Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Clara Vasseur OSB / Johannes Bündgens: Spiritualität der Wahrnehmung

Einführung und Einübung

Gerade weil „Spiritualität“ so modisch geworden ist, braucht es solide, nicht zuletzt philosophische Grundlegungen. Dafür die Phänomenlogie auf der Linie von Husserl bis Levinas und Henry zu wählen, legt sich nahe, ganz auf der Spur übrigens von Edith Stein und Klaus Hemmerle. „Zu den Sachen selbst“ heißt es da, mit dem sich allen Vor-Stellungen enthaltenden Bewusstsein und seiner dann reinen Empfänglichkeit. „Die phänomenologische Methode geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus, um in Akten der Anschauung, die jederzeit abrufbar sind, das Wesen der Dinge zu erfassen“ (94) bzw. diese(s) erscheinen zu lassen. Im Zentrum steht also die förmlich kontemplative Haltung der Aufmerksamkeit, und naheliegend sind die Bezüge zu patristischen und monastischen Überlieferungen, zumal bei einer Benediktinerin als Autorin. Die entscheidende Pointe dabei: Gegen eine objektivierende und objektivistische Sichtweise, derzufolge Objekt und Subjekt sich ursprünglich immer schon gegenüberstehen (sollen), ist hier vom gleichursprünglichen Entstehen des Phänomens auszugehen. Erst indem ich affiziert, also „an-getan“ werde, und – zugleich damit – mich sozusagen selbstlos und achtsam öffne, entsteht die Wirklichkeit: Ich werde ihrer und meiner ge-wahr. Ich kann z.B. bei einem biblischen Text sinnvoll nicht unbeteiligt sagen, das ist „objektiv“ wirklich und das andere ist „nur“ symbolisch.

Vier Grundphänomene und Leitbegriffe werden mit vielen kostbaren Zitaten entfaltet, im gelungenen Rhythmus von anschaulichem Alltagsbezug und plastischer Reflexion: Berührung, Wahrnehmung, Erfahrung und Begegnung. Wie in einem klösterlichen Kreuzgang sind Leser und Leserin eingeladen, die vier Flügel nach-denkend und mit-betrachtend zu begehen. Dass dabei der Leib als „Medium“ der Transzendenz und als spürbarer „Ort“ des Unsichtbaren und Unbegreiflichen im Mittelpunkt steht und in den Mittelpunkt gestellt wird, ist besonders verdienstvoll, sowohl für die theoretische Entfaltung wie für die praktische Einübung. Denn „das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils“ (caro cardo salutis), wie Tertullian um 200 nach Christus gegen die damalige Esoterik und Gnosis programmatisch formulierte. Christentum ist wesentlich Inkarnation und in diesem Sinn weder idealistisch noch materialistisch auszulegen (aber beide Pole umgreifend). Diese phänomenologische Erschließung des Wirklichen im Licht sowohl der Vernunft wie des Glaubens kann und will jeden Menschen ansprechen, auch den nichtkirchlichen und nachchristlichen. Beeindruckend ist auch, wie entschieden die französische Phänomenologie bis zu Michel Henry durch treffende Zitate einbezogen und erschlossen wird.

Die vorausgesetzte theologische Position freilich wird nicht eigens entfaltet (und auch die philosophische lockt zur Ergänzung); die protestativ befreiende, auch politische Dimension des Glaubens kommt (trotz vieler kritischer Alltagsbezüge und manch kritischer Zeitdiagnose) zu kurz, und so ist der verdienstvolle Brückenschlag zu Bibel und Liturgie m.E. doch etwas harmonistisch und auch kurzschlüssig geraten: Wo z.B. geht es um die Wahrnehmung des Bösen? Warum werden die vielen Schriftzitate ohne biblischen Kontext wie freischwebend eingebracht, ohne jede exegetische Erdung? Die theodramatische Dimension christlicher Welt- und Selbstdeutung mit Akzent auf der Gewalterfahrung und -bewältigung jenseits von Eden könnte unschwer ausführlicher noch in den Gesamtentwurf eingetragen werden.

Insgesamt ist „Spiritualität der Wahrnehmung“ ein ausgesprochen wichtiges, ja grundlegendes Buch und sei allen empfohlen, die im Feld von „Spiritualität“ tätig sind. Es ist sympathisch klar und anschaulich geschrieben; es verlangt zwar genaue Lektüre und längeren Atem, belohnt aber durch neue Blicke auf die Realität und ist, ohne konkretistisch zu werden, wirklich auch Einübung.

Mit einem Vorwort von Guido Meyer
Freiburg / München: Karl Alber Verlag. 2015
336 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-495-48662-7

Zurück