Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christian Lehnert: Der Gott in der Nuß

Fliegende Blätter von Kult und Gebet
 
Vor mir liegt ein Buch mit einem enigmatischen Titel, das unter theologischen Büchern eher selten anzutreffen ist. Seine Lektüre verlangt vom Leser eine gewisse Gestimmtheit und Bereitschaft, sich vom Autor in seine Gedankenwelt mitnehmen zu lassen. Ist man dazu bereit, wird man in diese Welt magisch hineingezogen und reichlich belohnt. Den Autor Christian Lehnert bezeichnet der Klappentext als „Dichter und Theologe“, er ist aber mehr: ein moderner Mystiker.
 
Er wurde 1969 in Dresden als Sohn eines Arztehepaars geboren. Er wird zwar getauft, wächst aber ohne Kirchenbindung auf. Erst durch die Begegnung mit der Jungen Gemeinde, der Jugendgruppe der evangelischen Kirche in der DDR, wird sein religiöses Interesse geweckt. Er studiert Religionswissenschaft, Evangelische Theologie und Orientalistik. Studienaufenthalte führen ihn nach Jerusalem, in den Nahen Osten und nach Spanien. Einige Jahre arbeitet er als Pfarrer in einer ländlichen Gemeinde bei Dresden, wird Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg und leitet zurzeit das Liturgiewissenschaftliche Institut der Universität Leipzig. Der literarischen Öffentlichkeit wurde er bekannt als Autor von sieben Gedichtbänden, Verfasser von Libretti, u.a. für Hans Werner Henze, und eines Essays über Paulus. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2012 den Hölty-Preis für sein lyrisches Gesamtwerk und 2016 den Eichendorff-Literatur-Preis.
 
Was macht die Eigenart dieses Buches aus, das der Autor im Untertitel „Fliegende Blätter von Kult und Gebet“ und am Ende einen „Essay“ nennt? Tatsächlich sind die 82 Blätter ein geistliches Tagebuch, in dem Gedanken eines Theologen und Liturgiewissenschaftlers, Begegnungen und Erfahrungen eines (Land-)Pfarrers, Traumgesichte und Impulse eines Dichters und die Beobachtungen eines kritischen Zeitgenossen sich zu einem Ganzen fügen. Zusammengehalten werden die „fliegenden Blätter“ durch ein strenges Kompositionsschema, dessen acht Kapitel als Überschriften die Teile der lateinischen Messe vom „Kyrie“ bis zum „Agnus Dei“ tragen. Die Inhalte dieser Blätter sind vielfältig: die Formeln und Gebete des Gottesdienstes, Erinnerungen an den Vater, die Familie und das Leben in der DDR, der Pfarralltag in einer ländlichen Gemeinde in der Zeit nach der Wende, Impressionen von Reisen nach Jerusalem und in den Nahen Osten oder der Zustand der Kirche in einer säkularisierten Welt. Und immer wieder geht es um den „anwesend-abwesenden“ Gott und unser Sprechen von Gott. Gott lässt sich nur in Paradoxien aussagen: Erst unsere Sprache bringt eine Gottesvorstellung hervor; zugleich ist sie Folge einer subjektiven mystischen Erfahrung, die der Sprache vorausgeht. „Vielleicht ist schon die Frage nach ‚Gott‘ die deutlichste Form seiner Gegenwart, und wo er vollmundig bekannt wird, kann er ferner sein denn je.“ Christian Lehnert ist ein Grenzgänger in den Regionen des Erlebens, in denen sich mystische Schau und der unzulängliche Versuch, diese in Worte zu fassen, treffen. Er ist ein Geistesverwandter des Apostels Paulus und des Augustinus der „Confessiones“ und er ist wie diese ebenfalls ein Poet, der auf der Grundlage eines reichen historischen und theologischen Wissens auch den argumentativen Diskurs beherrscht.
 
Wer das Problembewusstsein, die Zeit und Geduld aufbringt, dem Autor in diese Grenzregionen zu folgen, kehrt nicht ohne persönlichen Gewinn zurück.

Berlin: Suhrkamp Verlag. 2017
237 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-518-42586-2

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