Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Dan Diner/ Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Herrschaft des Konkreten

Einem breiteren Lesepublikum bereitet die Lektüre von Tagungsbänden nicht selten Mühe: Oftmals werden Miniaturen fachspezifischer Diskursanalysen dargeboten, deren Referenzrahmen sich erst nach geraumer, kundiger Einarbeitung erschließt. Mit dem vorgelegten Band „Herrschaft des Konkreten“ werden die Herausgeber dem hochgesteckten Ziel der Mäzene hingegen mehr als gerecht, „im interdisziplinären Dialog zentrale Themen der globalisierten Gesellschaft in historischer und gegenwärtiger Perspektivierung zur erörtern und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen“.

Die tagespolitische Brisanz und Aktualität des bei erster Lektüre etwas enigmatisch erscheinenden Titels erschließt sich gleich im einleitenden Beitrag des Historikers und Publizisten Dan Diner, der hochinteressante und relevante zeitdiagnostische Erwägungen liefert. Diner zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die in einem Epochenwandel begriffen ist, in Folge dessen sie sowohl der Person des Intellektuellen als auch seine Vermittlungsformen (Verlagswesen; Presse; Kaffeehaus, Ethos) verlustig zu werden droht. Hellsichtig diagnostiziert er unterschiedliche Transformationsprozesse, in deren Mittelpunkt er den Niedergang von Abstraktionsprozessen (etwa durch Zurückdrängung von Metaphern und der Deutungsmacht von Geschichte als einem (abstrakten) Kollektivsingular) zugunsten einer Herrschaft des Konkreten (digital weit verbreiteten Einzelgeschichten und -meinungen) sieht. Abstraktheit und Komplexität global und demokratisch verfasster Prozesse stehen dabei zunehmend in einer Kritik, die sich in Wut Bahn bricht und an die Stelle gesellschaftlicher Grundfesten und konstituierender Narrative Verschwörungen setzt, die einfache Lösungen und Macht versprechen.

Auf Basis dieser breiten und gesamtgesellschaftlich relevanten Einführung können die folgenden Beiträge, in denen ausgewiesene Expertinnen und Experten unterschiedlicher kultur- und geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen (Philosophie, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft, Sinologie) zu Wort kommen, Tiefenschärfungen vornehmen. Immer wieder erfolgen in den einzelnen Beiträgen Rückgriffe und Bezugnahmen auf die weiteren Beiträge des Bandes, wodurch in bemerkenswerter Weise ein Bezugsrahmen geschaffen wird, der dem Leser die Zusammenfügung der unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven und Einschätzungen ermöglicht. Michael Quante und Carl Friedrich Gethman bieten philosophische „Reflexionen“ (so auch die Überschrift der versammelten Beiträge) zur Auseinandersetzung von Abstraktem und Konkretem an und schlagen dabei einen Mittelweg vor, der vor Engführungen und letztlich gesellschaftlichen Fehlentwicklungen schützt. Jürgen Fohrmann zeichnet in seinen literaturwissenschaftlichen Reflexionen umgreifende Entwicklungen nach, die er als Abfolge unterschiedlicher Dispositive fasst und an deren Ende er die Gefahren des gegenwärtig vorherrschenden Dispositivs der Normalisierung beschreibt, in deren Folge Vergangenheit und Zukunft zunehmend in biographischen Timelines aufzugehen drohen und das Archiv der Geschichte zum bloßen Content und zum Gegenstandsreservoir einer Werbeindustrie mutiert.

Mit einem durchaus voraussetzungsreichen Debattenbeitrag, der die drei Beiträge unter dem Stichwort „Kontexte“ eröffnet, unternimmt der Politikwissenschaftler Rainer Forst den Versuch, den Begriff des Fortschritts für den modernen Diskurs zu bewahren und zugleich vor den Kritikern seines normativen Ansatzes zu rechtfertigen. Hierzu führt er wiederum Rechtfertigungsstrukturen und -möglichkeiten als Gradmesser für die Rede vom Fortschritt ein. Gerade an diesen Rechtfertigungsstrukturen und -möglichkeiten arbeitet sich Tim Rojek in seinen philosophischen Kommentierungen zu Forsts Beitrag ab und leistet dabei zugleich eine weiterführende Einordnung der Thematik in das Spannungsfeld von Konkretem und Abstraktem. Barbara Mittler unterzieht schließlich die theoretischen Erwägungen einer Probe aufs Exempel, wenn sie fachkundig kulturschaffende Prozesse im modernen China seziert und dabei feststellt, dass das Abstrakte in seiner Schweigsamkeit und Vielheit oftmals den Künstlerinnen und Künstlern als einzige Möglichkeit verbleibt, politisch kritisch zu wirken.

Veröffentlichung der Krupp Reimers Forschungsgruppe
Göttingen: Wallstein Verlag 2020
192 Seiten m. s-w Abb.
16,00 €
ISBN 978-3-8353-3758-9

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