Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Dietrich Rusam: Der Evangelist. Die Autobiografie des Lukas

Eine fiktive „Autobiografie“ des Evangelisten Lukas zu schreiben ist ein Unterfangen mit einiger Fallhöhe, das gleichermaßen intensiver bibelwissenschaftlicher Kenntnis und mutiger Kreativität bedarf. Der Neutestamentler Dietrich Rusam, dessen Habilitation dem lukanischen Doppelwerk gewidmet war, bringt mit seinem breiten beruflichen Erfahrungsspektrum von Universität über Gemeinde bis Schule dafür alle Voraussetzungen mit.

In vierzehn Kapiteln, von Jahreszahlen (datiert auf 22 bis 85 n.Chr.) und teilweise biblischen Stellenangaben begleitet, lässt er „Lukas“ dessen Leben von der Geburt bis ins hohe Alter rekapitulieren. Als später Sohn eines aus Jerusalem nach Alexandria Troas ausgewanderten Elternpaares wird Lukas von klein auf mit jüdischer und griechischer Bildung vertraut gemacht. Er lernt den Beruf des Arztes zunächst in Milet bei einem mit dem Judentum sympathisierenden heidnischen Freund der Familie. In Alexandria liest er sowohl die Septuaginta als auch Platon und spricht mit dem alternden Philo. Auf der Rückreise trifft er in Jerusalem Petrus, Johannes und Jakobus, die ihn aufnehmen und ihm von Jesus von Nazareth berichten. Fasziniert lässt er sich von Jakobus taufen. Seinem echten Seelenverwandten begegnet er aber erst später in Troas: dem Heidenmissionar Paulus. Fortan begleitet er Paulus zeitweise auf dessen Missionsreisen. In Philippi tauft er die verwitwete Purpurhändlerin Lydia. Er heiratet sie, adoptiert ihren Sohn und bleibt als Gemeindeleiter in der Stadt. Später reist er mit Paulus nach Jerusalem, erlebt dort dessen katastrophale Verhaftung und kehrt nach einem Gefängnisbesuch in Cäsarea nach Philippi zurück. Bei der Überführung des gefangenen Paulus nach Rom erweist er sich als treuer Begleiter und erfährt erst wieder in Philippi von dessen Hinrichtung. Schon lange hatte die Gemeinde ihn gedrängt, die Jesusgeschichten aufzuschreiben, doch die Hoffnung auf die baldige Wiederkunft des Herrn und das Fehlen eines Erzählrahmens hielten Lukas zurück. Als alter Mann aber, da er neben den eigenen Gesprächserinnerungen auf weitere Quellen zurückgreifen kann – verschiedene Paulusbriefe, eine Sammlung von Jesusworten (Q!) und schließlich das Markusevangelium –, beginnt Lukas zu schreiben. Ermutigt von seinem Sohn Theophilus, möchte er damit den bedrängten Christen unter Domitian Halt geben.

Man merkt es schon bei dieser Inhaltsangabe: Historische Fakten, biblische Erzählungen, altkirchliche Tradition, bibelwissenschaftliche Entscheidungen und dichterische Freiheit sind miteinander verwoben. Im Vorwort plädiert Rusam für eine wahrscheinliche Authentizität der „Wir-Passagen“ der Apostelgeschichte und damit für Lukas als zeitweisen Paulusbegleiter. Deutlich markiert er die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion – um sich dann mit Freuden der fiktiven Ausgestaltung hinzugeben. Durch die Ehe mit Lydia wird Lukas in Philippi heimisch, der Adressat des Doppelwerkes trägt den Namen seines Sohnes, Elisabeth und Zacharias sind nach seinen Eltern benannt und Lukas selbst ist einmal in Gethsemane verhaftet worden: So wird sein Werk zum Spiegel seiner eigenen Lebensgeschichte. Manche Charakterisierungen mögen dabei etwas überzeichnet sein. Die Verehrung für den zwar streitbaren und kompromisslosen, aber eben auch brillanten Theologen Paulus kennt kaum Grenzen und mehrfach werden Zitate aus den Paulusbriefen eingespielt. Petrus dagegen erscheint theologisch doch arg unterbelichtet. Überbetont wirkt die Antipathie gegen Silas ebenso wie die Aversion des Lukas gegen seinen (fiktiven) Zweitnamen Judas. Doch dass es auch unter den ersten Christen schon menschelt in jeder Beziehung, dass Streit und Auseinandersetzung an der Tagesordnung waren – diese Einsicht bringt Rusams Buch vielfach lebendiger zum Ausdruck als die Apostelgeschichte selbst.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Lebensereignisse dabei die theologische Grundfrage der Heidenmission, deren weichenstellende Bedeutung für ein weltweites Christentum heutigen Glaubenden oft nicht unmittelbar zugänglich ist. An der Gestalt des Diasporajuden Lukas erleben die Leser die damit verbundene Auseinandersetzung hautnah mit und tauchen so in die Trennungsgeschichte von Judentum und Christentum ein. Dem Wunsch des Autors, sein Buch möge ein unterhaltsamer Türöffner für eine Lektüre der biblischen Originalschriften sein, kann man sich nur anschließen.

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2022
350 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-579-06217-4

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