Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christa Georg-Zöller / Franz-Josef Bäumer / Thomas Menges / Michael Novian (Hg.): Mythos und Neomythos

Spiritismus, Scientology, UFO-Glaube, Quantenphysik etc. – die Beispiele, die Linus Hauser für neomythisches Denken nennt, sind breit und facettenreich. Eine ebensolche Diversität und damit die breite Anwendbarkeit von Hausers Neomythos-Konzept zeigen die Beiträge in „Mythos und Neomythos“.
 
Die Festschrift hat die Pensionierung Linus Konrad Hausers zum Anlass, der von 1996-2016 Professor für Systematische Theologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen war. Schwerpunkt seiner Forschungen sind Neomythen, die er in seiner dreibändigen „Kritik der neomythischen Vernunft“ im Zeitraum von 1800 bis in die Gegenwart untersucht. Nach Hauser ist die Weltanschauung jedes Menschen durch zwei leitende Geschichtspunkte geprägt: sein Endlichkeitsbewusstsein und die Geneigtheit, nicht endlich zu sein. Diese Geneigtheit ist religiösen Standpunkten ebenso gemein wie beispielsweise Jean Paul Sartres atheistischem Existentialismus. Jene unterschiedlichen Weltanschauungen differenziert Hauser in anthropologisch zureichend oder unzureichend bestimmte Standpunkte. Das Vernunftkriterium besteht in einer Anerkennung der anthropologischen Grundvoraussetzung, dass der Mensch radikal endlich ist. Während Religionen den Menschen für eine letztendliche Aufhebung seiner Endlichkeit auf eine transzendente Instanz angewiesen sehen, halten Standpunkte der Nicht-Religion die Radikalität menschlicher Endlichkeit für nicht hintergehbar.
 
Neomythen hingegen sind anthropologisch unzureichend bestimmte weltanschauliche Standpunkte, leugnen sie doch die Radikalität der Endlichkeit. Neomythische (kulturelle und individuelle) Positionen meinen, die menschliche Endlichkeit durch das Handeln des Menschen oder anderer innerkosmischer Mächte real aufheben zu können. Hauser sieht solche Neomythen aus dem neuen Selbst- und Weltverständnis, der neuen Weltanschauung des Menschen in der Moderne erwachsen. Allmachts- und auch Ohnmachtsgefühle entstehen aus dem technischen Selbstverständnis und der neuen, titanenhaften Schöpferrolle des Menschen angesichts des Aufkommens der wissenschaftsfundierten Technik. Religionsförmige Neomythen veranschaulicht Hauser an zahlreichen Beispielen an religiösen Gruppierungen wie Scientology, aber auch an hochgeschätzten Naturwissenschaftlern. Solche häufig vertretene kulturgestaltende Standpunkte können durchaus gefährlich werden, so beispielsweise die Ariosophie im Vorfeld zu Adolf Hitlers Weltanschauung.
 
Einen konzeptionell-theoretischen Teil zu Beginn, der in das Neomythos-Konzept einführt, wird ein mit Hausers Begriffen nicht vertrauter Leser vermissen, erklärt sich aber aus der Ausrichtung des Sammelbandes: Es steht keine Tabula gratulatoria und kein rein affirmativer Umgang mit den Begriffen Hausers im Vordergrund. Erkennbar als solche ist die Festschrift nur durch das zu Beginn abgedruckte Foto, das Vorwort sowie die am Ende abgedruckte Biografie und Bibliografie. Die Beiträge zeigen ein breites Feld der Anwendung, entwickeln Begriffe teilweise gar kreativ weiter. Der Sammelband ist wenig eklektisch und assoziativ, denn die Herausgeber schaffen es, über die unterschiedlichen Kontexte/Funktionen der Narrative „Mythen“ die facettenreichen Beiträge sinnvoll zu gruppieren.
 
Das erste Kapitel „Mythen als Narrative der antiken und biblischen Umwelt“ (Jasmin Hack, Ferdinand R. Prostmeier, Detlev Dormeyer, Karl Matthias Schmidt, Eckhard Nordhofen) geht mehr auf den Mythos als auf den Neomythos ein, der eben ein auf die Moderne bezogener Begriff ist. Das Kapitel zeigt im Grunde den Aspekt der Geneigtheit, nicht endlich zu sein, als kontinuierlich und zeitenüberdauernd. Einzelne Beiträge ziehen aber darüber hinaus eine Verbindung zum Neomythos, indem sie entweder antike Kritik an Mythen innerweltlicher Kontingenzbewältigung aufzeigen (so beispielsweise Karl Matthias Schmidt) oder in Bezug auf ein Thema antike Mythen neomythischen Handlungsmodellen gegenüberstellen (Detlev Dormeyer).
 
Das zweite Kapitel „Mythen als Narrative des modernen Kulturraums“ (Roderich Barth, Margit Eckholt, Frank Th. Brinkmann, Thomas Menges, Lars Meuser, Matthias Werner, Hermann Schrödter, Hans-Dieter Mutschler, Sarah Metternich, Alexander Seibold) vereint von Stil und Thema her inhaltlich ganz unterschiedliche, unterschiedlich stark auf den Neomythos-Begriff Hausers eingehende Beiträge. Die meisten behandeln im Grunde Beispiele für neomythisches Denken in Literatur, Film und Kunst: So betrachtet beispielsweise Margit Eckhold den teilweise neomythischen Umgang mit dem Mythos El Dorado in der lateinamerikanischen Kultur und speziell der Literatur. Die Beiträge von Hans-Dieter Mutschler, Hermann Schrödter und Matthias Werner hingegen gehen auf neomythische Narrative der Naturwissenschaften ein. Dabei sind vor allem die Beiträge der letzten beiden Autoren hervorzuheben, die dieselben Denkfiguren wie Hauser aufweisen, aber ihren je eigenen Blickwinkel auf die Problematik reduktionistischer naturwissenschaftlicher Welterklärungsmuster einbringen. So entwickelt Matthias Werner beispielsweise den weiterführenden Begriff der Metaphysikförmigkeit.
 
Das dritte Kapitel „Mythen als Narrative der weltanschaulichen Entwürfe von Gott, Mensch und Welt“ (Michael Novian, Johannes Drescher, Guido Bausenhart, Helmut Hoping, Hans-Joachim Höhn, Hans-Jürgen Müller) widmet sich zum einen Formen der absoluten Gewissheit, die neomythisch die eigene Unwissenheit und Endlichkeit des Menschen negieren. So erläutert beispielweise Michael Novian die Selbstermächtigung im szientistischen Fundamentalismus. So korrespondiert der lesenswerte Beitrag Hans-Joachim Höhns insofern mit der Thematik Hausers, weil beide die spezifische Situation des Menschen in der Moderne in den Blick nehmen: Höhn beschäftigt sich mit den „religionsproduktiven Auseinandersetzungen“ im Rahmen einer „reflexiven Säkularisierung“ und macht anhand säkularer Mythenbildung rund um die drei Beispiele Kindheit, Liebesideal und Frieden deutlich, wie das Christentum den jeweiligen „säkularen Dekonstruktionsversuchen“ gegenüber Angebote auf die existenziellen Sehnsüchte der Menschen bietet.
 
Die nicht nur stilistisch sehr unterschiedlichen Beiträge nehmen unterschiedlich starken Bezug auf Hausers Neomythos-Konzept, aber lassen sich alle im Themenfeld von Mythos, Neomythos und Moderne verorten – und arbeiten, wie der Untertitel verspricht, „Signaturen des Zeitgeistes“ heraus. Die Festschrift setzt Hausers Begriff des „Neomythos“ voraus und ist wegen der Differenziertheit und Mannigfaltigkeit der einzelnen Beiträge zu empfehlen.

Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2016
325 Seiten
44,90 €
ISBN 978-3-506-78252-6

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