Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christiane Frey / Uwe Hebekus / David Martyn (Hg.): Säkularisierung

Heinrich Heine schon meinte, das Totenglöckchen für den sterbenden Gott zu hören. „Es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet“, schrieb er. Und Friedrich Nietzsche sah erstaunt, dass die Menschen immer noch die Kirchen bevölkerten, diese »süßduftenden Höhlen«, die für ihn ja nichts anderes waren als „Grüfte und Grabmäler“ des von ihm totgesagten Gottes. Sie tun es auch heute noch, aber tatsächlich leeren sich die Kirchen zunehmend, zumindest in Europa. Die Religion ist hier seit gut drei Jahrhunderten auf dem Rückzug und einflussreiche Philosophen, Soziologen, Psychoanalytiker und Literaten sitzen am Krankenbett dieses Gottes, eifrig bemüht, Sterbehilfe zu leisten und den Prozess der Säkularisierung immer weiter voranzutreiben, also die Verdrängung der Religion aus der Politik und die Ersetzung des Glaubens durch eine Lebens- und Weltorientierung, die nur noch das empirisch Überprüfbare und den Nutzen als einzigen Kompass zulässt. Andere Denker versuchen, die Krankheit zu verstehen und ein Heilmittel zu finden, um der Religion auch in säkularen Gesellschaften ihren Platz zu sichern.

Der von Christiane Frey, Uwe Hebekus und David Martyn herausgegebene Band dokumentiert mit einer 765 Seiten starken, chronologisch in vier Teile gegliederten Textsammlung dieses fortdauernde geistige Ringen um die „Theoriegeschichte“ der Säkularisierung in ihren unterschiedlichen Facetten.

Das erste der Textbündel umfasst den Zeitraum ab Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts und bringt ergänzend Schlüsseltexte von Augustinus, Dante und Luther. Auszüge aus den Schriften bedeutender Denker der Aufklärung von John Locke und Moses Mendelsohn bis Immanuel Kant, die nach den blutigen Zeiten der Religionskriege für den Toleranzgedanken warben, sind repräsentativ für diese Epoche. Dass Spinoza hier mit berücksichtigt wurde, ist sinnvoll, denn sein Pantheismus leitete über zum atheistischen Naturalismus.

Das zweite Textbündel bringt die fortschrittsgläubigen „Programme“ vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören u.a. Hegels Geschichtsphilosophie, Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ und Auguste Comtes Idee, Religion durch einen positivistischen Vernunftkult zu ersetzen. „Keinerlei Geheimnis soll die natürliche Gewissheit beeinträchtigen“, heißt es bei Comte. Für die teils radikal gegen Religion sich wendende Stimmung der Zeit stehen die antiklerikalen und atheistischen Aufrufe von Feuerbach und Marx sowie Ernest Renas islamkritische Schrift. Es wird deutlich, wie die rein innerweltliche Orientierung sich immer mehr in den Vordergrund schiebt, etwa bei John Stuart Mill, für den das Wohl des Menschen nicht erfordert, „die Grenzen der Welt welche wir bewohnen zu überschreiten“.

Die im dritten Teil zusammengestellten Texte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen bereits eine gewisse Ernüchterung beim Blick auf die Säkularisierung und Ansätze zur positiven Neubewertung der Religion (Walter Rauschenbusch) bzw. eine selbstbewusste christliche Positionsbestimmung (Dietrich Bonhoeffer). Religiöse Kategorien werden nun auch zur Deutung soziologischer und ökonomischer Zusammenhänge herangezogen (Max Weber, Walter Benjamin, Karl Löwith). Vor allem ein Text von Hannah Arendt ist repräsentativ für die nun deutlich abgewogenere Einschätzung. Sie sieht richtig, dass die Verdrängung der Kirchen aus staatspolitischem Einfluss eher als Befreiung von einer Bürde anzusehen ist, mithin als Gewinn für die kirchlich verfasste Religion. Tatsächlich ist diese politische Rolle der Kirche ja unter Papst Gregor dem Großen (um 540-604) zugewachsen, als sie in einer Zeit der Anarchie und materiellen Not nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Italien ordnungspolitische Aufgaben übernehmen musste. Der Staat hingegen, so Arendt, habe sich zwar von religiös-kirchlichem Einfluss gelöst, aber damit letztlich mehr verloren als die Religion, nämlich die Legitimität der Macht, aus der sich die Legalität der Gesetze ableiten ließ. Absolutismus und Revolutionen seien aus dem Versuch entstanden, eine vergleichbar absolute Geltung zurückzugewinnen.

Der vierte Teil bringt dann Texte zur aktuellen Diskussion ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich rückt nun die von Arendt bereits angesprochene Frage der Legitimität und der Begründung eines ethischen Konsenses, der die Rolle einer religiös fundierten Lebens- und Weltorientierung übernehmen soll, in den Vordergrund. Immer noch gibt es ideologische Abwehrreflexe, etwa bei Richard Rorty, für den Menschen nur „komplexe, fähige, verwundbare Körper“ sind, womit er jede Verständigungsmöglichkeit brüsk zurückweist. Religion ist für ihn lediglich ein „Gesprächshindernis“, und es sei „geschmacklos“, religiöse Positionen in Diskussionen über öffentliche Angelegenheiten einzubringen. Für Jürgen Habermas allerdings ist das Gespräch mit der Religion sogar ein Mittel, „der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken.“ Säkularisierung vollziehe sich dann „im Modus der Übersetzung“ religiöser Gehalte in eine „rettende Formulierung“. José Casanova bestreitet sogar mit guten Gründen unter Hinweis auf nichteuropäische Gesellschaften, dass die zunehmende Säkularisierung mit einem immer weiter voranschreitenden Niedergang der Religionen notwendige Folge des allgemeinen Fortschritts sei. Und Saba Mahmood verweist auf den Widerspruch zwischen der vom säkularen Staat geforderten Toleranz und seiner regulierenden Eingriffe in die Praxis der Religionsausübung, etwa durch das Verbot der Verschleierung. Erhellend ist vor allem ein Text von Charles Taylor, der den stets noch möglichen Weg weist aus der säkularen Selbsteinschließung in die Innerweltlichkeit. Die Höchststeigerung von Werten wie „Gut“, „Edel“, „Tugend“ könne erfahren werden als „unauslöschlich mit Gott oder etwas ontisch Höherem (Transzendentem) verbunden“, womit der Glaube als „offensichtlich richtig, wohlbegründet, ja unbestreitbar“ erscheine – ein Gedanke, wie ihn schon der frühchristliche Theologe Pseudo-Dionysius Areopagita gefasst hat.

Die Herausgeber haben mit diesem Band eine nützliche Textsammlung zur Theoriegeschichte der Säkularisierung zusammengestellt. Einführung und Einleitungen zu den vier Teilen bereiten gut auf die Lektüre vor. Protestantische, jüdische, islamische und atheistische Stimmen kommen gleichermaßen zu Wort. Verdienstvoll ist es, dass wichtige Texte islamischer Autoren erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden. Katholische Stimmen fehlen allerdings fast vollständig, ein bedauerlicher Mangel des ansonsten hilfreichen Buches. Zu Habermas‘ Positionsbestimmung etwa hätte unbedingt ein Text Benedikts XVI. gestellt werden müssen, mit dem der säkulare Denker ja in einem intensiven und anregenden Austausch stand. Benedikts viel beachtete Bundestagsrede hätte ebenso in diese Sammlung gehört wie die bedeutende Enzyklika „Fides et ratio“ von Johannes Paul II. zum Verhältnis gegenseitiger Stützung von Glauben und Vernunft.

Grundlagentexte zur Theoriegeschichte
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2020
765 Seiten
34,00 €
ISBN 978-3-518-29803-9

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