stelle. Die »größere Gerechtigkeit«: Das ist für mich eine treffende Umschreibung von Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist keine Ungerechtigkeit, sondern sie ist eine Form größerer Gerechtigkeit. Und das meint ja auch Jesus: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer [die auf kleinliche, enge Weise gerecht sind; die nur Buchstabengerechtigkeit walten lassen], werdet ihr nicht das Himmelreich kommen.«
1. Das gesamte Feld des kirchlich-karitativen Handelns ist das Feld der Barmherzigkeit für ein Gemeinwesen, so könnte man sagen. Und natürlich hat Richard Schröder Recht, wenn er sagt, dass die Grundmaxime eines Gemeinwesens die Gerechtigkeit sein muss. Ich kann nicht permanent Ausnahmen machen und die Regel außer Kraft setzen. Dann fliegt das Gemeinwesen auseinander.
Aber es braucht als Ergänzung zur Gerechtigkeit auch das Andere, weil sonst Menschen in die Falle geraten. Deshalb braucht es Barmherzigkeit. Es gibt keine Gesellschaft, die ohne Barmherzigkeit auskäme. Denn wir erreichen nie einen Idealstatus der Gerechtigkeit, so dass Barmherzigkeit nicht mehr nötig wäre. »Den Leuten geschieht Recht und damit können sie froh sein«, so mag mancher Zeitgenosse denken. Aber es braucht ein Mehr. Es gehört zur Qualität unseres Zusammenlebens, dass wir uns nicht nur das geben, was wir einander schulden und kleinlich darauf bedacht sind, ja nicht mehr zu geben. Es gibt eine Großzügigkeit, die mehr gibt, als das, was gefordert ist. Denken wir nur an das große Feld ehrenamtlichen Engagements in unserer Gesellschaft, wo Menschen Zeit und Arbeit investieren, ohne dass es vergütet wird.
2. Das zweite Beispiel ist die Auseinandersetzung um das Kirchenasyl. Es gibt rechtsstaatliche Asylverfahren, die anzuwenden und zu respektieren sind. Wann aber liegt zum Beispiel ein Härtefall vor, bei dem man sagen muss, hier braucht es eine »größere Gerechtigkeit«, weil ein rein buchstabentreues rechtliches Vorgehen Grausamkeit wäre? Ich denke dabei etwa auch an die Frage der Familienzusammenführung, die im europäischen Dublin-Verfahren eine stärkere Berücksichtigung finden sollte.
3. Schließlich: Aus Barmherzigkeit kann Recht werden. Die Barmherzigkeit des Samariters (vgl. Lk 10,30–37) ist im Laufe der Geschichte zum Recht der Verletzten geworden. Wenn ich etwa achtlos an bestimmten Situationen vorbeigehe, in denen jemand Hilfe braucht, mache ich mich strafbar wegen unterlassener Hilfeleistung. Das ursprünglich rein barmherzige Tun hat im Laufe der Zeit Rechtscharakter erhalten. Die großzügige Tat des Samariters aus dem Evangelium ist derart in unser Verständnis von Gerechtigkeit eingegangen, dass sie ein Teil von ihr geworden ist. Und die Werke der Barmherzigkeit sind zum Teil zu Leistungen des Sozialstaats geworden (vgl. Mt 25,32–46). Wie gut, dass wir in einem Gemeinwesen leben, in dem Menschen nicht permanent auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Im Mittelalter waren die Armen rechtlos und deshalb auf Barmherzigkeit angewiesen. Barmherzig war ein Herr, der seinen Sklaven gut behandelt hat. Heute sind wir davon überzeugt, dass Sklaverei Unrecht ist. Da sind einzelne Taten der Barmherzigkeit zu wenig. Auch hier ist Barmherzigkeit in Recht überführt worden.
Auf einer Caritas-Tagung hat vor kurzem jemand gesagt: »Barmherzigkeit ist vor jeder Haltung und vor jeder Tat eigentlich eine Ortsangabe: Barmherzigkeit ist dort, wo ich das Herz bei den Armen habe.« Was für eine schöne Definition!
Barmherzigkeit Gottes im Spielfilm „Briefe für Pfarrer Jakob“ von Klaus Härö
von Franz Günther Weyrich
Klaus Härö verhandelt in seinem Spielfilm die Angewiesenheit auf Gnade und Barmherzigkeit als Kammerspiel sehr unterschiedlicher Protagonisten – einem blinden Pfarrer und einer entlassenen Mörderin.
Zwei Menschen in einer Gefängniszelle. Ein Mann: „Zwölf Jahre ohne Ausgang. Nicht ein einziger Antrag auf Ausgang!“ Eine Frau: „Ich hatte keine Lust.“ – „Auch keine Familienbesuche.“ – „Ich hatte keine Lust.“ – „Hast du irgendeine Ahnung, wo du jetzt hingehen willst?“ – „Es sollte eine lebenslängliche Strafe sein.“ – „Du wurdest begnadigt. – Hör zu Leila. Wir erhielten einen Brief. Bezüglich einer Beschäftigung als Herrn Jakob Ljubes persönliche Assistentin. Er sucht nach jemandem, der sofort anfangen könnte. Es ist ein ruhiger Ort und der Job ist leicht. Du hättest ein Dach über dem Kopf.“ – „Ich habe um nichts gebeten.“ – „Morgen früh, Leila. Wohin willst du sonst gehen…? Zu deiner Schwester?“
Der den Film „Briefe für Pfarrer Jakob“ eröffnende Dialog skizziert in lakonischer Kürze schon treffend eine seiner beiden Hauptfiguren: Leila, eine wegen Mordes verurteilte Gefängnisinsassin, zeigt sich ob der zu erwartenden Freilassung alles andere als begeistert. Dabei ist es keineswegs nur die Unsicherheit, wo sie denn hinsoll, die ihre Ablehnung begründet – aber das erfährt der Zuschauer erst im Verlauf des Films. Auch die zweite Hauptfigur wird im Dialog bereits eingeführt: Jakob Ljube, zu dem Leila sich dann doch eher widerwillig und mangels Alternativen auf den Weg macht, erweist sich als ein blinder alter Pfarrer, der abgeschieden und alleine in einem scheinbar gottverlassenen Pfarrhaus irgendwo in der Weite Finnlands haust.
Mit großem Misstrauen begegnet sie dem Pfarrer und prüft sogar, ob dieser tatsächlich blind ist. Mit noch größerer Reserviertheit reagiert sie auf ihre neue Aufgabe: Sie soll ihm die vielen Briefe vorlesen, die ihn täglich erreichen und seine Antworten aufschreiben und zurücksenden. Wenig später kommt ein Postbote auf dem Fahrrad ans Pfarrhaus und bringt einen Stapel Briefe, auch er misstrauisch gegenüber einer „Knastschwester mit lebenslänglich“. Die Post, die Leila Pfarrer Jakob gleich vorlesen soll, sind Briefe, in denen Menschen dem Pfarrer von ihren Sorgen und Problemen erzählen, um ihn um Rat und Gebet zu bitten. Pfarrer Jakob spricht ein Gebet und formuliert einen Antwortbrief, den Leila aufzuschreiben hat. Als er sie bittet, auch ihren Namen unter den Brief zu setzen, wehrt sie diese Vereinnahmung heftig ab.
Als am nächsten Tag der Postbote – noch misstrauischer als zuvor – erscheint, wirft sie einen Teil der Briefe ungelesen in die Wassergrube vor dem Haus. Jakob, der enttäuscht ist über die ungewöhnlich geringe Zahl an Briefen, macht sich mit ihr aber sogleich an deren Beantwortung. Unter den Briefen ist einer, in dem sich eine große Menge Geldes befindet, die Rückzahlung einer Frau, mit der der Pfarrer gar nicht mehr gerechnet hatte. Nachdem Leila den Postboten im Haus überrascht – sie hält ihn für einen Dieb, er aber wollte nur nach Pfarrer Jakob sehen – und vom Anwesen vertrieben hat, meidet er künftig das Haus. Es kommen keine Briefe mehr an, und Jakob wird zunehmend bedrückter.
Eines Morgens weckt er in ungewöhnlich aufgeräumter Stimmung Leila, sie solle alles für eine Hochzeitsfeier bereit machen, er habe eine Trauung vorzunehmen. Leila folgt dem augenscheinlich Verwirrten in die abseits gelegene Kirche, wo er auf die Hochzeitsgesellschaft warten will. Als Leila ihn damit konfrontiert, dass ihn niemand erwarte, bricht er zusammen. Seine Bitte, ihn zurückzubringen, lehnte sie rüde ab und geht alleine ins Pfarrhaus zurück. Dort packt sie die Koffer und bestellt ein Taxi. Doch schon im Wagen sitzend weiß sie auf die Frage des Taxifahrers nach ihrem Ziel keine Antwort. Der Priester, einsam auf dem Boden einer leeren Kirche liegend, eine begnadigte Mörderin, die sich in einem abgelegenen Pfarrhaus eine Schlinge um den Hals legt – mit diesen Bildern veranschaulicht der Film die Verzweiflung seiner Protagonisten, um beiden dann doch noch einen Weg zu eröffnen: Jakob, von einem Regentropfen aus seiner Lethargie gerissen, hat alleine den Weg ins Pfarrhaus zurückgefunden und reißt Leila, die sich schon aufgegeben hat, ins Leben zurück – auch wenn er zumindest mit eigenen Augen nicht sehen kann, auf welch dramatische Szenerie er im Haus trifft.
Am nächsten Tag fängt Leila den Postboten auf seinem Weg ab. Als er sie sieht, will er zunächst flüchten, doch als er registriert, dass sie es nicht auf ihn, sondern auf die Post für den Pfarrer abgesehen hat, kommt er zurück, eröffnet ihr aber, dass es keine Post für den Pfarrer mehr gibt. Sie beauftragt ihn, dennoch wiederzukommen und wie gewohnt „Post für Pfarrer Jakob“ anzukündigen.
Am nächsten Morgen trifft der Postbote auf eine Leila, die gerade dabei ist, die weggeworfenen Briefe aus der Wassergrube zu fischen. Obwohl es keine Post gibt, befolgt der Postbote Leilas Befehl; auf den lauten Ruf „Post für Pfarrer Jakob!“ hin erscheint der Angesprochene vor der Tür. In Ermangelung echter Briefe erfindet Leila einen Schreiber und ein Anliegen, dessen Banalität Jakob nur ein müdes Lächeln entlockt. Als er sich anschickt, sie ohne eine Antwort wieder zu verlassen, setzt Leila noch ein zweites Mal an: Sie „liest“ einen weiteren Brief, in dem Jakob wie der Zuschauer Leilas eigene Geschichte erkennt. Es ist eine Geschichte voller Gewalt-erfahrungen und den verzweifelten Versuchen, sie zu überwinden – eine Geschichte, in der Leilas Schwester eine wichtige Rolle spielt...
Die Filmerzählung macht deutlich, dass eine der Stärken des Films in der Reduktion besteht. Die Erzählung wird im Wesentlichen von nur zwei Personen getragen, zwei weitere kommen nur am Rande vor. Die Schauplätze beschränken sich auf das Pfarrhaus und den Vorgarten sowie die nahe gelegene kleine Kirche. Wir haben es also fast mit einem Kammerspiel zu tun, was auch in der Konzentration auf Figuren und Dialoge deutlich wird. In den Figuren und deren Interaktionen lassen sich einzelne Themen des Films festmachen.
Im Kern schildert der Film die Begegnung zweier Figuren, die während dieser Begegnung in eine Krise geraten, um aus ihr gewandelt heraus und ins Leben zurückzukommen. Dieser Wandel zeigt sich zum einen in der Annäherung der beiden Figuren am Ende des Films, die zu Beginn kaum zu erwarten ist. Eher widerwillig und aus Mangel an Alternativen lässt sich Leila auf ihre Arbeit und auf ihr Gegenüber, den alten Pfarrer, ein. Mehr noch: Sie hält ihn auf Distanz und kann weder seiner christlichen Sinngebung noch dessen priesterlichem Selbstverständnis etwas abgewinnen. Sie will weder „einer seiner Wohltätigkeitsfälle“ werden, noch erscheint ihr sein Gutmenschentum als erstrebenswertes Ideal. Es gibt für sie keine Perspektive; das wird deutlich, als sie ihn schroff zurückweist und ihn verlassen will – doch da ist niemand, der auf Leila wartet, und scheinbar niemand, der sie auf- und annehmen will. Erst als sie dies erkennt und als auch Jakob in seiner Krise ausharrt, Leila und ihre massiven Anfragen gegen sein Lebenskonzept aushält und den Weg zu ihr zurückfindet, beginnt ihre Öffnung.
Demgegenüber scheint Jakob selber eine eher beständige, sich selbst und ihren Überzeugungen treue Figur zu sein. Die unbedingte Zuwendung zu den Menschen, die sich selbst in der Abgeschiedenheit seiner Klause zeigt, ist sicherlich das charakteristische Moment der Figur. Was sich in der Glaubens- und Sinnkrise vollzieht, in die der Pfarrer Jakob gerät und die vor allem in der Szene in der Kirche zum Ausdruck kommt, ist ein Wandel in seinem Selbst- und Gottesverständnis: Wenn Leila auf Jakobs Sorge, dass die Briefe der Menschen ihn nicht mehr erreichten, nur lapidar antwortet „Niemand wird sterben, falls du es nicht tust“, dann ist dies zunächst Ausdruck von ihrem Zweifel an der Sinnhaftigkeit aller Bemühung, das Leid anderer zu lindern, ihnen wirklich zu helfen und nicht zuletzt am Sinn des Glaubens an einen liebenden Gott. Zugleich mag dahinter noch die Annahme stehen, dass es Jakob nicht um den leidenden Anderen um seiner selbst willen und nicht um Gott, sondern im Letzten nur um ihn selbst gehe, dass also die Zuwendung zu und Hilfe für andere Menschen letztlich nur der eigenen Selbstbestätigung und Sinngebung dient. Jakob selbst scheint diesen unausgesprochenen Vorwurf aufzugreifen und anzunehmen, wenn er formuliert: „Wenn Menschen nicht um Hilfe bitten, bedeutet es, dass Gott keine… - Nein. Dass ich nicht mehr gebraucht werde. Vielleicht ist dem so.“ Diese Zweifel an sich selbst und seinem Selbstverständnis führen – anders als das etwa bei vielen Priesterfiguren in den Filmen Ingmar Bergmans der Fall ist – nicht zum Glaubensverlust, sondern zu einem tieferen Verständnis. Kurz gesagt ist es die Erfahrung, nicht (mehr nur) „Instrument“, sondern Empfänger der Gnade Gottes zu sein, die sich für Jakob auftut: „Ich dachte, ich tue das alles für Ihn. Aber vielleicht war es anders herum. Vielleicht war alles für mich. Vielleicht war es Sein Weg, an mir festzuhalten, mich heimzuführen.“
Zugegeben: Auf den ersten Blick ist es schon eine etwas schräge Figur in einem ungewöhnlichen Ambiente, die uns der Regisseur Klaus Härö als Pfarrer präsentiert. Da ist keine Gemeinde, nicht einmal ein Dorf zu erkennen. Neben Kreuzen hängen die Vorgänger dieses protestantischen Pfarrers als Bilder an der Wand. Durch das Dach tropft der Regen und unter dem Bett stapeln sich die Briefe, die den Pfarrer erreichen. Niemals ein Gottesdienst, keine Beerdigung und auch die Hochzeit findet nur in der Erinnerung oder als Wunschbild statt. Unverkennbar ist zwar sein Selbstverständnis als Christenmensch und als von Gott in Auftrag Genommener, aber was macht ihn als Pfarrer aus?
Die Leute bitten uns, für sie zu beten, und wir bringen sie näher zu Gott. Es ist wichtig, dass die Menschen wissen und fühlen, dass dort jemand ist, der über sie wacht – und dass keines der Kinder Gottes nutzlos oder verloren ist.“ In diesen Worten drückt sich seine „Mission“, sein „Gottesdienst“ aus. Beide Dimensionen – die konkrete Lebenshilfe wie das fürbittende, stellvertretende Gebet für Andere, diakonia und leiturgia – charakterisieren Jakobs Selbstverständnis als Priester. Und wo dieser Kontakt abbricht, beginnt Jakobs Krise. Wie eng beides dabei zusammenhängt, vermittelt der Film in den Szenen in der Kirche, als Jakob allein und ohne Kontakt zu den Menschen selbst das Gebet nicht mehr gelingt. Die martyria, verstanden als Verkündigungsauftrag im engeren Sinn, ist in dem greifbar, was schon in dem o.a. Gedanken ausgesprochen ist, das Getragen- und Angenommensein durch einen liebenden Gott, das ist es, was Pfarrer Jakob den Menschen vermittelt. Es kommt auch in den wenigen biblischen Zitaten im Film – bezeichnenderweise aus den paulinischen – zum Ausdruck, so etwa mit einem Zitat aus dem Philipperbrief: „Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus!“.
Von dem Gesagten her könnte man leicht den Eindruck gewinnen, die beiden Hauptfiguren seien als Kontrastfiguren, ja Antagonisten konzipiert, am Ende gar in ein filmisches Schwarz-Weiß-Schema einzuordnen. Und auf den ersten (filmischen) Blick kommen beide in der Tat sehr gegensätzlich daher: der alte, blinde, von seiner Statur her eher gebrechlich wirkende Pfarrer und die kräftige, einen Mann leicht niederringende „Knastschwester“. Doch es gehört zu den vielen Stärken des Films, dass er seine Figuren sehr differenziert und mit viel Liebe zeichnet. Hinter scheinbaren Selbstsicherheiten verbergen sich Ängste, Verletzungen, Zweifel. Und bei allen Selbstgewissheiten und Verschlossenheiten gibt es immer auch Momente der Überraschung und Entwicklung. Dies gilt selbst für den Postboten, dem es am Ende gelingt, seine Vorurteile und Ängste zu überwinden. Im Besonderen trifft dies auf die verschlossenste der Figuren zu: Über weite Strecken des Films bleibt rätselhaft, wie Leila die wurde, die der Film zeigt: eine Hoffnungslose, eine, die vom Leben nichts mehr erwartet, ein Mensch, der Hilfe und Zuwendung weder empfangen noch geben möchte.
Erst gegen Ende erfährt der Zuschauer die Vorgeschichte der Tat: der Mord als der verzweifelte Versuch, die Schwester aus der Gewalt ihres brutalen Mannes zu befreien – eine Tat, die nichts heilt und alles zerstört. Strafe und Gefängnis sühnen nicht die Tat, heilen nicht den Menschen. In diesen Erfahrungen gründet – so lässt sich die Figur deuten – ihr Misstrauen, ja ihre Kälte gegenüber anderen Menschen, ihr Empfindung von Hoffnungs- und Sinnlosigkeit. Im Letzten ist es das Unvermögen, sich selbst annehmen zu können, das im Empfinden der eigenen Schuld und fehlender Vergebung gründet: „Wer kann jemandem wie mir vergeben?“ In dieser verzweifelten Sehnsucht mündet ihre Beichte, auf die Jakob mit der Zusage der Vergebung Gottes, der „vermag, was Menschen nicht können“, antwortet. Und bezeichnenderweise sind mit dieser Antwort Zeichen der Annäherung der beiden verbunden: Die anfangs so abweisende Leila stützt Jakob, als er Schwäche zeigt.
Diese Zusage der Vergebung, wo andere und auch man selber nicht verzeihen kann, wo Schuld weder gesühnt noch wiedergutgemacht werden kann, ihr begegnet Leila gegen Ende des Films. Und damit begegnet ihr in jenem Pfarrer Jakob auch die Barmherzigkeit eines Gottes, den sie bislang weder erfahren noch gesucht hatte. Auch das eine Erfahrung der Gnade…