Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christoph Türcke: Natur und Gender

Christoph Türcke, Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wird damit leben müssen, künftig in bestimmten Meinungsmagazinen als „umstrittener Autor“ geführt zu werden. Diese Annahme rechtfertigt der Untertitel seines Buches: „Kritik eines Machbarkeitswahns“. Während der Haupttitel die Art der Beziehung zwischen den beiden Gliedern „Natur“ und „Gender“ offenlässt, dürfte der Untertitel eine pure Provokation für den Zeitgeist darstellen, besteht für ihn die vor einem Machbarkeitswahn zu schützende Natur doch, konkret gesprochen, vorrangig in dem vom Kohleabbau bedrohten Hambacher Forst, sehr viel weniger in dem von der Windkraftlobby begehrten Pfälzer Wald und erst recht nicht in dem, was der Mensch bei sich selbst im Sinne der Selbstoptimierung verändern könnte.

Der Verfasser, der sich in den letzten Jahren einen Ruf als ein vor den Folgen einer unreflektierten Digitalisierung an den Schulen warnender Skeptiker erworben hat und diesbezügliche Überlegungen in einer anschaulich formulierten philosophischen Anthropologie fundiert, gelingt es in dem vorgelegten Werk, den Anmaßungen einer auf konstruktivistischen Ideen basierenden politisch motivierten Gendertheorie entgegenzutreten. Was ihm nicht gelingt, dies muss andererseits ebenso festgestellt werden, ist die Begründung seiner ideologiekritischen Analyse durch eine konsistente philosophische Erkenntnistheorie. Diese vermischt der Autor vielmehr mit einer immer wieder Anleihen bei Sigmund Freud nehmenden spekulativen Trieb- und Evolutionsbiologie, was passagenweise Banalitäten erzeugt, die aus der Feder des aktuell salonfähigen „Neuen Realisten“ Markus Gabriel stammen könnten („Zwar kann ich an jedem einzelnen Sinneseindruck zweifeln: daran, daß in diesem Moment wirklich eine Mahlzeit vor mir steht, daß es wirklich meine Hand ist, die ich bewege etc. Aber wenn nicht des öfteren wirkliche Mahlzeiten vor mir stehen, bin ich bald verhungert.“) und den Verdacht aufkommen lassen, Türcke gehe es nebenbei um eine Rehabilitierung des Ladenhüters einer evolutionären Erkenntnistheorie.

Aufgrund dieses Mangels, der dem Buch in seiner Gesamtaussage keinen Abbruch tut, lässt sich die Lektüre mit großem Gewinn nach der brillanten Einleitung mit dem Kapitel „Fehlkonstruktion“ (94ff) fortsetzen. Spätestens ab hier erweist sich Türcke als kluger, ideologiesensibler Gesellschaftskritiker, dessen Analyse ihre Basis einerseits in dem Postulat eines „Eigensinn[s] der Natur“, andererseits im philosophischen Instrumentarium von Marxismus, Psychoanalyse, Frankfurter Schule und Diskurstheorie hat.

Um die Setzung eines Eigensinns der Natur plausibel zu machen, unterscheidet der Verfasser im letzten Drittel seines Werkes den „naturalistische[n]“ vom „konstruktivistischen Fehlschluß“: „Der naturalistische Fehlschluß verneint die natürliche Abweichung, indem er sie verurteilt […]. Der konstruktivistische Fehlschluß verneint die natürliche Abweichung, indem er sie verleugnet. Es gibt keine natürlichen Abweichungen, behauptet er, weil es keine natürliche Regelmäßigkeit gibt.“ Ob diese Argumentation überzeugt, muss dahingestellt bleiben, ebenso ob in dem Werk verwendete zentrale Begriffe – Eigensinn der Natur, Opfer, Demut – stark genug sind, um die Last des vorgestellten Gedankengebäudes zu tragen. Dem theoretischen Unterbau seiner Kritik eines Machbarkeitswahns im Hinblick auf Natur und Gender mag man sich daher verweigern, die gesellschaftspolitischen Implikationen seiner Bestandsaufnahme wird man jedoch als Bürger, der sich darum sorgt, dass demnächst Vierzehnjährige den Einflüsterungen geschäftstüchtiger Sexualmediziner erliegen sollen und sich gegen den Willen ihrer sich überrumpelt fühlenden Erziehungsberechtigten zur raschen Geschlechtsumwandlung überreden lassen dürfen, ebenso zustimmen wie als Praktiker in der Schule dem Befund des Hochschullehrers: „Genauso wenig wie Stoffwechselstörungen ‚andere Stoffwechsel‘ sind, sind Verkümmerungen und Hypertrophien an Geschlechtsorganen Beweisstücke für ‚andere Sexualitäten'. Als solche erscheinen sie lediglich einer konstruktivistischen Naturverleugnung, die ebenso im Sexualitätsdiskurs wie in der Behinderten- und Schulpädagogik umgeht.“

Einen wichtigen Fingerzeig, um die in dem Buch behandelten Probleme im Zusammenhang mit Natur und Gender angemessen darzustellen, liefert eine sprachtheoretische Betrachtung im Kapitel „Kapital wird divers“. Ansatzpunkt ist die Redewendung „Ich befinde mich im falschen Körper.“ Sie zu gebrauchen setzt einen platonischen oder cartesianischen Dualismus voraus, einen „Glauben an die Körperunabhängigkeit der Seele“, den (wieder) zu überwinden sich Strömungen der philosophischen Anthropologie spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bemühen. Mit Türcke lässt sich die in der Redewendung ausgedrückte scharfe Trennung zwischen Körper und Seele nun folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Ich als empfindendes und denkendes Wesen bin nicht körperlich. Sofern ich einen Körper habe, zu dem auch bestimmte Geschlechtsmerkmale gehören, ist er mir äußerlich – ‚zugewiesen', wie das im neueren Sexualdiskurs heißt. Ich wohne darin. Aber es gibt Wohnungen, die dem eigenen Gefühlshaushalt zuträglich sind; darin fühlt man sich heimisch; und andere, die ihm abträglich sind; dort ist man falsch. Und wenn man nicht einfach ausziehen kann, dann muß man die Wohnung eben umbauen.“ Sensibel für die Leiden der Betroffenen rät der Autor dazu, sich jeden Einzelfall genau anzuschauen und vor einer nicht mehr revidierbaren Hormonbehandlung und dem darauf basierenden chirurgischen Eingriff Hilfsangebote der Psychotherapie, insbesondere einer humanistisch orientierten Psychoanalyse, in Anspruch zu nehmen, so dass jeweils das Grundproblem, das einer „Ich-Dissoziation“, angegangen wird.

Nicht überraschend gelangt Türcke zu einem kapitalismuskritischen Fazit: „Wer mit der Konstruktion, Umwandlung, Abgrenzung, Aufrechterhaltung seiner eigenen Geschlechtsidentität befaßt ist, hat alle Hände voll zu tun und kaum noch einen Blick dafür, wie die umfassende Macht tickt, zu deren Konditionen alle Geschlechter sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Wenn diese Macht, der globale Kapitalismus, in ihren High-Tech-Zentren gelernt hat, Geschlechtervielfalt zu propagieren, so deswegen, weil ihr alle Geschlechter egal sind.“

Kritik eines Machbarkeitswahns
München: C.H. Beck Verlag. 2021
232 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-406-75729-7

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