Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Annettte Hilt / René Torkler / Anna Waczek (Hg.): Erzählend philosophieren – ein Lehr- und Lesebuch

Mit Nachdruck forderte der britische Philosoph Alfred North Whitehead in seiner grundlegenden Abhandlung „Wissenschaft und moderne Welt“ (1925), Philosophen sollten doch beständig und aufmerksam auf die Literatur als eigene Kunstform blicken, um „die innersten Gedanken einer Generation zu erkennen“. Whitehead sprach der Literatur dabei das Potenzial zu, im Modus des Erzählens Erfahrungen zu reflektieren, die nicht einfach als verwässerte philosophische Konzepte zu deklassieren wären. Vielmehr eröffnete die Literatur als Kunst für Whitehead einen weiten Resonanzraum, in dem sich Philosophie, verstanden als die vernunftbegründete Reflexion menschlichen Tuns, verdichtet ereignen würde.

In einem solchen Sinn beleuchten Annette Hilt (Professorin für Philosophie an der Cusanus-Hochschule Bernkastel-Kues), René Torkler (Professor für Geschichte und Didaktik der Ethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt) und Anna Waczek (Akademische Rätin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, ebenfalls an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt) nun in einem umfangreichen und substanziellen Sammelband die Verhältnisbestimmung von Literatur und Philosophie: „Erzählend philosophieren – ein Lehr und Lesebuch“, so lautet der Titel des über 400 Seiten starken Bandes, der ein facettenreiches Panorama literarischer Texte mit philosophischen Fragestellungen, Problemkonstellationen und Ideen vorstellt. Die drei Herausgeber baten Professorinnen und Professoren oder Lehrende der Philosophie bzw. Philosophiedidaktik, einen für sie bedeutsamen literarischen Text mit philosophischen Implikationen auszuwählen und durch eine kontextualisierende Interpretation vorzustellen. Bewusst waren die Beiträgerinnen und Beiträger dabei aufgerufen, diesen Text von ihren persönlichen und konkreten Lektüreerfahrungen und Lesebiografien ausgehend auszuwählen. Durch dieses methodische Vorgehen sollte also kein bestimmter Kanon literarischer Texte oder gar ein chronologisches Kompendium der philosophisch-literarisch relevantesten Texte zusammengestellt werden, vielmehr stand es in der Freiheit der Beiträgerinnen und Beiträger, Texte herauszugreifen, anhand derer erzählendes Philosophieren als ein möglicher Zugang zur Philosophie erfahrbar werden würde.

Das Ergebnis dieses Vorhabens kann als ein Glücksfall und wahrhaftes Lesevergnügen für alle an den Weiten von Literatur und Philosophie Interessierten bezeichnet werden: Insgesamt 19 literarische Texte werden kompakt durch so einnehmende wie erhellende Einführungen vorgestellt und schließlich als Primärtexte umfangreich präsentiert. Dabei reicht die Auswahl der Texte von bekannten Werken der Weltliteratur bis hin zu Beispielen der jüngsten Gegenwartsliteratur. Einige der vielfältigen Beiträge seien an dieser Stelle kurz vorgestellt: Walter Schweidler (Universität Eichstätt) beleuchtet beispielsweise mit der aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ entnommenen Novelle „Wer ist der Verräter?“ die unaufhörlich virulente und damit philosophische Frage, was als eigentliche Bedeutung des Begriffs Bildung gelten darf, während Stephan Grätzel (Universität Mainz) mit einer Episode aus James Joyces Epoche stiftenden Roman „Ulysses“ überzeugend nach einer durch Sprache bedingten Wirklichkeit und Wahrnehmung fragt. Weiter diskutiert Monika Säger (Universität Heidelberg) anhand eines Auszugs aus Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“ eindrucksvoll den Umgang mit Weltbildern und Identitäten in einer von Ambiguitäten geprägten Welt und spiegelt ihre Lektüreerfahrungen bereichernd in einem zeitgenössischen Wirklichkeitssinn, der zunehmend von Algorithmen bestimmt wird. Mit Ferdinand von Schirachs Kriminalgeschichte „Fähner“ erörtert René Torkler (Universität Eichstätt) schließlich die Begriffe von Versprechen, Schuld und Strafe und führt einen Repräsentanten der Gegenwartsliteratur an, dessen kühler Erzählstil die je eigene Urteilsbildung des Lesers unmittelbar herausfordert. Holger Zaborowski (Universität Erfurt) diskutiert schließlich auf der Grundlage von Patrick Roths einnehmender Erzählung „Abrahams Erben“ die theologisch-philosophische Frage, welche Bedeutung den Dimensionen von Barmherzigkeit und Erbarmen vor dem Hintergrund der Fehlbarkeit und Endlichkeit des Menschen zukommt.

Nicht nur die ausgesprochene Stärke der einzelnen Beiträge lassen „Erzählend philosophieren“ zu einem Gewinn werden, ebenso ist es die umfangreiche Einleitung der Herausgeber, die vielfältige Denkanstöße gibt: Unter Verweis auf Paul Ricoeurs Konzept der „narrativen Identität“ erörtern die Herausgeber den didaktischen und bildungstheoretischen Mehrwert, der einer Verwendung von literarischen Texten in philosophischen bzw. ethischen Bildungsprozessen inhärent sein kann. Damit wird der inhalts- und gedankenreiche Band schließlich auch zu einem Anlass, den Einsatz von philosophisch relevanter Literatur im Philosophie-, Ethik-, oder Religionsunterricht anhand der vorgestellten Texte neu in den Blick zu nehmen und zu erproben.

Alfred North Whitehead entdeckte in der Literatur einst einen entscheidenden Resonanzraum der Philosophie – „Erzählend philosophieren – ein Lehr- und Lesebuch“ veranschaulicht diesen Gedanken so vielstimmig wie eindrucksvoll und wird darüber hinaus zu einem überzeugenden Impuls, das Verhältnis von Literatur und Philosophie für Bildungsprozesse fruchtbar werden zu lassen. 

Freiburg / München: Karl Alber Verlag. 2020
452 Seiten
39,00 €
ISBN 978-3-495-49091-4

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