Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Eugen Drewermann: An den Quellen des Lebens

 

Eugen Drewermanns perspektivreiches Denken richtet sich in seinem Kern weder auf den Menschen noch Gott allein, sondern auf das „Dazwischen“ – jene Beziehung zwischen Mensch und Mensch und Gott und Mensch, die das Individuum von seinen quälend-beklemmenden Kontingenzerfahrungen zu heilen vermag und ihm ein „Jenseits" aller irdischen Beschränkungen eröffnet. Ein wiederkehrendes Symbol für dieses lebensbedeutsame „Dazwischen“ ist bei Drewermann das Fenster. Denn er begreift das einzelne, auf sich selbst fixierte Leben als bloßes Dahinvegetieren in einem „unentrinnbaren Gefängnis", in dem der Mensch wie ein unschuldig zum Tode Verurteilter auf den Tag der Hinrichtung warte (39). Als Gefangener erscheint das Individuum bei Drewermann geradezu krankhaft verkapselt, abgeschnitten von der als bedrohlich empfundenen Außenwelt, einem riesigen Angst-Reservoir. Zu dieser Welt unterhält der Mensch nach Drewermann keine ihn von seinen Ängsten befreiende Beziehung, sondern ein phobisch-distanziertes Macht- bzw. Ohnmachtsverhältnis, das ihn – je nachdem – dazu bringt, sich völlig abzuschließen, sich willenlos auszuliefern oder sich Mensch und Natur kalkulierend zu bemächtigen. Deshalb ermutigt Drewermann den Menschen zu einer Umkehr; er könne sich der Welt und den Menschen vertrauensvoll zuwenden und verwirkliche dadurch „das Schönste, Riskanteste, Ungeheuerlichste auf dieser Welt" (16): ein freier, individueller Mensch zu werden.

Heribert Körlings, ausgewiesener Drewermann-Experte und Herausgeber von zwei Lesebüchern („Drewermann-Lesebuch“, zusammen mit Jörg Fündling, 2009; „Im Einklang leben“, 2017), hat die Grundgedanken dieser Ermutigung in seiner neuen Textsammlung eindrucksvoll zusammengestellt. In neun Kapiteln mit wechselnden Perspektiven hat er aus Drewermanns Werk kundig etliche kürzere und längere Passagen ausgewählt, die darauf hinweisen sollen, wie der Mensch sein Leben sinnvoll gestalten könnte. Mit dem Titel knüpft Körlings an einen Abschnitt aus Drewermanns Buch „Grenzgänger" an. Hier heißt es, kapitalismuskritisch, der Mensch könne von seiner Sucht nach Gold und Geld nur geheilt werden, wenn er dem „Strom des Lebens gegen die Strömung bis zur Quelle hin" folge und sich „den Kopf waschen lasse" in dem reinigenden, frei dahinfließenden Wasser (135). Die Anklänge an die Taufe sind nicht zufällig. Jesus (über dem sich bei der Taufe im Jordan der Himmel öffnet) habe, so Drewermann, ein „Fenster zum Absoluten und Unbedingten der Liebe" sein wollen (92). Er habe dermaßen fest auf Gott vertraut, dass er die existenzielle Angst des Menschen überwunden und sich selbst „so durchsichtig zum Himmel hin" gemacht habe, „daß die Menschen sich von ihm aus dem Dunkel ins Licht gehoben fühlten" (97). Die Umkehr, zu der Drewermann ermutigen will, ist also zunächst die Zuwendung zu Jesus, der den Menschen als Vorbild radikaler Zuwendung vor Augen führt, wie sich die Mauern des düsteren Welt-Gefängnisses transzendieren lassen. Es ist aber auch die vertrauensvolle Zuwendung zum Mitmenschen, den Drewermann – von Jesus als dem ganz auf Beziehung ausgerichteten, vollkommen geöffneten Menschen her – ebenfalls als Fenster begreift, durch den das Licht Gottes in die Welt strahle. Denn dem Liebenden öffne sich das Gegenüber und werde so zu einem Weg, der ins Unendliche hinüberführe (16). Hinter dem „Du“, dem sich der Mensch in seiner Liebe zuwendet, öffnet sich nach Drewermann der unendliche Raum des göttlichen „Ich-Du“, das alles, Ich und Du und das „Dazwischen“, umgreift. Dahinter steht bei Drewermann die Erfahrung, dass der geliebte Andere für den Liebenden eine Bedeutung gewinnt, die über die Grenzen des Irdischen hinausweist, da sich der Liebende für den Geliebten – wie bei Gabriel Marcel – das ewige Leben wünscht. Dieses „Jenseits“ ist die Geborgenheit des sterblichen Gegenübers im absoluten „Du“ Gottes.

Die Zuwendung des Menschen zum absoluten „Du“ hat für Drewermann enorme anthropologische und ethische Konsequenzen. Indem der Mensch sich in Liebe einem anderen Menschen zuwendet, wird er Drewermanns Auffassung nach erst wahrhaft er selbst: ein sich öffnendes, empfangendes Subjekt, das seine Angst verliert und sich vertrauensvoll in der Welt einzurichten vermag. Indem der Mensch sein Dasein darüber hinaus als Gottesgeschenk begreift, gewinnt er eine neue Sicht auf die Schöpfung insgesamt. Sie erscheint ihm nicht länger als Exerzierplatz seines Macht- und Gewinnstrebens, sondern als Bewährungsraum für ein Handeln in Freiheit und Verantwortung, das unbeeindruckt bleibt von den Grausamkeiten der Natur.

Nicht alle Thesen, die das Buch als Lebenshilfe präsentiert, sind außerhalb des Drewermann‘schen Denksystems so anschlussfähig wie diese. Wenn Drewermann gegen den menschlichen Hochmut einwendet, es sei unmöglich, die Welt aus der Perspektive einer einzigen Spezies verstehen zu wollen (37f.), dann ist zu fragen, wie die Perspektive einer anderen Lebensform erschlossen werden könnte. Weder entspräche sie wohl unseren erkenntnistheoretischen Bedingtheiten noch wäre sie sprachlich verfasst. Auch Drewermanns ontologischer Fehlschluss vom Denken auf das Sein Gottes wirkt in einem Lesebuch seltsam unreflektiert. Am meisten befremdet seine Sicht auf das Böse im Menschen. Zwar ist im Rahmen seines psychoanalytisch geschulten und therapeutisch ausgerichteten Systems nachvollziehbar, dass Drewermann Sünde zu einem psychologischen und anthropologischen Problem umdeutet. Doch die Behauptung, jeder Mensch wisse, was er tun solle (70), verlangt nach einer ausführlicheren Begründung, als sie ein Lesebuch anzubieten vermag. Statt raumgreifende Argumentationsketten zu präsentieren, muss es sich auf prägnante Thesen konzentrieren – und ähnelt dadurch einer Sammlung von Aphorismen, die Bruchstücke aus einem großen Gedankengebäude präsentiert. Deshalb drängt auch dieses Lesebuch über sich hinaus – und erfüllt dadurch bestmöglich seine Funktion. Es ist ein Fenster, das einen Panoramablick auf das weitverzweigte Werk Eugen Drewermanns ermöglicht. Für alle, die an psychologischen und anthropologischen Fragen und an möglichen Antworten mit einem theologischen Vorzeichen interessiert sind, lohnt es sich, durch dieses Fenster zu schauen.

Oder: Von Begegnung und Gespräch
Ausgewählt und herausgegeben von Heribert Körlings
Ostfildern: Patmos Verlag. 2020
143 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-8436-1247-0

Zurück