Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Burkhard Liebsch / Bernhard H. F. Taureck: Trostlose Vernunft?

Der Band besteht aus vier Essays, in denen sich die beiden Autoren mit dem 2019 erschienenen Werk von Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“ auseinandersetzen. Unter dem Titel „Geschichtliche Perspektiven ‚heil‘-loser Vernunft“ diskutiert Burkhard Liebsch im ersten Kapitel „Jürgen Habermas‘ implizite Geschichtsphilosophie – und was sie vermissen lässt“ (15-71). Seine Kritik zielt nicht so sehr auf vermeintliche Widersprüche, sondern auf vernachlässigte Aspekte. Die von Habermas ausgeblendete „responsive Ansprechbarkeit des Anderen als eines radikal Anderen“ (56) müsse als Zentrum der ethischen Verpflichtung betrachtet werden. Zurückzuweisen ist der Vorwurf von Liebsch, das Verhältnis von Glauben und Wissen werde von Habermas als „Aneignung des Anderen“ (68) verstanden. Der Ausdruck „Aneignung“ wird von Habermas durchgängig beschreibend gebraucht, um etwa darzustellen, wie die christliche Theologie die hellenistische Philosophie rezipiert hat oder Hume und Kant das Erbe der Religion. Um die von Habermas vertretene Auffassung, dass Geschichte ein Lernprozess sei, als eine heimliche Logik der Aneignung zu kritisieren, bedürfte es eines systematischen Arguments, das von der bloßen Nennung eines Ausdrucks unabhängig ist. Dessen ungeachtet zeichnet Liebsch kenntnisreich die verschlungenen Pfade von Glaube und Wissen nach, die Habermas in seinem umfangreichen Werk betritt. Mit Blick auf Religion ist der hier gebrauchte Begriff der Heillosigkeit von Interesse, mit dem er die theologische Tiefendimension der von ihm attestierte Trostlosigkeit der Vernunftkonzeption von Habermas kennzeichnet.

Noch deutlicher werden „Philosophie und religiöser Glaube“ im zweiten, von Bernhard H. F. Taureck verfassten Kapitel thematisiert, das sich als „Versuch weiterführender Überlegungen in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas“ (73-145) versteht. Taureck bietet hier eine geistesgeschichtliche Rekonstruktion des Verhältnisses von Philosophie und Religion von der Scholastik bis zu Kant und Hegel, die eine alternative Erzählung zum Habermas‘schen Diskurs über Glauben und Wissen darstellt. Der Hauptpunkt seiner Kritik lautet, dass Habermas‘ Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Religion im Kontext der Säkularisierungsdebatte zu verorten sei, was von Habermas selbst nicht bemerkt werde. Dieser Vorwurf wirkt angesichts der ausführlichen Auseinandersetzung von Habermas mit soziologischen Theorien der Säkularisierung nicht wirklich überzeugend.

Ähnliches muss über den zweiten Essay von Taureck gesagt werden, der das vierte Kapitel des Bandes bildet. Unter der Überschrift „Beantwortung der Frage: Welche verborgene Rolle spielt Habermas‘ demokratisches Projekt in seinem Opus magnum von 2019?“ (185-214), wird die religionspolitische Perspektive um wichtige Stimmen der politischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts erweitert; diese Aspekte werden aber doch weitgehend assoziativ und durch rhetorische Fragen verknüpft. Taureck gefällt sich hier in der Attitüde gegen einen vermeintlichen unhinterfragten, durch Habermas repräsentierten alternativlosen Mainstream der deutschen Gegenwartphilosophie angehen zu müssen. Die philosophische Rechtfertigung des „demokratischen Projekts“ spielt aber seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle in den philosophischen und politischen Schriften von Habermas. Warum dieses Motiv also eine „verborgene Rolle“ im Werk von Habermas spielen soll, das erst durch aufwändige Detektivarbeit aufgedeckt werden muss, erschließt sich nicht zwingend.

Philosophisch anspruchsvoller erweist sich die Kritik von Liebsch, die er im dritten Kapitel unter dem Titel „Rückhaltlos verweltlicht? Philosophie vor ihrer Auflösung und Verwirklichung“ (147-184) entfaltet. Liebsch nimmt neben anderen Motiven den Gedanken von „Adornos finsterer Negativität“ (161) auf, den Habermas vernachlässige. Der Schlussteil dieses Abschnitts führt auf Liebschs eigene sozialphilosophische Position, welche die Dimension des Ausgesetztseins als normative Grunderfahrung des Sozialen begreift. Liebsch ist zuzustimmen, dass die philosophischen „Herausforderungen in der Negativität der Zeit und in einer desaströsen Gewalt“ (158) liegen. Die Frage lautet, wie diesen Herausforderungen philosophisch angemessen begegnet werden kann. Angesichts der Rückkehr des Krieges, die Liebsch und Taureck bereits vor Jahren thematisiert haben, wirkt das Vertrauen auf die Haltung der Gastlichkeit und die Orientierung an der Weisheit von Laotse nicht weniger idealistisch als der im vorliegenden Band bisweilen sarkastisch kommentierte Versuch von Habermas, das „demokratische Projekt“ als institutionelle Form vernünftiger Freiheit zu verteidigen.

Vier Kommentare zu Jürgen Habermas‘ Konstellation von Philosophie und Geschichte, Glauben und Wissen
Hamburg: Meiner Verlag. 2021
247 Seiten
24,90 €
ISBN 978-3-7873-3971-6

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