Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl

Prophetin einer Kirche im Aufbruch
Impulse für Realisten

Aus unterschiedlichen Perspektiven beschreibt Annette Schleinzer zunächst die aktuelle „Realsituation“ von Kirche und Glaube, um darauf mit Madeleine Delbrêls (1904-1964) „Realismus“– unter dem Motto: Optimismus trifft Pessimismus – zu antworten. Zu Recht verweist die Verfasserin auf die Bedeutung des Blickwinkels und der Einstellung, wenn sie der „Großwetterlage“ von Kirche und Glaube die erfrischende, elanvolle Sicht der „Nachkonzilsprophetin“ entgegensetzt. Das „Gefühl der Niederlage, das uns in unzufriedene und ernüchterte Pessimisten mit düsterem Gesicht verwandelt“ (Papst Franziskus), löst sich auf, wenn man mit Madeleine Delbrêl, der immer bekannter werdenden französischen Mystikerin, Sozialarbeiterin und Schriftstellerin, „der Situation nüchtern und realistisch ins Auge“ sieht (12); sie ist überzeugt, dass das „Abenteuer des Glaubens“ zwar in einer Zeit spielt, in der es kaum Wegmarken gibt, Gottes Heiliger Geist aber von „unerschöpflicher Fantasie“ ist.

Im Anschluss an diese hoffnungsvolle Bestandsaufnahme folgen die Biografie und die „(Glaubens-) Lebensessenz“ der „Mystikerin der Straße“ sowie ihr Missionsverständnis: Sie fordert uns dazu auf, „heute, in der heutigen Welt und heutigen Zeit zu lauschen, was der Herr seit jeher für heute von uns will, für die heute lebenden Menschen, für unsere heutigen Nächsten, und zu bitten, dass wir es sehen und begreifen“ (Delbrêl nach Schleinzer, 19). Innerlich in einem lebendigen Glauben an Jesus Christus und an der Richtschnur des Evangeliums mit seinem Doppelgebot der Liebe verankert, hat sie reflektieren und unterscheiden können, was die konkrete Praxis gerade abverlangt. Ihre Antwort war insbesondere eine tragfähige Alltagsspiritualität in ihrer (Glaubens-) Lebenswelt, die zur Stärkung der missionarischen Aufbrüche vor Ort und zur Berufung der Christen überhaupt beiträgt. Für Gotthard Fuchs ist Delbrêls „prophetischer Wille zur Zeitgenossenschaft zukunftsweisend, der Wille zu einer zugleich konkreten und praktischen Alltagsspiritualität, zum zugleich mystischen wie politischen Engagement“ (Fuchs nach Schleinzer, 27). Madeleine Delbrêl war sich der Grenzen ihrer Erfahrungen stets bewusst; gegen Ende ihres Lebens scheint sie geahnt zu haben, dass vieles von dem, was ihr begegnet ist, von grundsätzlicher Bedeutung ist und über ihre persönlichen Erfahrungen und Schlussfolgerungen hinausweist.

Im Kapitel „Die Liturgie der Außenseiter: Als Kirche aus sich herausgehen“ (89-95) begegnet man Madeleine Delbrêl im Café und erfährt, wie sich dort, und zwar nicht nur für sie, Gott finden lässt. „Du hast uns heute Nacht in dieses Café ,Le Clair de Lune' geführt ...“ (Delbrêl nach Schleinzer, 90). Dem folgt die Gottesentdeckung der „Mystikerin der Straße“: „,Weil deine [Gottes] Augen in den unseren erwachen, weil dein Herz sich öffnet in unserm Herzen', ist dieses Café ,nun kein profaner Ort mehr ...'“ (Delbrêl nach Schleinzer, 91). Warum nicht einmal (selbst-/einzel-) seelsorgerisch in gemeinschaftlichen Beisammensein, vielleicht bei Wein und Brot, Gottes Gegenwart und Fülle im Miteinander bzw. in seinen Schöpfungsgaben wahrnehmen?

Im Anhang findet man kostbare und weniger bekannte Originalworte der „Schriftstellerin“ ins Deutsche übertragen wie den Text „Einsamkeit“, der Gottes Dasein in der Einsamkeit spüren lässt: „Uns Leuten von der Straße scheint die Einsamkeit nicht die Abwesenheit der Welt zu sein, sondern die Anwesenheit Gottes. Dass wir ihm überall begegnen, macht unsere Einsamkeit aus.“ (Delbrêl nach Schleinzer, 231) Gott ist für sie wie für uns also nicht nur im Café, sondern gerade auch in der Einsamkeit gegenwärtig. Die Frage ist nur, ob wir seine Gegenwart wahrnehmen und daraus (Glaubens-)Lebenskraft schöpfen.

Annette Schleinzer hat ein hilfreiches, mit Originaltexten angereichertes Buch verfasst, das „nährt“ und anregt, den persönlichen Standpunkt zu überprüfen, das anhalten lässt und bestätigt und neue Denkanstöße gibt. Es ist ein pastorales Werk, das zur (Selbst-/Einzel-) Seelsorge anregt und Mut macht.

Oberpframmern: Verlag Neue Stadt. 2017
246 Seiten
19,95 €
ISBN 978-3-7346-1110-0

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