Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Eugen Drewermann / Martin Freytag: Gott, wo bist du? Eugen Drewermann antwortet jungen Menschen

 

„Gott, wo bist du?“ Die Titelfrage des neuen Interviewbandes von Eugen Drewermann und Martin Freytag, der an den Vorgänger „Das Geheimnis des Jesus von Nazareth“ (Patmos Verlag, 2018) anknüpft, stellt sich im Erfahrungsraum aktueller (Natur-)Katastrophen noch einmal ganz neu. Es ist eine Frage, in der sich im Grunde sämtliche Fragen des Buches konzentrieren wie in einem Brennglas: die Kernfrage der Theodizee, die Drewermann als „Infragestellung der gesamten Schöpfungsordnung“ versteht (51). Zusammen mit seinem Interviewpartner Martin Freytag, Religionslehrer am Gymnasium Remigianum in Borken, möchte er seinen Zeitgenossen – gläubigen, suchenden, zweifelnden und atheistischen Menschen – argumentierend, kontextualisierend und illustrierend das Wagnis des Glaubens erschließen, den er als „Ausgreifen auf den notwendigen Halt“ (15) versteht.

Mit sicherem Blick auf die tragenden Haltegriffe, die auch skeptischen Fragenden erreichbar sind, werden in den elf Kapiteln des Buches verschiedene Themen der Theologie erörtert: die Frage nach dem Wesen Gottes im Spannungsfeld von Offenbarung und Religionskritik, die Frage nach der persönlichen Gottesbeziehung, die Frage dem Leid und dem Bösen und die Frage nach der Wahrheit der konfessionell verfassten Religion(en) in einer pluralistischen Welt. Die konkreten Fragen zu diesen großen Fragen, so heißt es im Vorwort, stammen von Schülerinnen und Schülern der Oberstufe und seien „lediglich systematisiert, teilweise konkretisiert, sprachlich geglättet und im Kontext der Eigendynamik des Interviews mit Eugen Drewermann thematisch erweitert“ (6). Man würde gerne erfahren, was angesichts dieser redaktionellen Anstrengungen von den ursprünglichen Fragen der Jugendlichen übrig geblieben ist, zumal manche Fragen Kenntnisse der Theologie Drewermanns oder anderer Theologen/Philosophen voraussetzen, die sicher nicht zum theologischen Allgemeinwissen eines durchschnittlichen Oberstufenschülers gehören. Kurzum: Eugen Drewermann antwortet jungen Menschen auf Fragen, die sie in dieser Form niemals gestellt hätten. Die Fragen sind vielmehr so formuliert, dass Drewermann mühelos die Grundgedanken seiner Theologie entfalten kann – und das weniger im mündlichen Duktus des Gesprächs als in einer durchgearbeiteten, schriftsprachlichen Form.

Für all diejenigen, denen Drewermanns Theologie aus seinen bisherigen Publikationen vertraut ist, werden die Antworten nichts Neues bieten. Da ist z.B. die Rede von einem dringend erforderlichen Perspektivwechsel, der das Sprechen über Gott von den Menschen her auf Gott ausrichtet und nicht umgekehrt. Da ist auch die Rede von der Kontingenzerfahrung des Menschen, seiner Angst in einer grausamen, abweisenden Welt. Und da ist – nicht zuletzt – die Rede von der sich daraus ergebenden Notwendigkeit eines unbedingten Vertrauensvorschusses, den in letzter Konsequenz nur Gott allein den Menschen zu schenken vermag. Erst die Freiheit der absoluten Zusage und Zuwendung ermögliche es dem Menschen, so Drewermanns funktionale Deutung, die Angst abzuschütteln und seine Existenz als gewollt und insofern notwendig zu erfahren. Mit anderen Worten: Drewermann nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Tour d`Horizon durch den Kosmos seines Denkens, das er, angeregt mehr durch Stichworte als durch Fragen und in der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Religionskritik, entfaltet, schärft und begründet.

Dass Drewermann von den Ergebnissen seines eigenen Nachdenkens über Gott und die Welt erzählt, verleiht dem Band trotz aller erforderlichen philosophisch-theologischen Flughöhe dennoch eine persönliche Note. Hier legt jemand Zeugnis ab von dem, was ihm selbst Halt gegeben hat und noch immer gibt. Zu dieser persönlichen Note tragen darüber hinaus Beispiele aus der therapeutischen Praxis bei, leider aber auch einige Invektiven gegen die zeitgenössische Theologie, die sich Drewermann so sehr zurechtbiegt, dass er sie pauschal als hoffnungslos engstirnig diffamieren kann. Denn dass die gegenwärtige Theologie sich einer symbolischen Deutung biblischer Erzählung im Hinblick auf die darin bewahrten Erfahrungen verweigert (109), ist zumindest in dieser Zuspitzung eine kühne These. Richtiger ist da schon, dass die therapeutische Wirkung von Mk 5,1-20 in der Auslegungstradition bis heute allenfalls eine marginale Rolle spielt. Drewermanns Deutung der Aussage des Besessenen („Legion ist mein Name. Denn viele sind wir“ – „Ich fühle mich im Besatzungszustand“; 95) erscheint indessen mehr erzwungen als überzeugend.

Die Authentizität dieses reibungsfähigen Zeugnisses mag die Akzeptanz der Antworten gerade bei jungen Menschen erhöhen. Denn an sie vor allem richtet sich das Buch, wie zumindest der Untertitel verheißt. Auch für den Einsatz im Religionsunterricht der Oberstufe soll es geeignet sein. Sehr lebensnah und für diesen Zweck daher besonders geeignet ist Drewermanns Versuch, den existentiell-sinnstiftenden Glauben von den kausal erklärenden Naturwissenschaften abzugrenzen und die methodologische Komplementarität beider Bereiche anschaulich zu machen, indem er sie mit der linken und rechten Hand vergleicht.

Gleichwohl erscheint der Einsatz des Buches im Unterricht schwierig – weniger wegen der stark überarbeiteten Fragen als wegen Drewermanns ausufernder Antworten. Martin Freytag hat diese Antworten, die stets mehrere, ja bis zu vierzehn Seiten umfassen, deshalb in Abschnitte unterteilt und sie zur besseren Orientierung mit Überschriften versehen. Das ist eine hilfreiche Maßnahme. Da sich Drewermann aber wiederholt auf zuvor Gesagtes bezieht, ist es oft nicht möglich, einen Passus isoliert zu betrachten. Selbst die Portionierung der Antwortabschnitte wäre eine didaktische Herausforderung, da ja nicht Drewermann allein im Unterricht zu Wort kommen soll. Kürzere Antworten wären außerdem zweifellos möglich gewesen, selbst ohne das Risiko einer nicht mehr verantwortbaren Komplexitätsreduktion. Denn nicht alle Seitenblicke sind zielführend, am wenigsten Drewermanns tagespolitische Bemerkungen: gegen den Hauptteil der FAZ (116), gegen die fehlende Präsenz der CDU bei Kundgebungen gegen Atomwaffen und sein Bekenntnis, dass man mit den Linken zusammenarbeiten könne (118). Diese Passagen kann man im Unterricht nicht einsetzen. Eine stärkere Redaktionsarbeit wäre hier erforderlich gewesen. So aber bleibt es dabei: Drewermann spricht mit sich selbst statt zu jungen Menschen; ihre (digitalisierte, Social Media geprägte) Lebenswelt kommt in seinen Ausführungen kaum vor. Das Interview bleibt in weiten Teilen ein Monolog mit erwartbaren Antworten auf die Frage nach Gott und seinem Ort im Leben der Menschen.

Ostfildern: Patmos Verlag. 2021
172 Seiten
12,00

ISBN 978-3-8436-1210-4

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