Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne

Imagination ist, wie Achatz von Müller zusammen mit Ernst Cassirers Danteinterpretation herausstellt, das Gegenteil von machtvoller Prophetie und hält so in poetischer Weise die Geschichte offen (122). Die hier vorgestellte Lektüre präsentiert Dante als Inspirationsquelle für unsere spätmoderne Epoche gerade dadurch, dass er sich in seinen Imaginationen von Machiavelli, der für die Alternative eines „Willens zur Macht“ steht, abhebt. Diese werden vom Autor in einer durch Jacob Burckhardt inspirierten Lektüre in acht, keiner spezifischen Systematik folgenden Formen ausgeführt: Moderne, Stadt, Dante, Staat, Geld, Geschichte, Zeitgenossen, Porträts. Dadurch wird Dante in der „Rolle eines wegweisenden Inspirators der Moderne“ (18) präsentiert und den heutigen Lesern als „Zeuge d[]er Krise des Wertewandels“ (158) vorgestellt. Dabei geht der Autor stets auf spezifische, historisch bedeutsame Dante-Interpretationen ein und bringt dem Leser die einzigartige Persönlichkeit des Dichters daher auch wirkungsgeschichtlich nahe. Im Ganzen fungiert das Moderne-Kapitel gleichsam als Einleitung und Darlegung der hier angelegten Methode, während der Porträts-Teil abschließend vier berühmte malerische Darstellungen Dantes durch einen unbekannten Florentiner, Giotto, Michelino und Raffael beschreibt.

Im Stadt-Kapitel werden die Renaissanceflorentiner zusammen mit Burckhardt als „Erstgeborene[] unter den Söhnen des jetzigen Europas“ dargestellt, da sich hier erstmals das „moderne Individuum“ herausbildet (21). Schöngeistigkeit verband sich mit Kleinbürgertum, eine „Renaissance der Kultur“ mit einem „verstörenden Hang zum Kalkül“ (22-23). Dantes Menschenbild drückt damit die „wunderbare Ambivalenz“ seines Umfeldes aus und setzt sich damit von der „pejorativen Skepsis Machiavellis“ bzw. der „verklausulierten Widersprüchlichkeit von Thomas Hobbes“ ab (111). Deutlich näher steht Dante daher Montesquieu, was die Interdependenz der vorpolitischen menschlichen Entscheidungsfreiheit und der notwendigen bürgerlichen Freiheit im Staat angeht: Eine stabile und gute Rechtsordnung ist für die Realisierung von Freiheit unabdingbar (115-116). Doch meint Dante im Gegensatz zu dem französischen Staatsdenker stets den „Weltstaat“ der universalen Gerechtigkeit, welcher sich nicht nur dem Zugriff der Kirche, sondern auch einer modernen, hegelschen Mythologisierung des Staates entzieht (117-120).

Diese Gerechtigkeits- und Friedensperspektive, an der sich auch Marsilius von Paduas „Defensor Pacis“ inspirierte, übersteigt somit gleichsam das Machtstreben der Kirche und politische Gewaltherrschaft. Sie wird im langen wie detailreichen Staat-Kapitel mit vielen konkreten Referenzen auf die Herrschaftsstrukturen seiner Zeit ausgeführt. Dabei nimmt sie die Reflexionen des Dante-Kapitels auf und weist auf das Geschichte-Kapitel voraus. Beide sind nämlich innerlich durch die zentrale Frage verbunden: „Wie also gelang es der europäischen Kultur, nicht an ihrer geschichtlichen Bindung zu ersticken, sondern diese als Dynamik zur Moderne zu nutzen?“ (45) Auf der Suche nach einer Antwort wird die Renaissance und speziell Florenz in der Lektüre Dantes zum Modell und Paradigma für die Moderne, welche mithin „keine historische Epoche“ ist, sondern sich in der Zentralität des „Ich“ für die Teilhaber an „der ‚wirklichen‘ Geschichte der Liebe“ im Sinn Augustinus’ ausdrückt. Dabei geht Dante aber auch gleichzeitig über das Geschichtsmodell Augustins, das die „Welt“ als „Sündenpfuhl“ interpretiert und der Kirche die zentrale Funktion in der Heilsgeschichte vorenthält, hinaus (59, 147). Eben dadurch konkretisiert sich die Moderne als „ein Versprechen und eine Drohung der Geschichte mit eigenen Konjunkturen“ (26).

Dies wird insbesondere, wievon Müller detailliert beschreibt, am neuen Stadtbild Florenz’ deutlich: Bald umfassten die florentinischen Signori Adlige und Bürger, welche die beiden Gruppen der neuen Gesellschaft bildeten, die ihren Ausdruck nicht mehr in den mittlerweile abgetragenen 150 Adelstürmen, sondern in einem komplett gepflasterten Straßenbild fand (30-32). Dante suchte gegen den Materialismus der Gente nuova das alte und wahre Florenz durchaus mit dem Dolce stil nuovo der neuen Dichtkunst, „einer ersten lyrischen Sturm-und-Drang-Bewegung der europäischen Literaturgeschichte“ (62), zu erneuern (35-36). In ihr kann die Commedia „als autobiographischer Text einer Welt- und Lebensrettung – das moderne Individuum zeigt sich in seinem Dauerzustand zwischen Krise, Bewährung und Rettung“ – gelesen werden (66-67). Damit realisiert Dante aber auch, worauf der Autor besteht, die „Ablösung des augustinischen Geschichtsbildes“ (176) und öffnet die Geschichte für ihre Dimension der „Weltgesellschaft“. Dies bedeutet jedoch, Dante als Suchenden zu interpretieren, der auf der „verzweifelten Jagd nach dem ‚Ich‘“ ist (177). Diese Lektüre Dantes ist nun die Realisierung der angedeuteten Kriterien Jacob Burckhardts: „Dantes Jenseitsreise führt an alle jenseitigen Spiegelorte der Welt. Das Jenseits Dantes ist ein Weltspiegel.“ (114) Damit eröffnet sich die spezifische Geschichtsperspektive der Commedia, über Augustinus hinaus den Sinn der Geschichte in der Liebe „als Ziel und Sublimierung der Geschichte“, welche ihre Doppelnatur von Welt- und Heilsgeschichte, in der profane Tugend und religiöse Erlösung zusammenfließen, wofür die Figur des Trojaners Ripheus steht (148-153).

Es geht Dante also um die Erfassung der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und die Formulierung eines neuen Ethos, welches in Glaube, Hoffnung und Liebe eine spirituelle Gerechtigkeitsdimension in der neuen, modernen Renaissancestadt realisiert. Gerade zu diesem Zweck muss aber auch – wie von Müller im Geld-Kapitel ausführt – ganz im aristotelischen Sinn das Geld – als Strukturelement der neuen, sich im Renaissanceflorenz formenden Gesellschaft – vor seiner modernen Verflüssigung, wie Simmel dies interpretiert, bewahrt werden (126-130). In seiner „reflektierenden Geldanalyse“ lehnt Dante somit Zins und Wucher ab, um zu einem richtigen Umgang mit Geld als „Werk der Lebenskunst“ und „Mimesis der Natur“ zu gelangen (130, 133). In dieser vom Autor konsequent durchgehaltenen Interpretation ist dann auch das Inferno „nicht als Phantasie eines Sadisten, sondern als Empirie eines Beobachters von Menschen und Gesellschaften“ zu lesen (188). Letztlich werden, so die Lektüre des Autors, alle Menschen, gleich ob Christen oder Heiden, als „Teilnehmer an der weltgeschichtlichen Erlösung durch Gerechtigkeit“ angesehen (150).

Das Zeitgenossen-Kapitel bringt die Methode von Müllers zum Ausdruck, Dante durch die gesamte Abhandlung hinweg durch namhafte Interpreten eine moderne Stimme zu geben, gleichsam seine Imaginationen zu konkretisieren. Die Auswahl der Interpreten – welche durchaus auch kritisch und bisweilen distanzierend betrachtet werden – erfolgt dabei selbstredend in burckhardtscher Perspektive. Religiöse bzw. theologische Sichtweisen, wie diese interessanterweise aber eben auch, durchaus etwas gezwungen, mit Benedetto Croce identifiziert werden (72), finden dabei keine Berücksichtigung. In Italien stünde dafür etwa Rocco Montano (1913-1999), der hier nur als kritischer Kontrapunkt erwähnt werden und verdeutlichen soll, dass die burckhardtsche Lektüre des Autors Dante mit Siger von Brabant und eben nicht mit Thomas von Aquin begreift. Doch eröffnet dies eine Debatte, die nicht nur über diese nicht immer einfach lesbare, aber stets inspirierende Abhandlung hinausgeht, sondern sie auch in eine durchaus aktuelle und internationale Debatte einführt, die das Verdienst des Autors nochmals eigens würdigen kann. Der Leser, welcher nicht mit der Fachdebatte vertraut ist, findet in diesem Buch gleichwohl eine kulturell breit aufgestellte und tiefgründige Lektüre eines der bedeutendsten europäischen Autoren aller Zeiten, dessen Botschaft dank Achatz von Müller heute aktueller denn je erscheint.

Göttingen: Wallstein Verlag. 2021
222 Seiten m. s-w Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-8353-5033-5

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