Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Barbara Schmitz: Was ist ein lebenswertes Leben?

Die Frage „Was ist ein lebenswertes Leben?“ zu stellen, ist für die Philosophin und Autorin des gleichnamigen Buches von Barbara Schmitz keineswegs nur eine, die lediglich theoretisch beantwortet werden kann. In den acht Kapiteln ihres Buches greift sie auf einen persönlichen und biographischen Erfahrungsschatz zurück, der die philosophische Problemstellung mit eindrücklichen und oft bewegenden Beispielen praktisch umreißt. Damit wird sie ihrem Ziel, „die Erfahrungen dieser Menschen in den Kontext von philosophischen Theorien, Ansätzen und Argumenten zu stellen, so dass [sic] nach und nach ein Bild davon entsteht, welche Schwierigkeiten sich beim Nachdenken über das lebenswerte Leben ergeben, aber auch welche Einsichten und Lösungen man gewinnen kann“ (29-30), mehr als gerecht.

Angeleitet durch das Paradox, dass Menschen subjektiv ihr Leben als lebenswert erfahren können, obwohl man es ihnen objektiv abzusprechen versucht, stellt Schmitz im Laufe der narrativ angelegten Argumentation ihren philosophischen Zugang heraus: „Die Frage nach dem lebenswerten Leben lässt sich nur subjektiv angemessen beantworten. Jeder muss selbst entscheiden, ob er sein Leben als lebenswert erlebt oder nicht“ (160). Individuelle, aber auch schwere Einschränkungen in der Lebensgestaltung durch physische und psychische Krankheiten charakterisiert sie daher nicht als Hindernis auf dem Weg, ein lebenswertes Leben zu führen, sondern spricht ihnen sogar ein sinnstiftendes Moment zu, wenn die Einschränkungen als Aufgabe zur Bewältigung wahrgenommen werden können (vgl. 86). Selbstverständlich lässt sie dabei soziale Normen und Bilder nicht außer Acht, die es in Hinblick auf eingeschränkte Lebensgestaltungen zu hinterfragen gilt. Ob ein Leben als lebenswert beurteilt werden kann, hängt Schmitz zufolge nämlich auch davon ab, ob eine gesellschaftliche Neubeurteilung ebendieser Frage stattfinden kann (Kap. 3).

Sie macht deshalb anhand ihrer sensiblen Annäherung an die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung, mit (demenziellen) Erkrankungen und mit Suizidabsichten verständlich, dass ein soziales Konzept von Autonomie anderen, nämlich einem auf dem individuellen Leistungsgedanken beruhenden Autonomieverständnis (vgl. 82) und auf salutogenetischen Ansätzen idealisierte Gesundheitsvorstellungen (vgl. 100), vorzuziehen ist. Außerdem verdeutlicht sie, dass dem Wunsch nach sozialer Anerkennung gegenüber dem gesellschaftlichen Druck nach Normativität (vgl. 129) mehr Beachtung geschenkt werden muss. Speziell im Blick auf suizidgefährdete Menschen entwirft sie eine vielversprechende Perspektive, welche die problematische Zuspitzung des Suizidproblems auf die Autonomiefrage zugunsten einer Hoffnungsperspektive verschiebt: „Der suizidgefährdete Mensch braucht, wenn er alle Hoffnung verloren hat, die anderen, die für ihn und mit ihm hoffen und ihm die Kunst des Hoffens neu lernen.“ (176) Suizid ist für Schmitz damit kein Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern ein „radikale[r] Verlust von Sinn“ (175), dem mit einer Hoffnungsperspektive begegnet werden kann und soll. Mit diesem auf die Bedingungen der Gesellschaft ausgerichteten salutogenetischen und hoffnungsvollen Blick schärft die Autorin das Verständnis dafür, dass es nicht nur die Sinnperspektive der oder des Einzelnen, sondern die Hoffnungsperspektive der gesamten Gesellschaft braucht, damit ein Leben subjektiv als lebenswert beurteilt werden kann. Dahingehend hält sie aber realistisch fest und schärft ein: „Nicht immer wird es uns vielleicht gelingen, dem Verzweifelten die Hoffnung zu vermitteln, die er braucht, denn Hoffnung entsteht im Inneren des Menschen selbst, sie lässt sich nicht befehlen, nicht verordnen, nicht aufzwingen, nicht für jemand anderen übernehmen. Wir werden auch nicht schuldig, wenn es uns nicht gelingt. Aber wir sollten es versuchen.“ (178)

Selbst wenn die Autorin damit eingestehen muss, dass es nicht möglich ist, die Frage nach einem lebenswerten Leben „auf eine einfache Formel zu bringen“ (180), stellt sie einen Zugang bereit, wie man der Frage begegnen kann. In diesem Sinne kann das Buch als gelungener Versuch bewertet werden, die Sensibilität für das Leben jener Menschen zu schärfen, denen die objektive Anerkennung ihres Lebenswertes durch gesellschaftliche Normierungen verwehrt wird und denen die subjektive Anerkennung des eigenen Lebenswertes durch tiefgehende existenzielle Erfahrungen verloren gegangen ist.

Philosophische und biographische Zugänge
Reclam Denkraum
Stuttgart: Reclam Verlag. 2022
192 Seiten
16,00 €
ISBN 978-3-15-011382-0

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