Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Asfa-Wossen Asserate / Annette Friese (Hg.): Toleranz – Schaffen wir das?

Dieser höchst lesenswerte polyphone Sammelband geizt qua Untertitel des Werkes nicht mit Superlativen: die(!) „Frage des Jahrhunderts“ steht an, dazu die „wichtigsten Stimmen Deutschlands“. Einer der Herausgeber kann ja einen unschätzbaren Vorteil zum Thema für sich reklamieren: Als Angehöriger des äthiopischen Kaiserhauses und zugleich als in Deutschland akademisch Ausgebildeter kennt er Äthiopien als Musterbeispiel eines friedlichen Zusammenlebens der abrahamitischen Religionen und als zweite Sicht die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Europa. Die Fülle der Textbeiträge lässt sich in drei Perspektiven unterteilen: erstens Positionen mit einem weiten, fast utopischen Toleranz-Begriff; zweitens solchem, die diesen noch als zu restriktiv kritisieren und schließlich drittens Stimmen, die im Blick auf die menschliche Endlichkeit ein realistisch-begrenztes Konzept von Toleranz vortragen.

Zur ersten Gruppe: Der Schriftsteller Navid Kermani sieht die europäische Grundidee der Offenheit als verraten an, wenn man glaubt, Europa gegen vermeintliche „Eindringlinge“ verteidigen zu müssen – Europa darf nämlich nicht als geografische Größe enggeführt, sondern müsse als Geisteshaltung verstanden und realisiert werden. Sonst bilde man sich die eigenen Feinde heran und vollende tragischerweise selbst, was Bin Laden mit „9/11“ provozieren wollte. Der Kunsthistoriker und Diplomat Manfred Osten begründet seinen kosmopolitischen Impetus mit zwei Gewährsleuten: Zum einen mit dem Gegenwartsphilosophen Peter Sloterdijk. Dieser fordert Mut, die andere ausgrenzende, je eigene „häusliche Ordnung zu domestizieren“, ja zu verlassen in Richtung auf eine „Umsiedlung in eine höhere Häuslichkeit“ der Weltbürger. Zum anderen rekurriert Osten auf Goethes Reflexionen über Orient und Okzident vor allem in seinem „West-östlichen Divan“: Goethes enthusiastisches Mohammed-Verständnis dort zeichne diesen als „schöpferisches Genie“ (219), als Ausbund an religiöser Toleranz. Dies sei eine Sicht von „weit vorauseilender Modernität“.

Bemerkenswert ist, dass der Sammelband neben solch weiten, ja fast utopischen Toleranzbegriffen auch Positionen präsentiert, nach denen jene noch viel zu vertikal, „top-down“, nicht auf Augenhöhe strukturiert sind und gewaltförmige Hierarchien affirmieren. So betitelt der vielfach ausgezeichnete „Sozialaktivist“ Ali Can seinen Beitrag programmatisch mit: „Toleranz reicht nicht!“ Für den vorzüglich unangepassten Migranten lauern an allen Ecken des Landes Alltagsrassismus – in Schulen, an den Eingängen von Discos – in Form von Ausgrenzung und Erklärungszwang. „Muster-Migranten“(76) spiegeln diese paternalistischen Erwartungen, indem sie sich asymmetrische übergriffige Zwänge wie „astreine Sprachkenntnisse und europäische Traditionen schablonenhaft“ (79) auferlegen lassen. Menschen sollten jedoch vielfältige Heimaten und zahlreiche Identitäten haben (dürfen). In dieser Perspektive stimmt der medial bekannte Literaturkritiker Ijoma Mangold in die provokative Forderung „Desintegriert Euch“(145) ein und lehnt den herkömmlichen Integrationsgedanken ab, weil diesem die gesellschaftliche Majorität der „Almans“ den Takt vorgibt und dem Neuankömmling das pseudotolerante „Stöckchen hoch hält“(145), über das die zu normierende Minderheit gefälligst zu springen hat. Dem, der dabei Integration fordert, sehe man die „Vorfreude aufs Scheitern schon an“(145).

Die dritte Gruppe der Beiträge favorisiert eine realistische Sicht des Toleranz-Problems. Der syrisch-deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi prägte 1998 den umstrittenen Begriff der „Leitkultur“ als Hausordnung für Menschen verschiedener Kulturen in einem europäisch-liberalen Gemeinwesen, als Klammer zwischen Zuwanderern und Ursprungsgesellschaft. Einerseits bedeute für ihn wahre Toleranz: Offenheit, Zuhören, aber auch eine gefestigte eigene Identität, um zu einem Kompromiss zu kommen. Toleranz darf jedoch nicht grenzenlos beliebig sein, sie hat das Recht, ein Nein zu sagen. Dulden von Intoleranz gehört nicht zur Toleranz; seine Beispiele dafür sind Scharia, Polygamie. Der Schriftsteller Martin Mosebach hält schnörkellos fest: Den drei abrahamitischen Religionen geht es um die Wahrheit, um die eine Wahrheit und „die Wahrheit der einen ist eine Beleidigung für die anderen und umgekehrt“ (170). In einer solchen Situation des Entweder-oder unter Vita-brevis-Bedingungen bleibt für Toleranz eigentlich nur der unbedingte Ausschluss von Gewalt. Für Christen gäbe es jedoch eine Forderung, die dem singulären Wahrheitsanspruch ebenbürtig ist: die Liebe – Liebe als Hingabe und Vergebungsbereitschaft. Wahrheit im Singular und Liebe zu einem existentiellen Ausgleich zu bringen vermögen eigentlich nur „religiöse Genies“ (177) wie z.B. Mystiker und Heilige. Der Religionsphilosoph Eckhard Nordhofen argumentiert anthropologisch mit der radikalen Endlichkeit des Menschen, der sein Leben nur im Singular besitzt. Dem Homo religiosus, dem seine Religion so wichtig ist, dass er sie zum Mittelpunkt seines einmaligen Lebens macht, genügt ein auf den allerkleinsten Nenner zusammengekürzter Inhalt an Gemeinsamkeiten der verschiedenen Religionen (wie z.B. Küngs „Weltethos“) wohl nicht. Differenzen sollen nicht beseitigt werden, sie dürfen aber nicht Quelle von Gewalt sein. Toleranz beweist ihre Qualität dadurch, dass sie starke Unterschiede aushält, erträgt.

Der theologisch, philosophisch und gesellschaftspolitisch interessierten Leserschaft bietet der Sammelband somit eine breite Palette von anregenden Positionen. Über das Orientierend-Grundsätzliche hinaus kommen allerdings erst dann die Mühen der Ebene, nämlich jene Essentials auf konkrete Entscheidungen im Alltagsleben hin umzusetzen: etwa auf kulturell unterschiedliche Meinungen z.B. zur Geschlechterordnung, zu Kleidungsreglungen, zum schulischen Leben, zu Speiseplänen in Gemeinschaftseinrichtungen, hinsichtlich der Blasphemie-Problematik bis hin zum Tierschächten. Auch die meinungsfreiheitliche Bandbreite öffentlicher Äußerungen an Universitäten und in Medien ist umstritten. Es gibt in diesen Bereichen noch viel zu tun, der Textband präsentiert hierfür erfreulich viele Denkanstöße.

Die wichtigsten Stimmen Deutschlands zur Frage des Jahrhunderts
Asslar: adeo Verlag. 2020
284 Seiten m. s-w Abb.
22,00 Euro
ISBN 978-3-86334-270-8

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