Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Arnold Angenendt: Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum

In der römischen Antike sehen wir den berühmten Marcus Tullius Cicero. Er heiratete sechzigjährig ein sechzehnjähriges Mädchen. Und dies war kein Einzelfall. Die Geschichte der Ehe zeigt es deutlich: Die Männer heirateten in der Regel spät, die Frauen oft sehr jung. Noch zu Beginn der Neuzeit sehen wir die Mutter des Künstlers Albrecht Dürer. Sie heiratete mit fünfzehn, hatte achtzehn Kinder, von denen nur drei die Mutter überlebten.

In der vorliegenden Studie geht es um Liebe, Ehe und Sexualität; und zwar nicht nur, wie es im Titel des Buches heißt, „im Christentum“ speziell, sondern „in der Geschichte der Menschheit“ generell. Der Autor, Arnold Angenendt, ist katholischer Priester und international renommierter Kirchenhistoriker. Trotz seiner achtzig Jahre ist er immer noch aktiv: publizistisch, forschend und lehrend, zuletzt noch als Senior-Lecturer am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster.

Immer wieder werden nicht-christliche Phänomene vergleichend einbezogen, Vorgegebenheiten skizziert und Sonderphänomene berücksichtigt. Im Judentum und Islam sei man zwar sexualfreundlicher, „aber immer zugunsten der Männer“. Und wieder zeigt sich Angenendts Begabung, selbst komplex-komplizierte Zusammenhänge spannend darzulegen und historische Forschungsergebnisse auf den Punkt zu bringen. Er führt Ciceros junge Frau und Abrecht Dürers Mutter an, um die Fakten sprechen zu lassen und den historischen Vergleich zu ziehen: Mädchen wurden von der Antike bis in die Neuzeit hinein kurz nach der Geschlechtsreife verheiratet. Männer in der Regel erst dann, wenn sie eine Familie ernähren konnten. Sie waren also in der Regel bedeutend älter. Es ging um die Sicherung und Erziehung der Nachkommenschaft. Zahlreiche antike Ehe-Traktate fordern es nachdrücklich: Zur Aufgabe des Mannes gehört es, seine junge Frau erst einmal „heranzubilden“. Kein Wunder, dass unter solchen Umständen der Mann als das Haupt der Frau galt. Der heilige Paulus erinnert daran (vgl. 1 Kor 11,3). Gutes Zusammenleben in der Ehe gedieh in der Regel dann, wenn die mädchenhaft junge Frau sich den Bedürfnissen des geschäftstüchtigen Ehemanns anpasste.

Ob für diese Männerdominanz allerdings Cicero ein gutes Beispiel ist? War er doch vor seiner Heirat mit der 16-jährigen Publilia dreißig Jahre mit Terentia verheiratet. Und nach allem, was wir von Plutarch wissen, war sie es, die zu Hause das Sagen hatte. Cicero ließ sich von ihr scheiden. Wenig später heiratete er das junge Mädchen: for sexual pleasure oder wollte er seine erzieherische Kompetenz unter Beweis stellen? Wir wissen es nicht. Jedenfalls war Publilia vermögend. Mit ihrer Morgengabe konnte Cicero die Mitgift seiner Geschiedenen zurückzahlen.

Als Ausgangspunkt der historischen Vergleiche und Durchblicke, Skizzierungen von Wandlungen und Entwicklungen der Geschlechterbeziehung werden nicht so sehr philosophisch-theologische Deutungen, sondern biologisch-medizinische Fakten gewählt. Sexualität erscheint in trimorpher Dimension: von Lust und Leidenschaft, von Fortpflanzung und Nachwuchssicherung und schließlich unter der Ergänzungs- und Beziehungsdimension. Die Rede ist von Liebe und Leibfeindlichkeit, Treue und Ehebruch, Sex und Gender, Matriarchat und Patriarchat, natürlicher Geburtenregelung und Pille, Homosexualität, Pädophilie, Onanie, Vergewaltigung, Prostitution bis hin zum Sextourismus unserer Tage.

Das sexuelle Verhalten in der Antike, der Griechen und Römer, wird exemplarisch dargestellt, Auskünfte der Bibel, des Alten wie des Neues Testaments, werden eingeholt und die Anfänge des Christentums kommen im Blick auf Sexualität, Ehe und Familie zur Sprache. Gezeigt wird, wie es den Christen mit wechselndem Erfolg gelingt, die wachsende Innovationstoleranz der Herrschenden zu inspirieren und die Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche im christlichen Sinn zu verändern.

Jesus verkündete das Reich Gottes. Dieses bricht an im Modus des Glaubens an ihn, der die Wahrheit als Liebe ist. Der Christ-Gläubige nimmt in seiner Liebe zum anderen nicht mehr Maß an der Liebe, die ihm vom anderen entgegengebracht wird, sondern er nimmt Maß an der unendlichen Liebe Gottes. Damit wird grundsätzlich das archaische Do-ut-des-Denken, das Denken nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir, durchbrochen. Das Christentum konnte gar nicht anders, als auch die Beziehung von Mann und Frau auf diese neue Grundlage zu stellen. Die Ehe wird zum Zeichen dieses durch den Glauben inspirierten neuen Verhältnisses von Menschen untereinander.

Die Christen suchten dabei nach passenden Anknüpfungspunkten in der Gesellschaft. So unterstützte das Christentum jene philosophischen Bestrebungen in der Antike, die in der freigewählten Zuneigung, in der Freundschaft, die Topform einer guten Beziehung zwischen Menschen sahen, und übertrugen sie, wie bereits Aristoteles, auf die Ehe. Liebe setzt Freiheit voraus. Zwangsheirat widerspricht dem Liebesgebot. Nicht die Familien, die Väter der Brautleute, auch nicht der Mann allein, sondern Mann und Frau entscheiden. Consensus facit matrimonium. Die beiderseitige Zustimmung macht die Ehe: Im Christentum kann niemand gegen seinen Willen verheiratet werden. Der Autor zeigt, wie die Christen diese Sicht der Ehe im Verlauf der Geschichte und gegen alle Widerstände bei den verschiedenen Völkern mit ihren jeweils verschiedenen Eheformen durchzusetzen suchten. Entscheidender Maßstab des Handelns war das Leben in der Nachfolge Christi, nicht heidnische Libertinage. „Einer trage des anderen Last“, wie es bei Paulus heißt.

Im Blick auf die mittelalterliche Gesellschaft rekurriert der Autor dabei vor allem auf die bahnbrechenden Forschungen des Wiener Wirtschafts- und Sozialhistorikers Michael Mitterauer. Der stellte schon vor Jahren fest, was Angenendt hier noch einmal kenntnisreich, detailliert und sprachlich exzellent belegt: Das westliche Ehe- und Familienmodell wurde durch das Christentum „in weltgeschichtlicher Einmaligkeit“ positiv beeinflusst. Dank der Konsensehe konnte sich – rechtlich abgesichert – das gattenzentrierte Ehemodell durchsetzen. Die Paarbeziehung steht im Zentrum. Ihre Liebe zueinander ist entscheidend. Entsprechend konsensual ist auch der eheliche Akt zu bewerten. Er ist christlich gesehen, nicht wie ein „Schluck Wasser“, den der Durstige bei Erhitzung zu sich nimmt, sondern tiefster und höchster Ausdruck personaler Liebe, Ausdruck einer Zweieinheit, die sich öffnet für eine neue Person und gerade so teilnimmt an Gottes Schöpfungsakt. Der Verfasser vermag historisch nachzuweisen, was viele nicht für möglich halten: Die romantische Liebe wäre ohne das christliche Eheverständnis gar nicht möglich, geschweige denn zu einem Exportschlager rund um den Globus geworden.

In christlicher Tradition gilt der Sexualtrieb zwar als gottgegebene Gabe, aber zugleich auch als zu gestaltende Aufgabe. Die Lust wurde beargwöhnt. Die Leidenschaft galt es zu bändigen. Hier waren vor allem die Männer gefordert, moralisch wie rechtlich. Sie hatten Rücksicht zu nehmen und vorsichtig zu sein; denn, so hieß es in stoischer Tradition: Die Leidenschaft verdunkle den Verstand; außerdem könnte die Frau unversehens schwanger werden. Überhaupt dürfe das Sperma des Mannes nicht verschleudert werden. Schließlich enthalte es, so das medizinischen Wissen der Zeit, das Kostbarste, was es gebe: das Leben. Dieses sei aber nur dorthin zu transferieren, wo es auch gedeihe: in den Mutterschoß. Die Verschwendung des Samens kam der Vernichtung menschlichen Lebens gleich. Verbote wurden erlassen: Untersagt wurde der außereheliche Verkehr, die Onanie, homosexuelle Praktiken usw.

Das medizinische Wissen hat sich gewandelt, die katholisch-lehramtliche Position, auf die sich Angenendt im Verlauf der Studie immer mehr konzentriert, oft nicht. Hier gelte es nachzubessern. Die Enzyklika „Familiaris consortio“ von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1981 wird erwähnt, seine „Theologie des Leibes“ nicht. Gerade sie aber gibt plausible Antwort auf angemahnte Defizite und beugt sich dennoch nicht dem Diktat einer pansexualisierten Gesellschaft. Im Gegenteil: Sie öffnet den Blick für die Relation von Person und Tat, Freiheit und Liebe, Glück und Hingabe.

Was Angenendt hier bietet, beeindruckt. Ohne sich in Details zu verlieren und zahlreiche Irrungen und Wirrungen zu verschweigen, bietet die vorliegende Studie geschichtlichen Ein- und Überblick, von der Antike bis in die Gegenwart, in das, was Menschen innerhalb und außerhalb der Ehe bewegt: Liebe und Leiden, Sex, Eros und Agape.

 

Münster: Aschendorff Verlag. 2015

324 Seiten

€ 19,90

ISBN 978-3-402-13146-6

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