Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christian Philipsen in Verbindung mit Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser (Hg.): Sittes Welt

 

„Wie jemand an die Jungfrau Maria und an Jesus Christus glaubt, so war ich der Meinung, die Arbeiterklasse ist die revolutionäre Kraft. Ich möchte weiter daran glauben, aber es gelingt mir nicht.“ (500) Dieses Zitat ist einem Interview von 1995 mit dem tief enttäuschten einstigen DDR-Malerfürsten Willi Sitte (1921-2013) entnommen. Die angeblich „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus im Rückblick auf untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat nur eine Meinung oder ein Glaube?

Diese Frage führt hinein in „Sittes Welt“, mit der sich das „Kunstmuseum Moritzburg Halle l Saale“ vom 3.10.2021 bis zum 9.1.2022 in einer fulminanten Retrospektive auseinandergesetzt hat. Nach den Retrospektiven zum 50. und 60. versteht sich die zum 100. Geburtstag als „eine erste sachliche, objektive und auf geprüften und verantwortungsvoll recherchierten Fakten basierende Neubewertung seines Schaffens“ (9) und widmet sich sowohl dem Werk wie auch der Biografie Sittes. Ausgestellt waren über 250 Bilder von den 1940er bis Anfang der 2000er Jahre, an denen sich die Entwicklung eines jungen, sehr begabten Zeichners zu einem hoch dekorierten Grafiker und Maler nachvollziehen ließ – wobei gerade die frühen Bilder in ihrer stilistischen Vielfalt überraschen und zu Recht als „Sitte vor Sitte“ gewürdigt werden. Durchgängig stellt der Künstler die menschliche Gestalt in den Mittelpunkt seines Schaffens, was sich in dem ganz ausgezeichneten, reich bebilderten Katalog nachvollziehen lässt. Neben instruktiven Grundsatzbeiträgen umfasst er zahlreiche erhellende Bildinterpretationen und ist der Ort, wo ausführlicher als in der Ausstellung einige biografische Auskünfte Sittes kritisch geprüft und zurechtgerückt werden können. Ausstellung wie Buch überlassen es dem Betrachter, die künstlerische Qualität der Arbeiten zu beurteilen; sie bieten eine Chronik vom rasanten Aufstieg und tiefen Absturz des Willi Sitte und leisten damit einen exemplarischen Beitrag zur Rolle der bildenden Kunst in der DDR.

Herkunft, Antifaschismus und Parteimitgliedschaft sind wesentliche biografische Voraussetzungen seiner Karriere: Sitte wird 1921 in Kratzau (Tschechoslowakei) als viertes Kind einer sozialistischen Bauernfamilie geboren, was er auf späteren Elternbildnissen als makellose kommunistische Genealogie inszenieren wird. Seine zeichnerische Begabung, die er an Reproduktionen alter Meister wie Cranach oder Dürer und an Werken des aus Kratzau stammenden Nazareners Joseph von Führich schult, bleibt nicht unentdeckt, so dass er 1940 die Hermann-Göring Meisterschule (Kronenburg/Eifel) besuchen kann. Nach einem Protest gegen die dortigen Bedingungen wird er zunächst an die Ostfront kommandiert und 1944/45 nach Norditalien versetzt. Dort desertiert er und kämpft nach eigenen Angaben auf Seiten der Partisanen gegen die deutschen Faschisten. In ihren Recherchen kommen Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser allerdings zu dem Ergebnis, dass Sitte „nicht im Herbst 1944, sondern am 11. April 1945 desertiert ist – knapp zwei Wochen vor Kriegsende in Norditalien“ (111) – und sich demzufolge durch „Verfälschung biografischer Fakten“ den für das Selbstverständnis der DDR und seine weitere Karriere hoch bedeutsamen „Status eines antifaschistischen Widerstandskämpfers“ (113) erschlichen hat. 1947 tritt er in die SED ein.

Weil die Aufnahme an eine Kunsthochschule scheitert, bleibt der nicht mehr ganz junge Künstler ohne akademische Ausbildung und – nach Auffassung von Eckhart J. Gillen – „lebenslang ein verunsicherter Autodidakt“ (27). Der Umzug nach Halle und die Begegnung mit der hiesigen lebendigen Kulturszene bewegen den nach einer zeitgemäßen Kunst suchenden Sitte zur Abkehr von der akademischen Malerei. Die neuen Vorbilder sind Pablo Picasso und Fernand Léger – beide Franzosen sind politisch engagierte Kommunisten – und führen zu ganz neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten hinsichtlich Form und Farbe. Dadurch gerät Sitte in Konflikt mit seiner Partei, die den stalinistischen, der Nazi-Kunst ähnelnden Abbildrealismus eines „Sozialistischen Realismus“ propagiert und ihrem Genossen dekadenten westlichen „Formalismus“ vorwirft. 1963 wird für den sich zwischen „formalistischen“ Künstlerfreunden und SED bewegenden Sitte zum Schicksalsjahr: Er übt öffentliche „Selbstkritik“ – „Ich bekenne mich voll und ganz zu den Beschlüssen meiner Partei.“ (93) – und ordnet sein von zwei Suizidversuchen begleitetes Liebesleben neu. Auf diese Weise hat er weitere Voraussetzungen für seine Karriere geschaffen, die in den 1970er Jahren Fahrt aufnimmt.

Den künstlerischen Aufstieg markieren zahlreiche Ausstellungen in der DDR und im nichtsozialistischen Ausland sowie die Ernennung zum Professor für Malerei an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein (Halle) 1973, wo er bereits seit 1952 lehrt. Zum einflussreichen Kulturpolitiker wird Sitte als Präsident des „Verbandes Bildender Künstler in der DDR“ (1974-1988): Bestens politisch vernetzt gelingt es ihm einerseits, das gesellschaftliche Ansehen und die materielle Situation bildender Künstler zu verbessern; andererseits setzt er seine Machtfülle ein, um nichtkonforme Künstlerinnen und Künstler auszugrenzen oder durch Erteilung von Privilegien wie Reisevisa zu disziplinieren. Das „Haus Sonneck“ bei Naumburg lässt er ausbauen, um Politiker aus Ost und West sowie getreue VBK-Mitglieder zu empfangen. Ganz ohne Polemik lässt sich konstatieren: Dem jungen Sitte – der ohne akademischen Abschluss bleibt und die Errungenschaften der Moderne für einen zeitgenössischen „Sozialistischen Realismus“ nutzt – hätte der VBK-Präsident Sitte – der es inzwischen zu einem privilegierten und hofierten Staatskünstler gebracht hat – die Mitgliedschaft verweigert!

Sitte betont ausdrücklich, dass er von der Zeichnung herkommt und die Lithografie zur Verbreitung nutzt. Die Malerei muss er sich noch aneignen; sie gewinnt erst nach 1965 die charakteristische fette Farbigkeit und expressive Körperlichkeit. Die für den „Sozialistischen Realismus“ so typischen Sujets wie das Arbeiter- und das Historienbild prägen auch Sittes Oeuvre. Seine Arbeiter sind keine realistischen, von harter Arbeit gezeichneten Malocher; lieber malt er Idealbilder wie den studierenden oder am Schaltpult agierenden Arbeiter. Die Thematik Liebe und Sexualität durchzieht Sittes gesamtes Werk: Die fleischigen Leiber der nackten Liebespaare machen ihn, so die treffende Formulierung Kaisers, zu einem „post-barocken Meister intimer Prächtigkeit“ (438), der – ganz traditionell – die Frau als Objekt männlicher Begierde darstellt. Überdies beschäftigen ihn biblische und mythologische Themen (mehrfach das Urteil des Paris).

Das Genre des Historienbildes erfährt in der DDR eine Renaissance, steht es doch, so Sitte schon 1955, „im Interesse der Erziehung der Menschen“ (337). Auf seinen „sozialistischen Historienbildern“ setzt er eindringlich den Schrecken des Krieges und die Solidarität mit den Opfern ins Bild. Davon zu unterscheiden sind die ab Mitte der 1960er Jahre entstehenden „sozialistischen Programmbilder“ (335), mit denen er den kriegerischen Imperialismus des Westens anprangert, was freilich nicht an einträglichen Geschäften mit dem Sammler Peter Ludwig hindert. 1970/71 malt der in Böhmen geborene Künstler das dreiteilige, 250 x 375 cm große, sich auf Dürer beziehende Simultanbild „Mensch, Ritter, Tod und Teufel“ (1970/71); es ist eine bildgewordene Rechtfertigung der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch den Warschauer Pakt am 21. August 1968. Sittes „Hommage à Lenin“ (1969) lässt den Betrachter in Untersicht auf den dozierenden Revolutionär aufblicken. Beide Gemälde zeigen: Gewaltanwendung im Namen des Marxismus-Leninismus ist für den auf der richtigen Seite der Geschichte stehenden Künstler kein Problem. Mit derartigen Propagandabildern ist er endgültig in seiner säkularen Kirche, der SED, angekommen und verkündet fortan deren Dogmen. Damit geht ein Wechsel von Freundschaften einher, weshalb die Befürwortung der Ausbürgerung des einstigen Freundes Wolf Biermann 1976 zwar menschlich enttäuschend, ideologisch aber nur konsequent ist.

„In dem Augenblick, wo die Kunst selbstständig wird, sich unabhängig von Staat und Partei macht, hebt sie sich vom Leben, von den Menschen ab.“ (292) Nur wenige Monate nach dieser trotzigen Behauptung vom Sommer 1989 ist Sitte ein gleich mehrfach gescheiterter, aller Macht verlustiger Mann, der als ehemaliger Präsident des VBK und als Mitglied des Zentralkomitees der SED (1986-1989) nirgends eigene Verfehlungen erkennen will. Gescheitert ist der „Sozialistische Realismus“, der kein eigener Stil war, sondern letztlich auf einer politischen – nämlich einer von der SED verbindlich vorgegebenen – Einstellung von Künstlerinnen und Künstlern zur Wirklichkeit beruhte (27). Gescheitert ist der gläubige Kommunist Sitte in seinem Glauben an die historische Mission der Arbeiterschaft, weshalb er sie auf dem Gemälde „Erdgeister“ (1990) kopfüber in den Morast rammt. Sich selbst stellt der heftig kritisierte und sich ausgegrenzt fühlende Künstler auf dem Bild „Der Heilige Stephanus oder die Steinschmeisser“ (1993) als einen kommunistischen Märtyrer dar.

Seit den 1990er Jahren entsteht eine Reihe beeindruckender Selbstporträts, die Bauer-Friedrich als „Ausdruck der extremen Verunsicherung“ (67) deutet. Auf dem „Selbstbildnis“ von 2002 blickt ein alter Mann mit fest verschlossenen Lippen und zweifelnden, vielleicht verzweifelten Augen den Betrachter an – und scheint auf eine Reaktion zu warten. Das Gespräch hat die Moritzburg mit „Sittes Welt“ aufgenommen und für weitere Diskussionen eine solide Grundlage geschaffen.

Willi Sitte: Die Retrospektive
Leipzig: E.A. Seemann Verlag. 2021
536 Seiten m. s-w und farb. Abb.
45,00 €
ISBN 978-3-86502-467-1

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