Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Bernhard Welte: Die Würde des Menschen und die Religion

Anfrage an die Kirche in unserer Gesellschaft 
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Holger Zaborowski

Der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte (1906-1983) veröffentlichte diese skizzenhafte Schrift 1976. Darin denkt er über die Aufgabe der Kirche in der Moderne nach, die, zusammen mit anderen Religionen und Menschen guten Willens, zur Förderung einer menschenwürdigen Gesellschaft beitragen solle. Das Mammutprojekt des modernen Menschen heißt für ihn: der technischen bzw. instrumentellen Vernunft das Singen beizubringen.

Was auf den ersten Blick seltsam anmutet, ergibt sich nach Welte aus folgender Überlegung: Jahrtausende lebte der Mensch in einer integrierten Ganzheit, d.h. alle Dimensionen seines Lebens waren eingebettet in einen übergeordneten Sinn. Erst mit dem Aufbruch der Neuzeit veränderte sich diese Allintegration. Der Mensch löste Bereiche seines Daseins aus dem Sinnhorizont ab und die technische Vernunft begann als neuer Leitstern den Menschen zu bestimmen. Autonomie und technischer Fortschritt ließen mehr und mehr das moderne Leben aus sich hervortreten. Gleichzeitig, so Welte, lebt im modernen Menschen der alte, integrierte Mensch fort in einem oftmals unausgesprochenen Sinnbedürfnis. Warum wünscht man sich Glück? Warum ist der Tod nach wie vor rituell eingebettet? Für Welte alles Phänomene, die ihm zeigen, dass der Mensch mehr ist als instrumentelle Vernunft. Die Strömung des modernen Menschen ist von einer Unterströmung bestimmt, die z.B. auch im Aufbrechen neureligiöser Phänome zu Tage tritt. – Es sei hier festgehalten: Welte stand der technischen Entwicklung immer fasziniert, beinahe ehrfurchtsvoll gegenüber. Er nennt sie nicht nur hier einen Segen. Doch die technische Vernunft gehört ihm zufolge eingebettet in einen Entwurf menschlichen Lebens, bei dem alle Lebensdimensionen zusammengehören. 

Ein solch integriertes Leben, das Menschenwürdige also, wüsste, wohin die Technik führen sollte, bis wohin sie dürfte und wo ihre Grenze wäre. Für ihn sollte sich deshalb jede technische Entwicklung ausrichten am Maßstab der Förderung der Menschenwürde. Die Kirche nun sieht Welte besonders in der Pflicht, ein Beispiel integrierten Lebens abzugeben. Erstens sollte sie dafür eine gewisse Rolle der Fremdheit gegenüber der Gesellschaft in Kauf nehmen, weil sie aktiv auf die Unterströmung des nach Ganzheit strebenden Menschen hinweisen müsse. Zweitens sei es ihre Aufgabe, auf die Grenzen der instrumentellen Vernunft hinzuweisen, und drittens, den Spagat zwischen offenherzigem Aggiornamento und Askese gegenüber Maßlosigkeit, Konsum und Beschleunigung auszuhalten. Der Christ der Moderne ist für Welte eine Insel integrierten Lebens, nicht im Kontrast zur Moderne, sondern als Zukunftsmodell für diese selbst, will sie, trotz berechtigter Technikfaszination, ihre Sehnsucht nach Sinn nicht unterdrücken. 

Weltes Plädoyer ist aktuell. Und doch lehren die vierzig Jahre Abstand, dass die Kirchen heute ihre ethische und religiöse Stimme schon lange mit vielen weltanschaulichen und religiösen Gruppen teilen und nur ein Teilnehmer des Marktes der Glaubensvielfalt sind. Wie kann sich eine weitverbreitete Bilanz- oder Effizienz-Vernunft, die ja auch eine Berechtigung hat, in ein Sinnkonzept integrieren, das ihr selbst Grenzen setzt und sie darüber hinaus über die eigene Grenze blicken lässt? Wie verhält sich die zunehmende Segmentierung unserer Gesellschaft zu Weltes Sinnprojekt? Was bedeutet die Forderung nach Pluralismus vor diesem Anliegen? Sein Plädoyer lautet „dialogisches Aggiornamento“, das nur im Konzert mit allen Religionen und Menschen guten Willens gelingen kann. Genauer: Vertiefung des Dialogs auf der Suche nach dem, was der jeweils Andere zu einer menschenwürdigeren Gesellschaft beitragen kann. Für ihn hieß das z.B. damals schon ganz konkret: Wie können wir alten Menschen zeigen, dass sie wertvoll für uns sind, und weder abgeschoben, ausgeblendet noch retuschiert werden sollten?

topos taschenbücher
Kevelaer: Butzon & Bercker Verlag. 2017
96 Seiten
8,95 Euro
ISBN 978-3-8367-5075-2

 

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