Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Arthur Schopenhauer: Das metaphysische Bedürfnis des Menschen

Zur Frage nach der Bedeutung von Religion für den Menschen ruft dieses Bändchen den Philosophen Arthur Schopenhauer als Experten auf. Zwei aus seinem Werk ausgewählte Texte sollen klären, „was dies alles bedeutet“. Den größten Raum nimmt ein Dialog aus den „Parerga und Paralipomena“ ein, in dem ein Demopheles (Mann des Volkes) und ein Philalethes (Freund der Wahrheit) gegeneinander auftreten. Man kann sich ausmalen, wie sich Schopenhauer genüsslich das Gespräch ausgedacht hat, in dem der Religionsgegner Philalethes durch den Mund seines Schöpfers spricht. Religion ist „Lug und Trug“, argumentiert Philalethes, sie beziehe ihre Kraft daraus, dass sie den Kindern früh durch die „Pfaffen“ eingeimpft wird. Sie gedeihe nur auf dem Boden der Unwissenheit. Demopheles unternimmt nur schwache Versuche, die Wahrheit der Religion zu verteidigen. Er knickt schnell ein und argumentiert rein pragmatisch mit dem Nutzen der Religion als „Volksmetaphysik“, die das „dumpfe metaphysische Bedürfnis“ des einfachen Volkes befriedige und ihm vor allem eine Moral vermittle. Diesen heilsamen Nutzen bestreitet Philalethes, indem er das gesamte Sündenregister der Christenheit aufruft, von den Ketzerverfolgungen bis zu den Religionskriegen. Dabei zitiert er interessanterweise Las Casas als Zeuge für die Gräuel der Kolonisierung, ohne den Kampf dieses Dominikanermönchs für die Rechte der indigenen Bevölkerung zu erwähnen. Der Gedanke der Menschenwürde, der aus dem jüdisch-christlichen Personbegriff abgeleitet ist, war eben immer eine Mahnung, den Verfehlungen der christlichen Völker Einhalt zu gebieten. Auch die Anmerkungen des Herausgebers geben keine ergänzende Aufklärung zu Las Casas. Er wird nur knapp als Schriftsteller und Kolonist vorgestellt, was wohl das Unwichtigste an seinem Wirken war. Honi soit qui mal y pense! Gräueltaten, behauptet Philalethes weiter, seien vor allem von Anhängern der monotheistischen Religionen bekannt, nicht jedoch von Hindus und Buddhisten, denen Schopenhauer sich nahe fühlt. Ein Blick in die Nachrichten belehrt uns, dass dem nicht so ist. Und ein weiterer Blick zeigt, dass die Ausgrenzung andersartiger Menschen auch in entchristlichten Gebieten stattfindet, weil eben das Streben der Menschen nach Homogenität ihrer Gesellschaft mit der Abwehr des verunsichernden Fremden unabhängig von ihrer Religiosität ist.

Der Dialog ist also voller Ressentiments dieses Philosophen, der mit seiner Willensphilosophie selbst eine Art dunkler Religion geschaffen hat, die den personalen Schöpfergott durch einen Weltwillen ersetzt, der in blindem Drang alles Erscheinende aus sich hervortreibt. Er bleibt weit hinter dem aktuellen Stand der Diskussion um Glaube und Vernunft zurück, wonach selbst säkulare Philosophen die Notwendigkeit der „rettenden Übersetzung“ (Habermas) religiöser Überlieferung für laizistische Gesellschaften erkennen.

Die Frage nach der Wahrheit von Religion wird sachlicher im zweiten Text behandelt, der ein Auszug aus Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ist. Hier nun gesteht er zu, dass unter den Allegorien der Religion ein mehr oder weniger großer Gehalt an Wahrheit verborgen sein kann. Dabei gibt er dem Buddhismus den Vorzug, der mit seiner Philosophie am besten übereinstimme, womit er zugleich anerkennt, dass Glaube und Vernunft zwei Wege sind, die sich ergänzen und gegenseitig auf Wahrheit prüfen können. „Intuitive Erkenntniskräfte“ hätten die Verfasser der Upanischaden, der bedeutenden Schriften des Hinduismus, sogar befähigt die „fast übermenschlichen Konzeptionen“ einer Metaphysik zu schaffen, so eine vom Herausgeber gestrichene Passage der Textvorlage. Überhaupt spricht Schopenhauer nicht von Religion, sondern von Metaphysik, die er definiert als „jede angebliche Erkenntnis, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht“. Religion ist für ihn eine Metaphysik, die ihre Beglaubigung in Offenbarungen „außer sich hat“, die Philosophie aber eine, die ihre Vernunftgründe „in sich“ findet. Religion befriedige das metaphysische Bedürfnis der einfältigen Masse. Hier ist Schopenhauer entgegenzuhalten, dass Religion kein reiner Erkenntnisweg sein will, also Metaphysik, sondern betende, dankende, vertrauende und verehrende Hinwendung zu einer uns tragenden absoluten Wirklichkeit.

Ein Vergleich des Textauszuges mit dem Originaltext zeigt, dass der Herausgeber die Bezüge auf den philosophischen Hintergrund herauspräpariert hat, nämlich den als Ding an sich verstandenen Willen. Damit wird der Textauszug zwar einfacher lesbar, aber nicht besser verstehbar, denn etwa Schopenhauers Erklärung des „metaphysischen Bedürfnisses“ durch die Bewusstwerdung des Willens in der Vernunft des Menschen bleibt dunkel, wenn nicht klar ist, dass nach Schopenhauer allen Erscheinungen der Wille als Ding an sich zugrunde liegt, im und durch den Menschen also der Weltwille als die metaphysische Wirklichkeit sich über sich selbst klar werden will. Das dreiseitige Nachwort gibt keinerlei Hilfen für eine entsprechende Einordnung. Es besteht überwiegend aus Paraphrasierungen und Zitaten des grade Gelesenen. Man greife also besser zu einer gut kommentierten Ausgabe des Originaltextes.

Texte über Religion
Was bedeutet das alles?
Stuttgart: Philipp Reclam Verlag. 2019
95 Seiten
6,00 €
ISBN 978-3-15-019645-8

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