Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christoph Dohmen / Günter Stemberger: Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments

Die Studienbücher Theologie des Kohlhammer-Verlags sind eine renommierte Reihe, bei der von Spitzenautoren beste theologische Qualität in lesbarer Form geboten wird. Dass der allererste Band dieser Reihe nun in zweiter, überarbeiteter Auflage erscheint, lässt auf ordentliche Nachfrage für das Thema schließen. Dessen Untiefen und Schwierigkeiten erschließen sich bereits im Titel: Dass „Altes Testament“ und „Jüdische Bibel“ offenbar nicht dasselbe, sondern sowohl in ihrer Hermeneutik (schon das Inhaltsverzeichnis enthüllt, dass auch hier eigentlich ein Plural hätte stehen müssen! „Hermeneutiken“) als auch in ihrer Substanz Unterschiedliches sind, erfährt schon, wer sich eingehender mit dem jüdischen und dem christlichen Kanon dieser Schriften beschäftigt, die beide in den ersten Jahrhunderten nach Christus fixiert wurden. Was die evangelische Bibel „apokryph“ nennt (u.a. weil es von Martin Luther nicht ins Deutsche übersetzt wurde) – die Bücher Tobit, Judith, 1/2 Makkabäer, Weisheit, Jesus Sirach, Baruch und weite Teile der Bücher Esther und Daniel –, gehört zwar zum katholischen, nicht aber zum jüdischen Kanon, weil sie zwar in der Septuaginta, der in der Diaspora entstandenen Übersetzung der jüdischen Bibel ins Griechische, nicht aber in deren hebräischem Original zu finden sind.

Diesen und weiteren hermeneutischen Grundfragen geht der Regensburger Exeget Christoph Dohmen in seinem einführenden Kapitel nach: Das Christentum bringt eine „zweigeteilte Einheit der Heiligen Schrift“ hervor, die sie nicht als etwas Verschiedenes, sondern als zwei Teile eines Ganzen, nämlich als „Altes und Neues Testament kennzeichnet“ (23). Später nennt er die „Prae-Position“ des Alten Testaments, der Bibel Israels, „konstitutiv“ für die christliche Bibel (175).

Der emeritierte Wiener Judaist Günter Stemberger, von dem fast alle namhaften deutschsprachigen Talmudeinführungen der letzten Jahrzehnte stammen, macht im ersten Hauptteil des Studienbuches klar, wie kleinteilig die Kenntnisse der jüdischen Auslegungsgeschichte sein müssen, will man dem komplexen Phänomen einer „Hermeneutik der jüdischen Bibel“ gerecht werden. Wir erfahren von ihm nicht nur, um welche Epochen, Genres und Autoren es schon in der vortalmudischen Antike geht (innerbiblische Auslegung, Apokryphen, Pseudepigraphen, Josephus, Qumran, auslegende Übersetzungen, Halakhische Exegese, die Septuaginta, die Targumim, Philo von Alexandria und seine Vorgänger Demetrius, Aristobul und Pseudo-Aristeas), sondern auch, in welcher Weise und welchem zeithistorischen Kontext sich diese Auslegungstraditionen jeweils des biblischen Urtextes bemächtigen. Hier eine kleine Kostprobe zu Philo von Alexandrien als Hermeneut: „Wörtlicher Sinn und allegorische Auslegung verbinden sich bei ihm zu einem System, das die gesetzliche Praxis nicht antastet, doch immer den tieferen Sinn sucht und in erzählenden Texten gelegentlich nur noch diesen gelten lässt, den historischen Gehalt für unwesentlich hält. Was die Rabbinen zu haggadischer Auslegung nutzen sollten, ist bei ihm Grundlage für eine Synthese jüdischer und philosophischer Tradition.“ (82)

Weitere 60 Seiten gelten der bis heute im orthodoxen Judentum maßgeblichen rabbinischen bzw. talmudischen Auslegung, die in der Antike wesentlich von den Rabbinern Hillel, Jischmael und Eliezer geprägt war. An mittelalterlichen jüdischen Hermeneuten werden ausführlich behandelt: Saadja Gaon, Raschi, Abraham Ibn Esra sowie die Kabbala. Bis heute geltende Auslegungsregeln (Analogieschluss, Schluss vom Leichteren auf das Schwere etc.) und vor allem die von Origenes in die christliche Tradition übernommene Lehre vom vierfachen Schriftsinn (Pardes) werden kundig und verständlich dargelegt.

Hier ist zentral ein wesentlicher Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Hermeneutik zu vermerken: „Die eindimensionale Auslegung […], die den einzig wahren Sinn eines Bibelverses zu erkennen sucht, seine Erfüllung allein in der eigenen Zeit zu erkennen glaubt, widerspricht der rabbinischen Auffassung des vollkommensten Textes, der die Bibel einmal ist. Zur Vollkommenheit gehört auch die Bedeutungsfülle: […] Wie (ein Fels durch den) Hammer in so viele Splitter zerteilt wird, so teilt sich auch jedes Wort, das aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, hervorging, in siebzig Zungen (bSchabbat 88b).“ (88f)

Der zweite Hauptteil des Buches, wieder aus der Feder Christoph Dohmens, bringt für studierte Theologinnen und Theologen prägnant und nach neuestem Forschungsstand zusammengefasst die „Einleitungsvorlesung Altes Testament“, von Markion über die Frage nach dem Sinn der Schrift bis zu deren Einbettung in die katholische Theologie sowie lehramtliche Äußerungen wie Divino afflante Spiritu und Dei Verbum, stellt aber ebenso Fragen, die einen angemessenen Umgang mit dem Alten Testament als jüdischem Text ermöglichen und mit bisherigen Denkgewohnheiten etwa einer Verheißungs-Erfüllungs-Theologie oder der Wahrnehmung des Judentums als „Fremd-Religion“ (Slencka) brechen: „Das Alte Testament ist die sprachliche Ermöglichung des Neuen Testaments“ (211) und: „Hermeneutik des Alten Testaments ist Israel-Erinnerung.“ (233)

Wem all das zu wenig und die Perspektive zweier männlicher christlicher Autoren auf das Thema zu einseitig ist, der sei werbend auf das Buch von Hannah Liss mit dem Titel Tanach – Lehrbuch der jüdischen Bibel (Heidelberg 2019) verwiesen.

Studienbücher Theologie
Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. Zweite, überarbeitete Auflage 2019
241 Seiten
36,00 €
ISBN 978-3-17-036140-9

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